Samstag, 29. Februar 2020

Schnee und Stille



Drei Menschen stehen auf einer weißen Fläche und lauschen.
Was sie hören, ist etwas ganz Besonderes. Etwas, das es in keiner Stadt und in keinem Dorf gibt, in keinem russischen und keinem deutschen. Nicht unter Menschen ist es zu finden und nicht im Wald, nicht im Konzertsaal und nicht auf der Wiese. Es ist etwas sehr Kostbares, man könnte wohl sagen, vom Aussterben Bedrohtes. Etwas Sensationelles und, zugegebenermaßen, auch für die drei Menschen auf der weißen Fläche sehr Unerwartetes.
Sie hören: nichts.
Nun ist es natürlich einfach, nichts zu hören, wenn man sich Wachs in die Ohren stopft und einen Schal um den Kopf wickelt, sich künstlich abschottet. Anders als ein solches unechtes, falsches Nichts ist das echte Schweigen, erlebt in einem großen Raum. Auf einer gigantischen Fläche. In einem weiten Kosmos.
Das Schweigen auf dem winterlichen Baikalsee.
Die drei Menschen müssen sich anstrengen, um das Nichts zu hören. Der eigene Atem stört dabei und das Knirschen des Schnees an den Schuhen bei der kleinsten Bewegung mit den Füßen. Aber für ein oder zwei Minuten gelingt es. Die Sonne am blauen Himmel bestrahlt die Schneedecke und den Bergrücken, weiße Gipfel, irgendwo hinter denen jetzt gerade Simon in seiner Hütte sitzt. Vielleicht schweigt er ja auch in diesem Moment und versucht, nichts zu hören.
Das bedeutet also Stille.
Eigenartig.
Es ist, als sei die Stille zerbrechlich und als müsse jeden Moment irgendetwas passieren.
Und tatsächlich: das Geräusch eines rhythmischen Flackerns in der Luft kommt langsam näher. Der Flügelschlag eines Vogels.
Fast erleichtert rühren sich die drei Menschen wieder.

Gemeinsam mit Mischa und seinem Sohn Wanja bin ich im Auto unterwegs auf dem gefrorenen Baikalsee. Von Anfang Februar bis Anfang April ist das Eis dick genug, um einen kleinen Lkw zu tragen. Auf der Tschivirkuj-Bucht, welche die Halbinsel Heilige Nase von den Bargusin-Bergen trennt, gibt es kleine Siedlungen aus Jurten und Holzhütten, die an Angler vermietet werden, die an kleinen ins Eis gebohrten Löchern hocken. Eine vom Schnee geräumte und mit Verkehrszeichen versehene Straße führt quer über die Bucht mit Abzweigungen nach links und rechts, zu den improvisierten Anglersiedlungen und zu einer Thermalquelle am Ufer, in deren holzeigefasste Becken abhärtungsgewillte Männer und Frauen in von Erdkräften erhitztes, nach Schwefel riechendes Wasser steigen, während ringsum Schnee liegt und minus zwanzig Grad herrschen.
Wir fahren weiter, aus der Bucht heraus und zwei Stunden lang nach Norden. Unser Ziel heißt Davschá, eine Siedlung am Nordostufer, im Winter nur über das Eis, im Sommer per Boot zu erreichen und im Frühling und Herbst ohne Transportverbindung zur Außenwelt. In den 80er Jahren war Davscha ein richtiges Dorf mit Schule, Flughafen und hundertzwanzig Einwohnern. Inzwischen wohnen nur noch fünf Mitarbeiter des Bargusiner Nationalparks und zwei Meteorologen dort. Wer dort hinfahren möchte, braucht eine vorher zu beantragende Sondergenehmigung. Die habe ich. Das kostbare Papier liegt in einer Tasche neben der Handbremse.
„Lässt du mich auch mal ans Steuer? Für mich ist es ungewöhnlich, einfach nur zu sitzen und nichts zu machen“, sagt Mischa.
Mein Freund Mischa arbeitet am Theologie-Lehrstuhl und berät mich bei allen Fragen, die das Auto betreffen. Er spricht gut Deutsch; auf der Fahrt von Ulan-Ude hat er mir auseinandergesetzt, dass die Religionswissenschaft in Russland dem Westen um fünfzig Jahre hinterherhinkt und die Protestanten in Lehrbüchern immer noch als komische Sektanten ohne Ikonen dargestellt werden und auch die Katholiken als Abweichler, die nicht alles ganz richtig machen. Mischa, so kommt es mir vor, ist im Dauerstress: Arbeit an der Uni, private Nachhilfe, Produktion einer vorgeschriebenen Menge an wissenschaftlichen Artikeln, drei Kinder zuhause und trotz sparsamster Lebensweise nie genug Geld. Für ihn ist es der erste Ausflug auf den winterlichen Baikalsee. Für mich ist es der achte.
„Seit Jahrzehnten wohne ich in Burjatien, und es muss erst ein Deutscher her, bis ich mal hier rauskomme“, meint Mischa und setzt sich hinters Lenkrad. Während ich mit beständigen vierzig Stundenkilometern über glatte und holprige Stellen gleichermaßen hinweggerollt bin, beschleunigt er bis auf siebzig, um dann vor Unebenheiten auf Schrittgeschwindigkeit abzubremsen, ständig herauf- und herunterschaltend.
„Man muss doch das Auto schonen!“
Eine kilometerweite weiße Wüste, sich langsam lichtender Morgennebel. Alle hundert Meter steckt ein kleines Bäumchen als Wegmarkierung im Schnee. Ein Auto überholt uns. Eine Stunde später kommt uns eines entgegen. Stau gehört offensichtlich nicht zu den hier verbreiteten Phänomenen.
Ein klein wenig mulmig ist mir in der Magengegend, und ich freue mich, Mischa als Reisegefährten zu haben, der sich mit Ladatechnik auskennt. Wenn das Auto hier liegenbleibt, kann es dauern. Bis zum Ufer ein Fußmarsch von zwei oder drei Stunden, der im Übrigen auch völlig sinnlos wäre, da außer wilden Tieren dort niemand wohnt. Telefonnetz gibt es keines. Mein Freund hinter den Bergen kann auch nicht telefonieren. Aber er sitzt ja wenigstens in seiner warmen Hütte.
Irgendwann gabelt sich die Eisstraße. Geradeaus geht es nach Severobaikalsk, wir wollen nach rechts. „Davscha – Betreten nur mit Erlaubis der Direktion“, verkündet ein Schild, und zwei Nadelbäumchen symbolisieren eine Toreinfahrt. Nach drei Kilometern fahren wir an Land. Die meisten der in dicken Schnee eingepackten Holzhäuser stehen leer. Ein Uniformierter schlendert uns entgegen und lässt sich unsere schriftliche Erlaubnis zeigen. Obwohl wir nicht übernachten wollen, dürfen wir in einem Gästehaus am warmen Ofen sitzen und Tee schlürfen. Dann ein Spaziergang in der blendenden Mittagssonne, eine Führung durch die beiden ungeheizten und deshalb eiskalten Museen und das Bestaunen eines lebendigen Zobels, der angefüttert wird und deshalb immer wieder an die Häuser zurückkehrt.
Nach fast fünf Jahren Sibirien sehe ich endlich einen Zobel in freier Wildbahn, das Tier, um dessen kostbarer Pelze willen die Erschließung des asiatischen Teils Russlands vorangetrieben wurde.

Die sich senkende Nachmittagssonne schärft die Konturen der Berge am Horizont. Wir sind auf dem Rückweg in die Tschivirkuj-Bucht, wo wir wie schon auf dem Hinweg im Dorf Kurbulik übernachten möchten. Im Winter wohnen dort zehn Familien. Wie auch in Davscha, gibt es Strom nur über Solarzellen oder benzinbetriebene Generatoren. Dreieinhalb Liter liefern Strom für sieben Stunden, wie unser Gastgeber, der Rentner Alexander Iwanowitsch erklärt hat. Den Motor seines Lada Nivas – kein Fünftürer wie meiner, sondern das viel weiter verbreitete dreitürige Modell – erwärmt er, bevor es morgens zum Angeln geht, von unten mit der offenen Flamme einer Lötlampe.
Mischa wird unruhig. Ich halte an, um ihn ans Steuer zu lassen.
Wir steigen beide aus, auch der dreizehnjährige Wanja legt seinen E-Book-Reader zur Seite und schält sich etwas unwillig vom Sitz.
Ringsum die endlose weiße Weite.
„Ich würde gern eine kleine Weile hier bleiben“, sagt Mischa.
Ich strecke meine Hand aus zum Autoschlüssel und werfe ihm einen fragenden Blick zu. Noch nie gab es eine Garantie dafür, dass ein ausgeschalteter Ladamotor wieder anspringt.
Um den fantastischen, menschenleeren Winterkosmos um uns zu spüren, müsste es jetzt still sein.
Mischa nickt.
Ich schalte den Motor aus.
Drei Menschen stehen auf einer weißen Fläche und lauschen.
Zwei Bäumchen auf dem Eis symbolisieren die Ortseinfahrt nach Davscha. Die abgelegene Siedlung ist auf dem Landweg nicht erreichbar
Die Abendsonne ist gerade hinter der Nordspitze der Halbinsel Heilige Nase verschwunden
Die Hauptstraße im Fischerdorf Kurbulik
Bei morgendlichen fünfundzwanzig Grad wird der Motor mit der offenen Flamme einer Lötlampe von unten erwärmt
In Davscha wohnten einst hundertzwanzig Menschen. Heute sind es noch sieben