Obwohl das Corona-Virus in Sibirien noch nicht
angekommen ist, sind in unserer Apotheke die Masken und Desinfektionsmittel
schon ausverkauft. Flüge zwischen Russland und Deutschland sind nur noch über
den Moskauer Flughafen Scheremetievo möglich. Wer aus besonders betroffenen
Ländern wie Deutschland in die russische Hauptstadt einreist, muss sich für
zwei Wochen in seiner eigenen Wohnung in Quarantäne begeben und darf nicht zur
Arbeit oder zum Studium gehen, ein Erlass, der im Moment (morgen kann alles
anders sein) nur Moskau betrifft und nicht für diejenigen gilt, die in eine
andere Stadt weiterreisen. Meine Entsendeorganisation rät allen in Russland tätigen
Kollegen, auf Auslandsreisen zu verzichten und sich in die Krisenvorsorgeliste
des Auswärtigen Amtes eintragen zu lassen.
An zwei Abenden der Woche bin ich im Haus der Völkerfreundschaft, um mit
einer sehr kleinen Gruppe von Russlanddeutschen zu singen und Deutschunterricht
zu veranstalten. Als Stalin nach Kriegsausbruch die Wolgadeutschen nach
Sibirien und Kasachstan verbannte, kamen einige Tausend von ihnen auch nach
Burjatien und hier vor allem ins Dschidlag
nach Sakamensk, um dort als Zwangsarbeiter der Trudarmija Wolfram und Molybdän abzubauen. Viele ihrer Nachfahren
sind in den neunziger Jahren in die historische Heimat nach Deutschland
zurückgekehrt, aber nicht alle. Mit etwas Mühe kann man in Burjatien noch alte Menschen
aufspüren, die selbst deutschsprachig in der Wolgaregion aufgewachsen sind.
Zusammen mit Vitalij bin ich unterwegs nach
Sakamensk, einer 11000-Einwohner-Siedlung am Ende eines entlegenen Tales
südlich des Chamar-Daban-Gebirges, etwa 400 Kilometer von Ulan-Ude entfernt.
Der Vierzigjährige (genau mein Jahrgang), der auch meinen Deutschunterricht und
den Chor besucht, arbeitet im Komitee für
interethnische Beziehungen und die Entwicklung bürgerlicher Initiativen in der
Verwaltung des Präsidenten der Republik Burjatien und hat das Thema
Russlanddeutsche für sich entdeckt, da seine Frau von ihnen abstammt. „Ich
verehre die Deutschen“, sagt er, „so ein tolles Volk!“ Acht Jahre lang hat er
selbst in Sakamensk gelebt und freut sich darauf, mit mir auf den Spuren zu
wandeln, die sie dort hinterlassen haben.
Auf der Hinfahrt im fast zwanzig Jahre alten Toyota Kluger mit Rechtslenkung kommen
wir an in dichten Rauch gehüllten Feldern vorbei, auf denen sich hunderte Meter
lange Flammenfronten durch den ausgetrockneten Bewuchs vorwärtszüngeln. „Die
Bauern brennen die Flächen ab, damit das neue Gras schneller durchkommt.
Eigentlich sollte jemand daneben stehen und das Feuer kontrollieren, aber wen
kümmerts?“ Dann spricht Vitalij über seine Arbeit. „Bürgerliche Initiativen? So
etwas gibt es eigentlich gar nicht. Eigene Initiative ist unerwünscht. Wer
etwas Ernsthaftes machen will, kriegt Knüppel zwischen die Beine geworfen.
Korrupte Bürokraten steuern alles von oben und zahlen den Leuten lächerliche
Kopeken. Ich bin Leitender Spezialist,
und was verdiene ich? Siebenundzwanzigtausend. In diesem Jahr haben sie
zweihundert aufgeschlagen. Ob ich denn immer noch unzufrieden wäre, fragen sie.
Ja, unzufrieden! Durdóm!“ Das letzte
Wort, zu deutsch Irrenhaus, kann man hier
des Öfteren hören.
An den Lada
Niva gewöhnt, komme ich mir im Toyota-Geländewagen vor wie in einem
Flugzeug und gestehe Vitalij, dass ich noch nie am Steuer eines Fahrzeugs mit
Rechtslenkung und Automatikgetriebe gesessen habe. „Das können wir ändern“,
ruft mein Freund, und flugs tauschen wir die Plätze. An einer Ansammlung von in
die Steppe gestreuten Erdhügeln machen wir halt. „Ein ehemaliger
Truppenübungsplatz“, sagt Vitalij, und schon streunen wir durch Gräben und
verfallene Baracken und fotografieren ein nicht mehr vorhandenes Gebäude, von
welchem lediglich das Pissoir übrig geblieben ist. Mir kommt die Ahnung, dass
wir ein interessantes Wochenende verbringen werden. Zumindest verbindet uns das
Interesse am Herumstrolchen in Ruinen.
In Sakamensk sind wir zu Gast im Haus von Lena
Iwanowna und Vladimir Alexandrowitsch, Vitalijs Schwierereltern. Vladimir ist
ein lebensfroher alter Mann, dem man innere Heiterkeit und Ausgeglichenheit
anmerkt, welche die Musik der Seele schenkt: er unterrichtet an der Musikschule
Bajan (das russische Knopfakkordeon) und Balalaika. Sein Vater war russischer
Kosake und seine Mutter Deutsche. Ihre Sprache wurde allerdings in der Familie
mit den Kindern nie gesprochen. Nach dem Krieg war nicht die Zeit dafür. Die
korpulente Lena war Kindergärtnerin. Lebenslang an den Lärm großer Gruppen
gewöhnt, hält sie keine Stille aus und hat den Fernseher im Dauerbetrieb. An
beiden Abenden heizt Wladimir für uns die Banja. Ich peitsche Vitalij mit einem
Eichenlaub-Besen den Rücken aus und höre nach drei Minuten entkräftet auf. „Dem
Deutschen wird eher die Hand müde, als dass der Russe was merkt“, sage ich.
„Könnte man glatt einen Witz draus machen.“
Vitalij zeigt mir die Stelle, wo früher in Baracken
zweitausend Wolgadeutsche gelebt haben und die im Volksmund nur Berlin genannt wurde. Heute sind dort
von Müll umwehte Ruinen. Ich setze mich in das Wrack eines Moskwitsch-400 von Ende der vierziger Jahre, erster PKW für den
Massenbedarf in der UdSSR der Moskauer Nachbau eines Opel Kadett K-38, nachdem Teile des Rüsselsheimer Opel-Werkes als
Reparationsleistung an die Russen gingen. Wir fahren vorbei am visionär in die
Ferne blickenden Lenin mit roter Digitalanzeige „noch 59 Tage bis zum Sieg“ und
einem wuchtigen Panzerdenkmal. Sakamensk war einst der wichtigste Lieferant von
Wolfram im Land, kriegswichtig für die Legierung von Panzerstahl. Das
Wolfram-Molybdän-Kombinat wurde in den 90er Jahren geschlossen und überragt
heute als gigantische Ruine die Stadt. Mein Freund packt seinen Fotoapparat aus
und veranstaltet ein Fotoshooting: Thomas mit Apokalypse-Flair, zu seinen Füßen
ein sowjetischer Schutzhelm.
Unweit des ehemaligen Eingangs in einen
unterirdischen Schacht ein an die Felsen gemaltes rundes Emblem mit Lenin und
Stalin, daneben die UdSSR-Sichel. „Mit diesem Werk hat sich wohl ein als
Zwangsarbeiter schuftender Künstler die Freiheit erarbeitet“, erklärt Vitalij.
„Hier muss ja unglaublich schwere Technik im
Einsatz gewesen sein“, sage ich und weise auf die riesigen Betonwände und
Aufschüttungen am Schachteingang.
„Welche Technik?“ Vitalij senkt die Stimme.
„Handarbeit, mein Lieber, alles Handarbeit.“
Ich wühle im Schutt und hebe ein paar interessant
glänzende kleine Kristalle auf.
„Pass auf, was du da zutage förderst. Sakamensk ist
auf Knochen erbaut!“
Das Lenin-Stalin-Emblem glänzt, als ob jemand ganz
kürzlich die Farbe erneuert hat. „Alte Kommunisten gibt es viele hier, und sie
mögen mich nicht, weil ich offen über das spreche, was hier los war.
Kommunismus ist wie Faschismus, nur in anderem Gewand!“
Ob er denn nicht auch die guten Seiten der
Sowjetunion sähe?
„Die gab es auf alle Fälle. Verglichen mit dem, was
die heutigen Machthaber anstellen. Krugom
worowstwó!“ Eine verbreitete Phrase, etwa zu übersetzen mit „ringsum
Diebstahl“.
Bis 1953 schufteten im Sakamensker Dschidlag tausende Zwangsarbeiter:
russische Strafgefangene und Wolgadeutsche. Eine von ihnen, die 93jährige
Mechthilde Hoppe, war 1943 siebzehn Jahre alt und hat nicht direkt im Bergwerk,
sondern im Holzeinschlag gearbeitet. Bei unserem Besuch spreche ich mit ihr nur
Deutsch. Sie versteht fast alles, was ich sage, antwortet aber meistens auf
Russisch, in einem ungewöhnlichen gesanglichen Tonfall, der die Ausländerin
verrät. Bereitwillig zeigt sie ihr Trudowaja
Knizhka, das Arbeitsbuch, bis heute in Russland ein wichtiges Dokument, in
welchem die Arbeitsjahre im Dschidlag
verzeichnet sind, und eine spätere, eng mit Schreibmaschine beschriebene Liste
über Vergünstigungen im öffentlichen Leben, festgelegt nach dem „Gesetz über
die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“: kostenloser
Nahverkehr, fünfzig Prozent Rabatt auf den Strompreis, kostenlose
Zahnprothesen.
Wie sie es geschafft habe, so alt zu werden?
„Ich habe nie geraucht, keinen Wodka getrunken und
wenig Fleisch gegessen. Und musste immer schwer arbeiten“, sagt Mechthilde.
Was sie über Stalin denke? Von Vitalij weiß ich
ihre Antwort schon. Aber ich möchte sie nochmal hören, um der Authentizität
willen.
„Wissen Sie, ich hege keinen Groll. Ein guter
Führer. Es herrschte Disziplin und Ordnung. Nicht so wie heute!“
Sagt eine Frau, die viertausend Kilometer zwangsumgesiedelt
wurde.
„Stalin konnte ja nicht überall sein. Vielleicht
wusste er von den Zuständen hier gar nichts.“
Mechthilde holt eine Jacke mit einem halben Dutzend
Orden hervor, Held der Arbeit, Veteran des Großen Vaterländischen Krieges und
so weiter. An der Parade am neunten Mai wird sie mit Stolz teilnehmen, hat sie
doch damals im Hinterland kriegswichtige Arbeit geleistet. Noch 59 Tage bis zum
Sieg!
Sakamensk liegt nur wenige Kilometer von der
Mongolei entfernt. Vor der Reise musste
ich mir deshalb eine Genehmigung zum Betreten der Pogranitschnaja sona, des Grenzgebietes, besorgen. Fast ein wenig
schade, dass der Kontrollposten unbesetzt war und ich sie niemandem vorzeigen
konnte. Vielleicht sollte ich ja gleich hierbleiben, bis die Coronavirus-Welle
vorbei ist, scherze ich am letzten Abend.
„Wir könnten zusammen auf die Jagd gehen“, meint Vladimir und holt eine Waffe aus dem in die Wand geschraubten Safe. Jedes Jahr
kommt jemand von der Polizei vorbei und prüft ihre ordnungsgemäße Aufbewahrung.
„Du kannst schonmal üben“, sagt Vitalij, greift
nach seinem – genehmigungsfrei benutzbaren und deshalb frei herumliegenden –
Luftgewehr und geht mit mir nach draußen. Gemeinsam schießen wir abwechselnd in
die in der Dämmerung weiß schimmernde Tür des Klohäuschens. Hundegebell und
Sternenhimmel über der Taiga. Hier kommt so schnell kein Virus hin. Vielleicht
aber auch doch.
„So etwas gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht“,
wird mir mein Vater am nächsten Tag am Telefon erzählen und von den Zuständen
in Deutschland berichten, wo das öffentliche Leben mehr und mehr lahmgelegt
wird.
Vladimir öffnet eine Bodenklappe in der Küche,
steigt in den podpólje genannten
Kellerraum und gibt mir saure Gurken und einen großen Sack Kartoffeln mit auf
die Rückreise. Wenn die Globalisierung zusammenbricht, werden vielleicht die
Selbstversorger diejenigen sein, denen es plötzlich am besten geht.
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Reste eines ehemaligen Truppenübungsplatzes auf dem Weg nach Sakamensk (oben). Bauern brennen Felder ab, damit das neue Gras schneller durchkommt (unten) |
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Vitalij, dessen Frau wolgadeutsche Vorfahren hat, die nach Sakamensk zwangsumgesiedelt wurden (oben). Ein Flugzeug der Sanaviazia bringt einen Kranken in die Stadt (unten) |
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Ein Kunstwerk am Felsen in der Nähe des Stolleneinganges (oben). Im Bergwerk wurde kriegswichtiges Wolfram abgebaut, heute ist der Schachteingang verschüttet (unten) |
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Eine Digitalanzeige zählt die bis zur Siegesfeier am 9. Mai verbleibenden Tage (oben). Vitalij und Vladimir mit Balalaika und Bajan in der Musikschule (unten) |
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Im Gespräch mit der 93jährigen Wolgadeutschen Mechthilde Hoppe, die mit 17 Jahren nach Sakamensk zwangsumgesiedelt wurde und im Dzhidlag gearbeitet hat. Sie wollte sich ausdrücklich mit mir fotografieren lassen. Selbst war sie nie in Deutschland. |
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Das Trudovaja Knizhka, das Arbeitsbuch, zeugt von ihren Zeiten im Lager (oben). Zu jedem russischen Dorfhaus gehört ein Kellerraum zum Lagern von Lebensmitteln (unten). |
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Der Safe mit der Jagdwaffe ist fest in die Wand geschraubt und wird regelmäßig von der Polizei kontrolliert (oben). Vitalij fotografierte mich gern an verschiedenen skurrilen und interessanten Orten (unten) |