Gestern habe ich mit meinen Studenten einen
Sprachtest gemacht. Vierzig Minuten lang mussten sie im Internet Lückentexte
mit passenden Wörtern ausfüllen. Sofort nach dem Test wurde das Ergebnis
angezeigt. Nur Sorik hat die Punktezahl erreicht, die nötig ist, um sich für
ein Stipendium nach Deutschland bewerben zu können. Ausgerechnet der ungelenke,
leicht neben der Spur wirkende Sorik mit den strubbligen schwarzen Haaren, der
immer mal den Unterricht verschläft, nachdem er wieder die ganze Nacht durch
Computer gespielt hat – wobei er mit seinen deutschen Gegnern chattet, deshalb
sicher das gute Ergebnis: weil er sich so in seiner Freizeit mit Deutsch
beschäftigt. Einige aus der Gruppe sind gar nicht zum Test erschienen. Bei
anderen habe ich den Eindruck, dass sie zwar physisch erschienen sind, es ihnen
aber im Grunde egal ist.
Mein Institut ist eine trostlose Einrichtung. Über
die dunklen Korridore und Treppen des altehrwürdigen Gebäudes aus dem
vorvorigen Jahrhundert schleichen schüchterne Gestalten, den Blick nach unten
aufs Smartphone gerichtet. Manchmal schalte ich das Licht an, um den
gespenstische Charakter etwas zu mindern, bis es der Security-Mann auf seinen
Rundgängen wieder löscht, da die Anweisung „Strom sparen“ lautet. Selten sieht
man jemand mit einem Buch in der Hand. Fast zwanzig Jahre alte ausgeblichene
Plakate an den Wänden erzählen vom einstmals aktiven Austausch mit einer
deutschen Partneruni, daneben der Hinweis „Beim Auffinden verdächtiger
Gegenstände sofort den Wächter informieren“. Viele Studenten kommen zum
Unterricht gar nicht, verspätet oder ohne Hausaufgaben. Damit die kleinen
Gruppen nicht noch kleiner werden, kommt jeder durch jede Prüfung. Die im
ersten Studienjahr teilweise noch minderjährigen jungen Leute wissen eigentlich
überhaupt nicht, was sie wollen. Da sie sich wie Kinder benehmen, werden sie
auch wie solche behandelt. Vielleicht ist es auch umgekehrt: weil die Dozenten
ihnen nachlaufen wie Kindern, verhalten sie sich wie solche.
Da die Lehrkräfte miserabel bezahlt werden, sind
viele auf Zuverdienste außerhalb der Uni angewiesen und verbringen deshalb
möglichst wenig Zeit in ihren Wänden. Einige sind in ihrem eigenen Unterricht
nicht anwesend und lassen die mit Aufgaben versorgten Studenten allein sitzen.
Es gibt kaum eine Organisations- oder Kommunikationskultur der Kollegen
untereinander, ein gemeinsames Arbeiten an größeren Projekten, ein Mitteilen
von Informationen, die für alle interessant sein könnten, ein gemeinsames
Entscheidungen treffen. Wie steht es um das Erlernen der deutschen Sprache in
Burjatien? Auch nach vier Jahren Tätigkeit an dem Institut, das Übersetzer und Lehrer für
die Schulen ausbildet, weiß ich es nicht. Jeder wirtschaftet für sich, hat
hierhin und dorthin seine Kontakte und teilt anderen nur dann etwas mit, wenn
er es für vorteilhaft erachtet.
Irgendwas ist falsch, denke ich oft, wenn ich auf
die Studenten schaue, wie sie eng aneinandergedrängt vor mir in den kleinen
Räumen sitzen – einige nehmen nicht einmal ihr Täschchen vom Schoß –, und dicht
aneinandergequetschte Zeilen in ihre kleinen A5-Heftchen schreiben, einige in
einer derart katastrophalen Handschrift, die vielleicht charakteristisch ist
für die nur noch wischen und tippen, aber nicht mehr schreiben könnende Generation Smartphone. Eigentlich sollten die jungen Leute hier nicht ihre
Lebenszeit absitzen, sondern arbeiten, eine Reise machen, ein wenig das Leben
schnuppern, sich selbst finden. Elf Jahre Schule, und dann noch einmal vier
Jahre Uni, die mit dem Leben nichts zu tun hat, haufenweise sinnloser
Nebenfächer inklusive Sportunterricht und sogenannte wissenschaftliche Arbeiten,
aus dem Internet zusammengebastelt und mit ausgetauschten Wörtern, damit die Antiplagiat-Prüfung bestanden wird.
Die russische Universität erfülle eben nicht nur
eine Ausbildungs- sondern auch eine Erziehungsfunktion, hat mal irgendwer
gesagt. Ich kann mich daran nicht gewöhnen und halte das ganze Bildungssystem
für misslungen, weil es nicht den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen
Entwicklung entspricht. Die jungen Leute werden viel zu früh gezwungen, sich
für eine Studienrichtung und damit für einen Beruf zu entscheiden. Das nach der
elften Klasse abzulegende Einheitliche
Staatliche Examen, das Gegenstück zum deutschen Abitur, hat nur eine begrenzte
zeitliche Gültigkeit; der Studienbeginn ist unmittelbar im Anschluss an die
Schule vorgesehen. Und hat Studieren nicht etwas zu tun mit Lesen und geistigem
Arbeiten? Warum gibt es kein System einer praktischen Berufsausbildung, warum
werden auch diejenigen durch die Hochschulen geschleift, deren Stärken im
handwerklichen Tun liegen?
Es gibt eine Minderheit, der Motivation und
Zielstrebigkeit anzumerken ist. Gerade findet in Ulan-Ude die Weltmeisterschaft
im Frauenboxen statt, wo einige Studenten als Freiwillige tätig sind, die
internationalen Teams vom Flughafen abgeholt haben und ihnen als Übersetzer
helfen. Vor Beginn der Weltmeisterschaft war das Stadtzentrum um den
Sowjet-Platz herum zwei Wochen lang abgesperrt, weil der Asphalt erneuert
wurde. Eine völlig absurde Geldverschwendung, da der Asphalt dort in fast
einwandfreiem Zustand war, während anderswo vor Schlaglöchern die Straße kaum
sichtbar ist.
Manchmal finde ich russische Spontanität
erfrischend: zum Beispiel, wenn mich mein Bekannter Zhargal anruft und fragt,
ob er in fünf Minuten zum Tee vorbeikommen kann. Und manchmal macht sie mich
traurig, wie heute, wo ich für einen zweitätigen Taiga-Ausflug zur Jagd
verabredet bin mit Nachbar Anatolij, der unser Vorhaben leider vergessen hat
und mit abgeschaltetem Telefon verschwunden ist.