Samstag, 5. Oktober 2019

Trostlosigkeit


Gestern habe ich mit meinen Studenten einen Sprachtest gemacht. Vierzig Minuten lang mussten sie im Internet Lückentexte mit passenden Wörtern ausfüllen. Sofort nach dem Test wurde das Ergebnis angezeigt. Nur Sorik hat die Punktezahl erreicht, die nötig ist, um sich für ein Stipendium nach Deutschland bewerben zu können. Ausgerechnet der ungelenke, leicht neben der Spur wirkende Sorik mit den strubbligen schwarzen Haaren, der immer mal den Unterricht verschläft, nachdem er wieder die ganze Nacht durch Computer gespielt hat – wobei er mit seinen deutschen Gegnern chattet, deshalb sicher das gute Ergebnis: weil er sich so in seiner Freizeit mit Deutsch beschäftigt. Einige aus der Gruppe sind gar nicht zum Test erschienen. Bei anderen habe ich den Eindruck, dass sie zwar physisch erschienen sind, es ihnen aber im Grunde egal ist.
Mein Institut ist eine trostlose Einrichtung. Über die dunklen Korridore und Treppen des altehrwürdigen Gebäudes aus dem vorvorigen Jahrhundert schleichen schüchterne Gestalten, den Blick nach unten aufs Smartphone gerichtet. Manchmal schalte ich das Licht an, um den gespenstische Charakter etwas zu mindern, bis es der Security-Mann auf seinen Rundgängen wieder löscht, da die Anweisung „Strom sparen“ lautet. Selten sieht man jemand mit einem Buch in der Hand. Fast zwanzig Jahre alte ausgeblichene Plakate an den Wänden erzählen vom einstmals aktiven Austausch mit einer deutschen Partneruni, daneben der Hinweis „Beim Auffinden verdächtiger Gegenstände sofort den Wächter informieren“. Viele Studenten kommen zum Unterricht gar nicht, verspätet oder ohne Hausaufgaben. Damit die kleinen Gruppen nicht noch kleiner werden, kommt jeder durch jede Prüfung. Die im ersten Studienjahr teilweise noch minderjährigen jungen Leute wissen eigentlich überhaupt nicht, was sie wollen. Da sie sich wie Kinder benehmen, werden sie auch wie solche behandelt. Vielleicht ist es auch umgekehrt: weil die Dozenten ihnen nachlaufen wie Kindern, verhalten sie sich wie solche.
Da die Lehrkräfte miserabel bezahlt werden, sind viele auf Zuverdienste außerhalb der Uni angewiesen und verbringen deshalb möglichst wenig Zeit in ihren Wänden. Einige sind in ihrem eigenen Unterricht nicht anwesend und lassen die mit Aufgaben versorgten Studenten allein sitzen. Es gibt kaum eine Organisations- oder Kommunikationskultur der Kollegen untereinander, ein gemeinsames Arbeiten an größeren Projekten, ein Mitteilen von Informationen, die für alle interessant sein könnten, ein gemeinsames Entscheidungen treffen. Wie steht es um das Erlernen der deutschen Sprache in Burjatien? Auch nach vier Jahren Tätigkeit an dem Institut, das Übersetzer und Lehrer für die Schulen ausbildet, weiß ich es nicht. Jeder wirtschaftet für sich, hat hierhin und dorthin seine Kontakte und teilt anderen nur dann etwas mit, wenn er es für vorteilhaft erachtet.
Irgendwas ist falsch, denke ich oft, wenn ich auf die Studenten schaue, wie sie eng aneinandergedrängt vor mir in den kleinen Räumen sitzen – einige nehmen nicht einmal ihr Täschchen vom Schoß –, und dicht aneinandergequetschte Zeilen in ihre kleinen A5-Heftchen schreiben, einige in einer derart katastrophalen Handschrift, die vielleicht charakteristisch ist für die nur noch wischen und tippen, aber nicht mehr schreiben könnende Generation Smartphone. Eigentlich sollten die jungen Leute hier nicht ihre Lebenszeit absitzen, sondern arbeiten, eine Reise machen, ein wenig das Leben schnuppern, sich selbst finden. Elf Jahre Schule, und dann noch einmal vier Jahre Uni, die mit dem Leben nichts zu tun hat, haufenweise sinnloser Nebenfächer inklusive Sportunterricht und sogenannte wissenschaftliche Arbeiten, aus dem Internet zusammengebastelt und mit ausgetauschten Wörtern, damit die Antiplagiat-Prüfung bestanden wird.
Die russische Universität erfülle eben nicht nur eine Ausbildungs- sondern auch eine Erziehungsfunktion, hat mal irgendwer gesagt. Ich kann mich daran nicht gewöhnen und halte das ganze Bildungssystem für misslungen, weil es nicht den Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Entwicklung entspricht. Die jungen Leute werden viel zu früh gezwungen, sich für eine Studienrichtung und damit für einen Beruf zu entscheiden. Das nach der elften Klasse abzulegende Einheitliche Staatliche Examen, das Gegenstück zum deutschen Abitur, hat nur eine begrenzte zeitliche Gültigkeit; der Studienbeginn ist unmittelbar im Anschluss an die Schule vorgesehen. Und hat Studieren nicht etwas zu tun mit Lesen und geistigem Arbeiten? Warum gibt es kein System einer praktischen Berufsausbildung, warum werden auch diejenigen durch die Hochschulen geschleift, deren Stärken im handwerklichen Tun liegen?
Es gibt eine Minderheit, der Motivation und Zielstrebigkeit anzumerken ist. Gerade findet in Ulan-Ude die Weltmeisterschaft im Frauenboxen statt, wo einige Studenten als Freiwillige tätig sind, die internationalen Teams vom Flughafen abgeholt haben und ihnen als Übersetzer helfen. Vor Beginn der Weltmeisterschaft war das Stadtzentrum um den Sowjet-Platz herum zwei Wochen lang abgesperrt, weil der Asphalt erneuert wurde. Eine völlig absurde Geldverschwendung, da der Asphalt dort in fast einwandfreiem Zustand war, während anderswo vor Schlaglöchern die Straße kaum sichtbar ist.
Manchmal finde ich russische Spontanität erfrischend: zum Beispiel, wenn mich mein Bekannter Zhargal anruft und fragt, ob er in fünf Minuten zum Tee vorbeikommen kann. Und manchmal macht sie mich traurig, wie heute, wo ich für einen zweitätigen Taiga-Ausflug zur Jagd verabredet bin mit Nachbar Anatolij, der unser Vorhaben leider vergessen hat und mit abgeschaltetem Telefon verschwunden ist.