Donnerstag, 10. Oktober 2019

Trost




Vor zwanzig Jahren habe ich meine erste längere Auslandserfahrung gemacht. Damals arbeitete ich ein halbes Jahr lang als Freiwilliger in einem kleinen Dorf an der norwegischen Westküste. In Hogganvik Landsby, einer Camphill-Einrichtung, hatte ich Verantwortung für einen behinderten jungen Mann und half im Kuhstall und in der Schreinerwerkstatt. Meine Begeisterung für die zauberhafte Fjordlandschaft war grenzenlos, das Orientieren in einem Leben weit weg von den Eltern aufregend. Zurzeit muss ich oft daran denken. Vielleicht deshalb, weil ich Maja jeden Abend Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ vorlese, das erste Buch, das ich damals in norwegischer Sprache gelesen hatte. Vielleicht gilt für mich ein inneres Gesetz, wonach mit Zwanzig-Jahres-Abstand Erinnerungen aktualisiert werden. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir mein Schwiegervater neulich das Schlachten eines Huhns vorführte.
  Wie man ein Huhn schlachtet, erfuhr ich zum ersten Mal in Hogganvik: den Kopf mit der Axt ab, wonach das Tier noch eine Weile kopflos herumfliegt – dann mit der gummihandschuhgeschützen Hand in das Hinterteil greifen und die Innereien herausholen. Dann wird gerupft.  Nicht so mein Schwiegervater. Nikolai, der heute sechzig Jahre alt wird,  schlachtet halal, wie es sich für Moslems gehört: ein schneller, gezielter Messerschnitt durch den Hals lässt das Tier ausbluten. Die Haut wird mitsamt der Federn abgezogen und den Hunden zum Fraß angeboten.
  Vielleicht war es für das Huhn ja ein Trost, halal geschlachtet zu werden. Ob die diese Art der Tötung  den Tieren mehr oder weniger Schmerzen zufügt als andere Verfahren, gilt als umstritten.
  Durch Mitarbeiter aus Armenien und Russland machte ich in Hogganvik Landsby erste nähere Bekanntschaft mit der russischen Sprache, die mir völlig unerlernbar erschien, und wurde neugierig auf die Weiten, Kulturen und Naturgewalten des Ostens, in denen ich jetzt das fünfte Jahr in Folge wohne.
  Gestern Abend fiel in Ulan-Ude der erste Schnee. Das dünne weiße Deckchen liegt jetzt am Nachmittag immer noch.


Maja im Kartoffelkeller