Samstag, 26. Oktober 2019

Service


„Heute habe ich neue Winterreifen gekauft“, erzähle ich eines schönen Tages erfreut meiner Frau, „allerdings sind sie viel schmaler als die Ganzjahresreifen, die ich bisher hatte, aber das habe ich erst nach dem Kauf gemerkt.“
„Mit wem zusammen hast du die Reifen denn gekauft?“, will Niso wissen.
„Mit niemandem. Ich habe mich auf die Beratung im Fachgeschäft verlassen. Dort haben sie gesagt, für den Lada Niva gäbe es nur eine einzige Winterreifensorte. In der Werkstatt, wo ich sie habe wechseln lassen, hat man sich sehr gewundert und gesagt, das sei Quatsch...“
„Du kannst doch nicht einfach dem glauben, was dir der Verkäufer erzählt!“
„…und dort haben sie mir dann die neuen Reifen ohne die mitgelieferten Schläuche aufgezogen. Ohne Schläuche wären die Laufeigenschaften viel besser.“
„Manchmal staune ich über deine Naivität“, sagt Niso. „Wir sind hier nicht in Deutschland. Du kannst nicht einfach glauben, was dir irgendein Verkäufer erzählt, und dann auch noch in die erstbeste Bude zum Reifenwechseln fahren…“
„Wenn dransteht ‚Reifenwechsel‘, dann werden da doch wohl ausgebildete Fachkräfte tätig sein!“
„…wo jeder Alkoholiker arbeiten kann, nachdem er drei Tage angelernt wurde. Ausbildung! So etwas gibt es in der Welt, wo du herkommst, aber nicht hier. Du musst jemanden mitnehmen, der dir eine verlässliche Werkstatt empfiehlt. Und der sich bei Kauf nicht übers Ohr hauen lässt wie ein ahnungsloser Ausländer.“
Ich mache ein beleidigtes Gesicht.
„Als ich beim Ersatzteilehandel im Lager gearbeitet hatte, haben wir zwei Gruppen von Kunden unterschieden. Die, denen man ansah, dass sie Ahnung haben, haben das bekommen, was sie wollten. Und den anderen wurden die billigen chinesischen Ersatzteile gegeben. Auch wenn sie teurere aus russischer Produktion bestellt hatten. Verpackung ausgetauscht, fertig.“
„Und diesen Betrug hast du mitgemacht?“, frage ich fassungslos.
„Ich war nicht an der Warenausgabe, aber habe das bei den Kollegen mitbekommen und natürlich geschwiegen. Alle haben geschwiegen. Sonst wären wir am nächsten Tag den Job losgewesen.“

Eines anderen schönen Tages ruft mich Niso auf Arbeit an. „Komm mal schnell nach Hause, der Klavierstimmer ist gerade bei uns!“ An den Oktavklängen im Hintergrund höre ich, dass er schon vor einer Weile begonnen zu haben scheint.
Kopfschüttelnd verlasse ich das Büro und renne nach Hause.
Tatsächlich macht sich an unserem Klavier gerade Stanislav Fedschenko zu schaffen, von dem ich vor zwei Jahren das Instrument gekauft hatte. Der dicke Mann mit Glatze, rundem Bauch und kleinen, flink wuselnden Wurstfingern ist das genaue Gegenteil zu dem hageren, durchgeistigten, bedächtigen und nun leider toten Sergej Okladnikov.
„Guten Tag“, versuche ich meinen Ärger zu unterdrücken, „ich hatte Sie gar nicht bestellt, sondern mich bei Ihnen lediglich telefonisch nach dem Preis erkundigt!“
„Ich habe nur jetzt und heute Zeit, dir zu helfen“, sagt Stanislav, „ich bin sehr beschäftigt.“
In nur anderthalb Stunden leimt er Hämmerchen neu an, biegt Federchen gerade, putzt die Klaviatur und  stimmt das Klavier komplett durch. Okladnikov hatte nur für das Stimmen mindestens die doppelte Zeit gebraucht.
„Ich danke Ihnen“, sage ich, obwohl das Klavier genauso unsauber klingt wie vorher, nur anders. Zum Glück haben nicht alle so überempfindliche Ohren wie ich.
„Wenn du mich wieder brauchst, melde dich“, sagt er und reicht mir seine Wursthand.