Donnerstag, 31. Oktober 2019

Jakutsk


Eines Abends besteige ich in Ulan-Ude ein kleines Propellerflugzeug des kanadischen Herstellers Bombardier. Mein Platz ist etwa in der Mitte der nur zwölf Sitzreihen am Fenster unter dem Flügel. Neben mir sind die Räder und, etwas weiter vorn, ein vom Scheinwerfer angestrahltes Propellerblatt, das sich nach dem Anspringen der Motoren in einen Lichtkreis verwandelt und nach dem Aufstieg in die sibirische Nacht gänzlich unsichtbar wird. Drei Stunden später und anderthalb tausend Kilometer weiter nordöstlich landen wir in Jakutsk. Zwei kleine jakutische Deutsch-Studentinnen holen mich vom Flughafen ab und bringen mich ins Wohnheim.
Jakutsk unterscheidet sich von anderen mir bekannten russischen Großstädten in drei Punkten. Aufgrund des Dauerfrostbodens verlaufen alle Fernwärme-Heizungsrohre überirdisch. Wie ein immer präsentes Skelett verlaufen sie entlang der Plattenbauten, Fußwege und Straßen, mal direkt auf der Erde, mal hoch oben auf Betonpfeilern, hier ohne Isolierung, dort eingepackt in von weißem Tuch umhüllten Schaumstoff. Außerdem stehen alle Häuser auf Stelzen, sichtbaren oder unter einer Verkleidung verborgenen. Eingänge sind deshalb nie zu ebener Erde, sondern ein, zwei Meter oberhalb durch eine Außentreppe zu erreichen. Und, ein dritter wichtiger Unterschied: Jakutsk hat keinen Bahnhof. Es ist die größte russische Stadt, die nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossen ist.
Durch Sibirien verlaufen drei große Bahnlinien: die populäre Transsibirische Eisenbahn, die den Baikalsee südlich umrundet, unweit der chinesischen Grenze weitergeht und in Wladiwostok endet. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich davon die BAM, die Baikal-Amur-Magistrale, errichtet durch unwegsames Niemandsland in der Hoffnung auf eine nachfolgende Erschließung des Rohstoffreichtums und als Alternative zur Transsib im Falle einer Zuspitzung des früheren Konfliktes mit China, sollte die Grenzregion plötzlich zum Frontgebiet werden. Erlebte die Transsibirische Eisenbahn ihre Eröffnung bereits vor über hundert Jahren, so wurde die BAM erst in den Achtzigern mithilfe von enthusiastischen Arbeitskräften aus dem sozialistischen Ausland fertiggestellt. Das dritte und jüngste Bahnprojekt ist die AJAM, die Amur-Jakutische Magistrale, die nicht von West nach Ost, sondern von Süd nach Nord verläuft, vom Amurgebiet nach Jakutien. In diesem Sommer erst wurde der Bahnhof Nizhnij Bestjách am Fluss Lena für den Personenverkehr freigegeben und der Streckenbau damit abgeschlossen, welcher ähnlich der BAM unter schwierigsten klimatischen Bedingungen auf unwirtlichem Dauerfrostboden erfolgte. Vom kleinen Ort Nizhnij Bestjach bis in die Gebietshauptstadt Jakutsk sind es nur ein paar Kilometer. Zwischen ihnen liegt der Fluss Lena, drei Kilometer breit, und bisher hat sich noch niemand getraut, die hier erforderliche gigantische Eisenbahnbrücke zu errichten, in einer Gegend, wo der Winter fast neun Monate dauert und die Temperaturen im Januar minus fünfzig unterschreiten.
Jakutsk begrüßt mich mit einer geschlossenen Schneedecke und minus zehn Grad. Obwohl der globale Klimawandel in den russischen Medien fast keine Rolle spielt und es als unseriös gilt, ihn als menschengemacht darzustellen, sind seine Auswirkungen auch hier zu spüren. So warm war es Ende Oktober noch nie, sagen die Einheimischen, es sollte mindestens doppelt so kalt sein. Ich bin eingeladen worden, um an den „Deutschen Tagen“ mitzuwirken, die an verschiedenen Orten stattfinden: im Kino zeigt man „Toni Erdmann“ im Original (wo allerdings mehr Englisch als Deutsch gesprochen wird), im Konzertsaal spielt man Beethoven und Brahms (Jakutsk hat tatsächlich ein großes Sinfonieorchester), in der Nationalbibliothek gibt es eine Ausstellung mit wertvollen alten Büchern, ein Geschenk der inzwischen über neunzigjährigen deutschen Ethnologin Ulla Johannsen, die durch ihre Erforschung der jakutischen Volkskultur in akademischen Kreisen fast eine Art Heldenstatus erlangt hat. In einem Seminar an der Universität bringe ich Studenten bei, Fraktur zu lesen und Kurrentschrift zu schreiben:  deutsche Sprachgeschichte lebendig machen könnte doch interessant sein – und tatsächlich habe ich die Aufmerksamkeit der meisten auf meiner Seite. Damit es ein wenig authentischer wird, teile ich Füllfederhalter aus – um es nicht zu kompliziert zu machen, keine zum Eintunken mit Tintenfass, sondern moderne mit Patronen. Die jungen Leute halten zum ersten Mal einen Füller in der Hand, manche umklammern ihn auf ganz eigentümliche Weise mit den handflächennahen Fingergliedern und stellen ihn senkrecht aufs Papier, so, wie sie auch den Kuli halten. Ich vermute, in der nächsten oder übernächsten Generation wird die Kulturtechnik des Mit-der-Hand-Schreibens vollends ausgestorben sein, zumindest in den fortschrittlichen, digitalisierten Ländern.
Die Jakuten sind neben den Burjaten das größte indigene Volk Sibiriens, von beiden gibt es etwa eine halbe Million Menschen. In Jakutsk höre ich sehr viel mehr Jakutisch auf der Straße als Burjatisch in Ulan-Ude, es scheint, dass die Jakuten weniger russifiziert sind und ihre Nationalsprache besser bewahren konnten – vielleicht hängt es mit ihrer abgeschiedenen geografischen Lage zusammen. Die zierliche, hübsche Jakutin, die mich durch das Museum der Maultrommeln der Völker der Welt führt, klagt trotzdem darüber, dass Jakutisch an den Schulen keine Pflichtsprache mehr und somit in den privaten Bereich abgedrängt ist. Meiner Frau erfülle ich einen Wunsch und kaufe ihr im Museum eine jakutische Maultrommel, ein hier sehr verbreitetes Volksinstrument. Abends besuche ich zum ersten Mal ein Maultrommelkonzert und höre ein Maultrommelorchester.
Jakutien ist so groß wie Indien, hat aber tausendmal weniger Einwohner. Wie gern würde ich noch nach Werchojansk oder Oimjakon reisen, die sich um den Titel Kältepol aller bewohnten Gebiete der Erde streiten, oder nach Mirnyj, wo der Diamantenabbau einen gigantischen künstlichen Krater zurückgelassen hat, oder an den Arktischen Ozean, wo über der Tundra jetzt schon die Sonne kaum noch aufgeht, die ewige Polarnacht bevorsteht und wo – wie ich im Mammut-Museum erfahren konnte – prähistorische Tierknochen praktisch an der Oberfläche herumliegen. Aber das Leben ist zu kurz, um ganz Russland zu umarmen. Es wartet der Rückflug an den Baikalsee.

Häuser auf Stelzen und überirdische Fernwärme-Rohre


Maultrommelmuseum (oben) und Maultrommelkonzert (unten)



"Wer steht hinter Greta Thunberg?  [...] Westliche Politiker interessieren sich nicht für die wissenschaftliche Wahrheit" In Russland wird die These vom menschengemachten Klimawandel angezweifelt. Sie diene nur dazu, den Einfluss des Westens in der Welt zu verstärken und das vom Export fossiler Rohstoffe lebende Russland zu ruinieren