Eines Abends besteige ich in Ulan-Ude ein kleines
Propellerflugzeug des kanadischen Herstellers Bombardier. Mein Platz ist etwa in der Mitte der nur zwölf
Sitzreihen am Fenster unter dem Flügel. Neben mir sind die Räder und, etwas
weiter vorn, ein vom Scheinwerfer angestrahltes Propellerblatt, das sich nach
dem Anspringen der Motoren in einen Lichtkreis verwandelt und nach dem Aufstieg
in die sibirische Nacht gänzlich unsichtbar wird. Drei Stunden später und
anderthalb tausend Kilometer weiter nordöstlich landen wir in Jakutsk. Zwei
kleine jakutische Deutsch-Studentinnen holen mich vom Flughafen ab und bringen
mich ins Wohnheim.
Jakutsk unterscheidet sich von anderen mir
bekannten russischen Großstädten in drei Punkten. Aufgrund des Dauerfrostbodens
verlaufen alle Fernwärme-Heizungsrohre überirdisch. Wie ein immer präsentes Skelett
verlaufen sie entlang der Plattenbauten, Fußwege und Straßen, mal direkt auf
der Erde, mal hoch oben auf Betonpfeilern, hier ohne Isolierung, dort
eingepackt in von weißem Tuch umhüllten Schaumstoff. Außerdem stehen alle
Häuser auf Stelzen, sichtbaren oder unter einer Verkleidung verborgenen.
Eingänge sind deshalb nie zu ebener Erde, sondern ein, zwei Meter oberhalb
durch eine Außentreppe zu erreichen. Und, ein dritter wichtiger Unterschied:
Jakutsk hat keinen Bahnhof. Es ist die größte russische Stadt, die nicht an das
Eisenbahnnetz angeschlossen ist.
Durch Sibirien verlaufen drei große Bahnlinien: die
populäre Transsibirische Eisenbahn,
die den Baikalsee südlich umrundet, unweit der chinesischen Grenze weitergeht
und in Wladiwostok endet. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich davon die BAM, die Baikal-Amur-Magistrale, errichtet durch unwegsames Niemandsland in
der Hoffnung auf eine nachfolgende Erschließung des Rohstoffreichtums und als
Alternative zur Transsib im Falle einer
Zuspitzung des früheren Konfliktes mit China, sollte die Grenzregion plötzlich
zum Frontgebiet werden. Erlebte die Transsibirische
Eisenbahn ihre Eröffnung bereits vor
über hundert Jahren, so wurde die BAM
erst in den Achtzigern mithilfe von enthusiastischen Arbeitskräften aus dem
sozialistischen Ausland fertiggestellt. Das dritte und jüngste Bahnprojekt ist
die AJAM, die Amur-Jakutische Magistrale, die nicht von West nach Ost, sondern
von Süd nach Nord verläuft, vom Amurgebiet nach Jakutien. In diesem Sommer erst
wurde der Bahnhof Nizhnij Bestjách am Fluss Lena für den Personenverkehr
freigegeben und der Streckenbau damit abgeschlossen, welcher ähnlich der BAM
unter schwierigsten klimatischen Bedingungen auf unwirtlichem Dauerfrostboden
erfolgte. Vom kleinen Ort Nizhnij Bestjach bis in die Gebietshauptstadt Jakutsk
sind es nur ein paar Kilometer. Zwischen ihnen liegt der Fluss Lena, drei
Kilometer breit, und bisher hat sich noch niemand getraut, die hier erforderliche
gigantische Eisenbahnbrücke zu errichten, in einer Gegend, wo der Winter fast
neun Monate dauert und die Temperaturen im Januar minus fünfzig unterschreiten.
Jakutsk begrüßt mich mit einer geschlossenen
Schneedecke und minus zehn Grad. Obwohl der globale Klimawandel in den
russischen Medien fast keine Rolle spielt und es als unseriös gilt, ihn als menschengemacht darzustellen, sind seine Auswirkungen auch hier zu
spüren. So warm war es Ende Oktober noch nie, sagen die Einheimischen, es
sollte mindestens doppelt so kalt sein. Ich bin eingeladen worden, um an den
„Deutschen Tagen“ mitzuwirken, die an verschiedenen Orten stattfinden: im Kino
zeigt man „Toni Erdmann“ im Original (wo allerdings mehr Englisch als Deutsch
gesprochen wird), im Konzertsaal spielt man Beethoven und Brahms (Jakutsk hat
tatsächlich ein großes Sinfonieorchester), in der Nationalbibliothek gibt es
eine Ausstellung mit wertvollen alten Büchern, ein Geschenk der inzwischen über
neunzigjährigen deutschen Ethnologin Ulla Johannsen, die durch ihre Erforschung
der jakutischen Volkskultur in akademischen Kreisen fast eine Art Heldenstatus
erlangt hat. In einem Seminar an der Universität bringe ich Studenten bei, Fraktur zu lesen und Kurrentschrift zu schreiben: deutsche Sprachgeschichte lebendig machen
könnte doch interessant sein – und tatsächlich habe ich die Aufmerksamkeit der
meisten auf meiner Seite. Damit es ein wenig authentischer wird, teile ich
Füllfederhalter aus – um es nicht zu kompliziert zu machen, keine zum Eintunken
mit Tintenfass, sondern moderne mit Patronen. Die jungen Leute halten zum
ersten Mal einen Füller in der Hand, manche umklammern ihn auf ganz
eigentümliche Weise mit den handflächennahen Fingergliedern und stellen ihn
senkrecht aufs Papier, so, wie sie auch den Kuli halten. Ich vermute, in der
nächsten oder übernächsten Generation wird die Kulturtechnik des
Mit-der-Hand-Schreibens vollends ausgestorben sein, zumindest in den
fortschrittlichen, digitalisierten Ländern.
Die Jakuten sind neben den Burjaten das größte
indigene Volk Sibiriens, von beiden gibt es etwa eine halbe Million Menschen.
In Jakutsk höre ich sehr viel mehr Jakutisch auf der Straße als Burjatisch in
Ulan-Ude, es scheint, dass die Jakuten weniger russifiziert sind und ihre
Nationalsprache besser bewahren konnten – vielleicht hängt es mit ihrer
abgeschiedenen geografischen Lage zusammen. Die zierliche, hübsche Jakutin, die
mich durch das Museum der Maultrommeln
der Völker der Welt führt, klagt trotzdem darüber, dass Jakutisch an den
Schulen keine Pflichtsprache mehr und somit in den privaten Bereich abgedrängt ist.
Meiner Frau erfülle ich einen Wunsch und kaufe ihr im Museum eine jakutische
Maultrommel, ein hier sehr verbreitetes Volksinstrument. Abends besuche ich zum
ersten Mal ein Maultrommelkonzert und höre ein Maultrommelorchester.
Jakutien ist so groß wie Indien, hat aber
tausendmal weniger Einwohner. Wie gern würde ich noch nach Werchojansk oder Oimjakon
reisen, die sich um den Titel Kältepol
aller bewohnten Gebiete der Erde streiten, oder nach Mirnyj, wo der
Diamantenabbau einen gigantischen künstlichen Krater zurückgelassen hat, oder an
den Arktischen Ozean, wo über der Tundra jetzt schon die Sonne kaum noch
aufgeht, die ewige Polarnacht bevorsteht und wo – wie ich im Mammut-Museum
erfahren konnte – prähistorische Tierknochen praktisch an der Oberfläche herumliegen.
Aber das Leben ist zu kurz, um ganz Russland zu umarmen. Es wartet der Rückflug
an den Baikalsee.
Häuser auf Stelzen und überirdische Fernwärme-Rohre |
Maultrommelmuseum (oben) und Maultrommelkonzert (unten) |