Aus dem weiß gekalkten Ofen tönt geheimnisvolles
Prasseln und Rauschen. Die aufgehende rote Sonne wirft ihre Strahlen durch die
Fenster in das aus dicken Balken konstruierte Holzhaus, dessen blau gestrichene
Bretterdecke so hoch ist, dass auch ein groß gewachsener Mensch im Stehen sie
nicht berühren kann, wenn er die Hand nach oben ausstreckt. Draußen herrscht
Stille, das Schweigen fernab der Großstadt, unterbrochen nur von ein paar
Viehlauten. Das sandige Grau des Bodens ist von einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
In den morgendlichen Minusgraden vor dem Haus dreht und streckt sich eine
drahtige kleine Frau bei ihrem täglichen Yoga-Ritual. Ich lehne mich an die
Ofenwand und schreibe Tagebuch.
Wir sind zu Gast bei Natalja in Mogsochón. Erst war
die Fahrt über guten Asphalt gegangen, vorbei an lichten Nadelwäldern mit von
früheren Unterholzbränden verkohlten Stämmen, dann über schlechten Asphalt
durch eine Dunstglocke vorbei an gerade brennenden Wäldern und schließlich auf
sandiger Piste durch die Steppe. Nach vier Stunden Kurs Richtung Osten dann das
Dorf. Natalja ist Russin, alleinstehend, siebenundvierzig Jahre alt und vor
zwei Jahren aus der Stadt in das Siebenhundert-Seelen-Dorf gezogen. Hier
arbeitet sie als Englischlehrerin an der kleinen Schule, die ihren Lehrkräften
neben dem knapp über dem Existenzminimum liegenden Gehalt noch Brennholz und
Kartoffeln zur Verfügung stellt und Natalja auch mit Fleisch versorgen würde,
wenn sie nicht Vegetarierin wäre. Gestern hatte es in der Schule ein besonderes
Ereignis gegeben: English Club
verkündet das handgemalte Plakat an der Klassenzimmertür, Special Guest: Thomas Ranft.
Ich hatte meinen geschenkegefüllten Rucksack mit deutschen Schreibblöcken,
Kulis und Ansteckern geschultert und war zusammen mit meiner Frau unserer Gastgeberin
gefolgt, im kalten Herbstwind über die sandigen Dorfstraßen zu ihrem
Arbeitsplatz.
Natalja ist nach Mogsochon gezogen, um etwas zu
tun, womit sich freiwillig die allerwenigsten Russen beschäftigen: die Sprache
eines der Minderheitenvölker zu lernen, die in großer Vielfalt das Territorium
der Russischen Föderation besiedeln. In Mogsochon ist das Burjatische im Alltag
sehr lebendig und noch nicht durch das Russische verdrängt wie in Ulan-Ude, wo
die meisten Burjaten die Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr sprechen. Trotzdem
könne man zusehen, sagt Natalja, wie Burjatisch auch auf den Dörfern zurückgeht
und die Kinder es von Jahrgang zu Jahrgang schlechter beherrschen. Die Lehrerin
hat eine Mission, sie möchte ein modernes Lehrbuch der burjatischen
Alltagssprache erstellen und so einen Beitrag zum Erhalt dieser der
mongolischen verwandten Kultur leisten.
Die Kinder an der Schule hatten mir auf Englisch
erzählt, wie sie heißen und wie alt sie sind, dann hatten wir „Are you
sleeping, Brother John“ gesungen. Sprachen unterrichten sei hier eine mühevolle
Angelegenheit, sagt Natalja, geistige Arbeit stünde generell nicht hoch im
Kurs, die meisten Schüler treiben in der Freizeit Sport und helfen ihren Eltern
in der Landwirtschaft oder sitzen zuhause mit ihren Gadgets. Die meisten waren noch nie in einem Museum oder einem
Konzert. Als ich die Gitarre herausgeholt und ein Lied von Reinhard Mey vorgetragen
hatte, filmten mich ein halbes Dutzend Smartphones.
Seit einer Woche hält unsere Gastgeberin auch
Deutschstunden. Wie in vielen anderen burjatischen Schulen wurde in der neunten
Klasse eine zweite Fremdsprache eingeführt, da in Kürze eine Anweisung des
Bildungsministeriums erwartet wird, die lauten könnte, dass die Neuntklassen-Zwischenzeugnisse
ohne Note in einer zweiten Fremdsprache ungültig sind. Ausgebildete Lehrer
dafür gibt es keine, es werden die herangezogen, die eben da sind. Also unterrichtet
Natalja nun Deutsch, obwohl sie es selbst nicht besonders gut kann. Nach der
Begegnung mit einem echten Deutschen könnte wenigstens die Lernmotivation der
Schüler sprunghaft ansteigen, hofft sie.
Im Haus hängt ein Stofftuch aus Nepal mit einer
Zeichnung des Avalokiteshvara, der Bodhisattva des universellen Mitgefühls.
Es wirkt aufgeräumt, sauber und ein wenig spartanisch. Gestern hatte unsere
kleine Maja mit Vergnügen auf der hohen, schmalen, ins Wohnzimmer hinein
ragenden weißen Wand gesessen, in welcher der gemauerte Ofen durch die
Küchenwand hindurch ausläuft, bis ihr das Hinterteil vor Hitze wehzutun begann.
Natalja wohnt hier kostenlos. Es sei überhaupt kein Problem, in einem Dorf ein
leerstehendes Haus zum Wohnen aufzutreiben, sagt sie, die Besitzer sind froh,
wenn jemand durch seine Anwesenheit und regelmäßiges Heizen den Verfall
verlangsamt.
Das Prasseln der Holzscheite weicht dem Blubbern
des nun zum Kochen gebrachten Wassers aus dem riesigen Topf auf der Herdplatte.
Ich lege das Tagebuch zur Seite und setze Maja auf ihren Wunsch hin noch einmal
auf die schmale hohe Ofenwand. Nach dem Frühstück brechen wir zu einem
Spaziergang auf. Vorbei an dem im Hof zwischen Garage und Banja-Gebäude vor
sich hinrostenden alten Moskwitsch
mit noch sowjetischem Kennzeichen gehen wir zum Fluss, auf dem schon die Schugá genannten ersten Eisstücke
treiben. Wind pfeift über die kahlen Hügel, die gleißende Sonne schmilzt Löcher
in den dünnen Schnee. Weil die Trinkwasserversorgung aus Brunnen wegen des
tiefen Grundwassers nicht so einfach sei, würden die Leute im Winter Eisblöcke
aus dem Fluss schneiden und auf ihr Grundstück karren, erfahren wir. Wovon die
Menschen so leben? Private Viehhaltung, sonst gibt es eigentlich nichts, meint
Natalja, höchstens Jagd und Holzeinschlag, ziemlich wild, um irgendwelche
Gesetze und Genehmigungen kümmere sich niemand.
Mittags brechen wir auf, um vor der Dunkelheit in
Ulan-Ude zu sein und noch Zeit für einen Zwischenstopp an einigen weiß
glänzenden, quadratischen buddhistischen Stupas
und einem riesigen, im Freien unter einer Überdachung sitzenden Buddha-Statue
im Ort Kishinga zu haben. Die Gegend hier gilt als eine der buddhistischsten
Regionen in Burjatien, überall leuchten auf Hügeln die heiligen Bauten. Ich
folge Nataljas Rat und tanke nicht in der in schlechtem Ruf stehenden
Dorftankstelle. Erst hier in Russland habe ich gelernt, dass es auch schlechtes Benzin gibt und die angegebene Oktanzahl keineswegs stimmen muss.
Mir gefällt die Vorstellung, in einer kulturfernen,
abgelegenen Weltgegend als Lehrer auf dem Dorf zu arbeiten. Der Lehrkräftemangel
hier ist enorm. Ich würde Cello und Klavier mitbringen und nebenbei eine kleine
Musikschule gründen. Die Einheimischen könnten mir Landwirtschaft beibringen
und wie man bei minus fünfundvierzig Grad ein Haus instand hält. Ab nächstes
Jahr tritt in Russlands Fernem Osten das Programm Sémskij Utschítel in
Kraft: wer sich für fünf Jahre an einer Dorfschule verpflichtet, bekommt
zusätzlich zum regulären Gehalt zwei Millionen Rubel. Leider nicht ich: die Förderung erhalten nur Staatsbürger Russlands.