Dienstag, 22. Oktober 2019

Mogsochon



Aus dem weiß gekalkten Ofen tönt geheimnisvolles Prasseln und Rauschen. Die aufgehende rote Sonne wirft ihre Strahlen durch die Fenster in das aus dicken Balken konstruierte Holzhaus, dessen blau gestrichene Bretterdecke so hoch ist, dass auch ein groß gewachsener Mensch im Stehen sie nicht berühren kann, wenn er die Hand nach oben ausstreckt. Draußen herrscht Stille, das Schweigen fernab der Großstadt, unterbrochen nur von ein paar Viehlauten. Das sandige Grau des Bodens ist von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. In den morgendlichen Minusgraden vor dem Haus dreht und streckt sich eine drahtige kleine Frau bei ihrem täglichen Yoga-Ritual. Ich lehne mich an die Ofenwand und schreibe Tagebuch.
Wir sind zu Gast bei Natalja in Mogsochón. Erst war die Fahrt über guten Asphalt gegangen, vorbei an lichten Nadelwäldern mit von früheren Unterholzbränden verkohlten Stämmen, dann über schlechten Asphalt durch eine Dunstglocke vorbei an gerade brennenden Wäldern und schließlich auf sandiger Piste durch die Steppe. Nach vier Stunden Kurs Richtung Osten dann das Dorf. Natalja ist Russin, alleinstehend, siebenundvierzig Jahre alt und vor zwei Jahren aus der Stadt in das Siebenhundert-Seelen-Dorf gezogen. Hier arbeitet sie als Englischlehrerin an der kleinen Schule, die ihren Lehrkräften neben dem knapp über dem Existenzminimum liegenden Gehalt noch Brennholz und Kartoffeln zur Verfügung stellt und Natalja auch mit Fleisch versorgen würde, wenn sie nicht Vegetarierin wäre. Gestern hatte es in der Schule ein besonderes Ereignis gegeben: English Club verkündet das handgemalte Plakat an der Klassenzimmertür, Special Guest: Thomas Ranft. Ich hatte meinen geschenkegefüllten Rucksack mit deutschen Schreibblöcken, Kulis und Ansteckern geschultert und war zusammen mit meiner Frau unserer Gastgeberin gefolgt, im kalten Herbstwind über die sandigen Dorfstraßen zu ihrem Arbeitsplatz.
Natalja ist nach Mogsochon gezogen, um etwas zu tun, womit sich freiwillig die allerwenigsten Russen beschäftigen: die Sprache eines der Minderheitenvölker zu lernen, die in großer Vielfalt das Territorium der Russischen Föderation besiedeln. In Mogsochon ist das Burjatische im Alltag sehr lebendig und noch nicht durch das Russische verdrängt wie in Ulan-Ude, wo die meisten Burjaten die Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr sprechen. Trotzdem könne man zusehen, sagt Natalja, wie Burjatisch auch auf den Dörfern zurückgeht und die Kinder es von Jahrgang zu Jahrgang schlechter beherrschen. Die Lehrerin hat eine Mission, sie möchte ein modernes Lehrbuch der burjatischen Alltagssprache erstellen und so einen Beitrag zum Erhalt dieser der mongolischen verwandten Kultur leisten.
Die Kinder an der Schule hatten mir auf Englisch erzählt, wie sie heißen und wie alt sie sind, dann hatten wir „Are you sleeping, Brother John“ gesungen. Sprachen unterrichten sei hier eine mühevolle Angelegenheit, sagt Natalja, geistige Arbeit stünde generell nicht hoch im Kurs, die meisten Schüler treiben in der Freizeit Sport und helfen ihren Eltern in der Landwirtschaft oder sitzen zuhause mit ihren Gadgets. Die meisten waren noch nie in einem Museum oder einem Konzert. Als ich die Gitarre herausgeholt und ein Lied von Reinhard Mey vorgetragen hatte, filmten mich ein halbes Dutzend Smartphones.
Seit einer Woche hält unsere Gastgeberin auch Deutschstunden. Wie in vielen anderen burjatischen Schulen wurde in der neunten Klasse eine zweite Fremdsprache eingeführt, da in Kürze eine Anweisung des Bildungsministeriums erwartet wird, die lauten könnte, dass die Neuntklassen-Zwischenzeugnisse ohne Note in einer zweiten Fremdsprache ungültig sind. Ausgebildete Lehrer dafür gibt es keine, es werden die herangezogen, die eben da sind. Also unterrichtet Natalja nun Deutsch, obwohl sie es selbst nicht besonders gut kann. Nach der Begegnung mit einem echten Deutschen könnte wenigstens die Lernmotivation der Schüler sprunghaft ansteigen, hofft sie.
Im Haus hängt ein Stofftuch aus Nepal mit einer Zeichnung des Avalokiteshvara, der Bodhisattva des universellen Mitgefühls. Es wirkt aufgeräumt, sauber und ein wenig spartanisch. Gestern hatte unsere kleine Maja mit Vergnügen auf der hohen, schmalen, ins Wohnzimmer hinein ragenden weißen Wand gesessen, in welcher der gemauerte Ofen durch die Küchenwand hindurch ausläuft, bis ihr das Hinterteil vor Hitze wehzutun begann. Natalja wohnt hier kostenlos. Es sei überhaupt kein Problem, in einem Dorf ein leerstehendes Haus zum Wohnen aufzutreiben, sagt sie, die Besitzer sind froh, wenn jemand durch seine Anwesenheit und regelmäßiges Heizen den Verfall verlangsamt.
Das Prasseln der Holzscheite weicht dem Blubbern des nun zum Kochen gebrachten Wassers aus dem riesigen Topf auf der Herdplatte. Ich lege das Tagebuch zur Seite und setze Maja auf ihren Wunsch hin noch einmal auf die schmale hohe Ofenwand. Nach dem Frühstück brechen wir zu einem Spaziergang auf. Vorbei an dem im Hof zwischen Garage und Banja-Gebäude vor sich hinrostenden alten Moskwitsch mit noch sowjetischem Kennzeichen gehen wir zum Fluss, auf dem schon die Schugá genannten ersten Eisstücke treiben. Wind pfeift über die kahlen Hügel, die gleißende Sonne schmilzt Löcher in den dünnen Schnee. Weil die Trinkwasserversorgung aus Brunnen wegen des tiefen Grundwassers nicht so einfach sei, würden die Leute im Winter Eisblöcke aus dem Fluss schneiden und auf ihr Grundstück karren, erfahren wir. Wovon die Menschen so leben? Private Viehhaltung, sonst gibt es eigentlich nichts, meint Natalja, höchstens Jagd und Holzeinschlag, ziemlich wild, um irgendwelche Gesetze und Genehmigungen kümmere sich niemand.
Mittags brechen wir auf, um vor der Dunkelheit in Ulan-Ude zu sein und noch Zeit für einen Zwischenstopp an einigen weiß glänzenden, quadratischen buddhistischen Stupas und einem riesigen, im Freien unter einer Überdachung sitzenden Buddha-Statue im Ort Kishinga zu haben. Die Gegend hier gilt als eine der buddhistischsten Regionen in Burjatien, überall leuchten auf Hügeln die heiligen Bauten. Ich folge Nataljas Rat und tanke nicht in der in schlechtem Ruf stehenden Dorftankstelle. Erst hier in Russland habe ich gelernt, dass es auch schlechtes Benzin gibt und die angegebene Oktanzahl keineswegs stimmen muss.
Mir gefällt die Vorstellung, in einer kulturfernen, abgelegenen Weltgegend als Lehrer auf dem Dorf zu arbeiten. Der Lehrkräftemangel hier ist enorm. Ich würde Cello und Klavier mitbringen und nebenbei eine kleine Musikschule gründen. Die Einheimischen könnten mir Landwirtschaft beibringen und wie man bei minus fünfundvierzig Grad ein Haus instand hält. Ab nächstes Jahr tritt in Russlands Fernem Osten das Programm Sémskij Utschítel in Kraft: wer sich für fünf Jahre an einer Dorfschule verpflichtet, bekommt zusätzlich zum regulären Gehalt zwei Millionen Rubel. Leider nicht ich: die Förderung erhalten nur Staatsbürger Russlands.