Freitag, 27. September 2019

Lektüre



 Der Herbst ist da. Die schmale Übergangszeit zwischen T-Shirt-Hitze und Daunenjacken-Kälte währt  nur wenige Wochen. Für Maja, die nun in die dritte Klasse geht, beginnt die Schule jeden Tag um zwei Uhr nachmittags. Wenn sie um kurz vor sechs Uhr nach Hause kommt, ist gerade noch genug Zeit, um für ein Stündchen mit anderen Kindern auf dem großen Spielplatz hinter dem Haus herumzutoben, bevor es dunkel und kalt wird und das Abendprogramm beginnt: Abendessen, Klavierüben, Hausaufgaben machen oder das kleine Einmaleins wiederholen, Zähneputzen und ab zum Vorlesen ins Bett.
  Während es in Mathematik gerade für eine Drei reicht, bringt Maja in den Fächern Literatur und Russische Sprache meist Fünfen nach Hause, also Bestnoten. Ich bin glücklich darüber, dass ich jeden Abend auf Russisch etwas vorlesen kann, bemühe mich um Ausdruck und mache nur noch selten Betonungsfehler, während Maja gebannt lauscht, zeichnet oder strickt: ihre neueste, von der Mutter erlernte handwerkliche Errungenschaft. Die Werke Astrid Lindgrens erfreut sich hier ähnlicher Beliebtheit wie in Deutschland und sind alle ins Russische übersetzt, in unserem Bücherregal reihen sich „Pippi Langstrumpf“, „Karlsson vom Dach“, „Ronja Räubertochter“, "Die Brüder Löwenherz" und „Mio, mein Mio“. Auch in russischen Buchhandlungen kann man Bücher bestellen. Die Lieferzeit beträgt allerdings nicht vierundzwanzig Stunden, sondern zwei Wochen.
  Um einundzwanzig Uhr ist Feierabend für die Kleine und es beginnt das Erwachsenenprogramm: meine Frau und ich lesen uns gegenseitig Tolstoj vor. Das Klassiker-Fieber hat mich gepackt; solange ich noch hier bin und mich der russische Sprachgeist umflort, will ich´s wissen: die komplette „Anna Karenina“  ist geschafft – achthundert Seiten und gar nicht langweilig –, wir haben schreckliche Eifersucht in der „Kreutzersonate“ und fanatische Askese von „Vater Sergij“ erlebt, Tolstojs weise Schilderungen sterbender Menschen in „Der Tod des Iwan Iljitsch“ und „Herr und Knecht“ nachempfunden und sind jetzt bei „Krieg und Frieden“ angelangt. Nach dem ersten dreißig Mal Umblättern hält sich diesmal meine Begeisterung in Grenzen.  
  Zwischendurch zur Entspannung ein Blick in die russische Presse. „Wenn Hitler nicht die Juden umgebracht hätte, wäre er in Europa längst wieder anerkannt“, lese ich in der größten Wochenzeitung Argumenty i fakty, „und man würde zeigen, dass ihm nichts anderes übriggeblieben war, als die Bolschewisten zu überfallen. Denn als das Hauptübel in der Welt gilt heute Stalin.“ Und an anderer Stelle: „ ‚Jetzt herrschen Araber über uns‘ – Massenunruhen führen vor dreißig Jahren zum Ende der DDR“. Sechzig Prozent der Ostdeutschen hätten Sehnsucht nach dem Sozialismus, erfahre ich und lese von einem Pensionär, der seinen Enkeln erzählt, in welchem märchenhaften Land er lebte und wie reich alle gewesen seien.
  Mit fassungslosem Kopfschütteln lege ich die Zeitung aus der Hand. Dann doch lieber mit Tolstoj zurück in die Napoleonzeit. Noch tausenddreihundert Seiten.