Mittwoch, 6. November 2019

Nach Süden


  Die Stadt Ulan-Ude hat eine große Bedeutung als Eisenbahnknotenpunkt. Von der weiter nach Osten führenden Transsibirischen Eisenbahn zweigt hier die Transmongolische Bahn ab, die über Ulan-Bator nach Peking verläuft. Meinen bevorstehenden vierzigsten Geburtstag und unseren gerade zurückliegenden ersten Hochzeitstag möchten Niso und ich zum Anlass für eine Zugfahrt in die chinesische Hauptstadt nehmen, eine zweitägige Fahrt durch die Weiten der südburjatischen Steppe und das Nichts der mongolische Wüste bis hinein in die chinesischen Ballungszentren, wo sich ein Wolkenkratzer an den anderen reiht.
  Die Einreise in die Mongolei ist für uns visafrei. Eine sehr freundliche Burjatin in einem vollgestopften Büro an einem kleinen überfüllten Schreibtisch kümmert sich um die Beschaffung der Touristenvisa für China. Da Niso und ich unterschiedliche Staatsbürgerschaften haben, werden unsere Pässe per Express-Kurier in verschiedene Landesteile geschickt: Nisos Pass nach Westen, in das am nächsten gelegene chinesische Konsulat in Irkutsk. Mein Pass in den Osten, nach Wladiwostok, da der Irkutsker Konsul leider keine Visa an Nicht-Russen ausstellt.
  Nach zwei Wochen kommt mein Pass zurück, wie schade: ohne Visum. Leider wurde die Annahme in den Wladiwostok und auch in Chabarowsk verweigert, sagt die freundliche Burjatin und vermutet, es könne mit der Arbeitsüberlastung der Konsulate vor den chinesischen Nationalfeiertagen Anfang Oktober zu tun haben. Sie würde meinen Pass etwas später einfach nochmal hinschicken, dann wäre dort auch ein anderer, sicher besser gelaunter Konsul und es klappe bestimmt.
  Auch meine Frau bekommt zunächst kein Visum: sie möge sich bitte zu einem persönlichen Gespräch in Irkutsk einfinden. Grund ist ihr muslimisches Geburtsland Tadschikistan und die neuen chinesischen Vorschriften der Terror-Prävention.
  Also reist Niso mit dem Nachtzug nach Irkutsk und begibt sich zum chinesischen Konsulat. Ein kurzer Blick in ihr Gesicht überzeugt die Chinesen, dass sie es mit einer nicht-vollverschleierten, ungefährlichen Touristin zu tun haben. Ihr Pass wird angenommen und eine Woche später mit dem ersehnten Visum nach Ulan-Ude zurückgeschickt. Niso setzt sich in den Bus und ist schon nach weniger als einem Tag wieder zuhause: vierzehn Stunden Hin- und Rückfahrt, drei Stunden in Irkutsk.
  Unterdessen – in China wurden die pompösen Feiern zum siebzigsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik erfolgreich absolviert – fliegt mein Reisepass ein zweites Mal an die Pazifikküste, erst nach Wladiwostok, dann nach Chabarowsk. Nach einer Woche bestellt mich die freundliche Burjatin in dem kleinen Büro wieder zu sich und händigt mir mit mitleidigem Blick das Dokument aus. Wieder kein Visum. Warum, wisse keiner, sofortige Ablehnung, mein deutscher Pass wurde nicht einmal aufgeschlagen. Es täte ihr wirklich sehr leid.
  Niso und ich haben zu sehr der transmongolischen Eisenbahnfahrt entgegengefiebert, als dass wir zuhause bleiben würden. Auch Maja, die gerade Schulferien hat, freut sich auf eine Woche Elternfrei bei Oma und Opa auf dem Dorf. Also besteigen wir trotzdem den Zug. Vor der Abreise schauen wir zur Einstimmung „Die Geschichte vom weinenden Kamel“. Unser neue Ziel heißt Sainshand, ein kleiner mongolischer Ort zweihundert Kilometer vor der chinesischen Grenze, inmitten der Wüste Gobi.