Samstag, 30. März 2019

Eiswunder, Industrieapokalypse und freundliche Straßenhunde – meine Gäste im Interview

Christiane und Jonathan, kurz vor eurer Abreise nach zwei Wochen Russland nun das Abschiedsinterview mit euch… Russland ist ja kein klassisches Reiseland für Deutsche, wenn man Leute fragt, ob sie schon mal in Russland waren, dann werden wahrscheinlich die meisten mit Nein antworten. Ist es zu Recht kein klassisches Urlaubsland, oder lohnt es sich nicht eigentlich doch, hinzufahren?
Joni: Mein Gefühl ist, dass es schon als Urlaubsland im Kommen ist, zumindest unter Studenten. Alle, denen wir von der Reise erzählt haben, waren da fast schon eifersüchtig drauf, besonders auf das Ereignis Transsib. Ich finde auf jeden Fall, dass es sich als Reiseland lohnt. Der Abenteuercharakter, den viele suchen, ist allein schon wegen der Sprachbarriere vorhanden.
Chrissi: Und das langsame, lange Reisen, was viele wollen – da eignet sich Russland auch gut, zumal wir auch positive Erfahrungen mit den Menschen gemacht haben. Die klassischen Reiseländer sind natürlich „westlicher“ Natur, wo die Kultur der deutschen ähnlicher ist…
Joni: …naja, und die touristische Infrastruktur ist natürlich noch sehr ausbaufähig, für bequemes Reisen ist Russland dann doch nicht so geeignet…
Wie seid ihr mit der Sprachbarriere umgegangen?
Chrissi: Improvisatorisch… wir haben viel mit Händen und Füßen kommuniziert, da fast kein Russe Deutsch oder Englisch kann, zumindest nicht die, denen wir auf unserem Weg begegnet sind. Ein paar Brocken Russisch haben wir uns angeeignet und ansonsten hektisch im Sprachführer geblättert…
Joni: …und längere Gespräche mit Google-Übersetzer geführt, was aber auch oft missverständlich war. Wenn wir was eingekauft haben, haben wir uns den Preis zeigen lassen, das funktioniert ganz gut.
Chrissi: Wenn man will, geht es irgendwie. Mit dem Sprachführer kann man Fragen stellen, aber die Antworten versteht man dann nicht.
Joni: Tatsächlich ist es sinnvoll, das kyrillische Alphabet zu können, und so ein paar Standardsachen, zum Beispiel „ich spreche kein Russisch“, „ich verstehe nicht“ und so ein paar Höflichkeitsfloskeln.
Spontan und ohne nachzudenken – ein Erlebnis, das euch besonders beeindruckt hat?
Chrissi: Die Datsche mit Banja und Filzstiefeln und im Winter grillen!
Joni: Eisgrotten und zugefrorener Baikal! Buddhisten, Straßenhunde, Goldzähne…
Auf der Datsche habt ihr ja so richtig die russische Gastfreundschaft erlebt…
Chrissi: Genau, mit vielen Dingen, die wir bei Dir nicht erlebt haben, da Du natürlich Deutscher bist und Dein Deutschsein hierher mitbringst…
Joni: …und keinen Alkohol trinkst…
Chrissi: …mit vielen Toasts, wobei es viele Regeln zu beachten gibt, jeder Toast hat irgendwie seine Legitimation, und absolut zwingend, dass die Flasche leer wird. Auch ungewöhnlich: Marmelade pur zum Tee gereicht, dann absolut klobige, aber sehr wärmende Filzstiefel; und die russische Saune, die Banja, die aus drei Räumen besteht: ein Vorraum, in dem Tee getrunken wird, der Waschraum, in dem man sich mit kaltem, lauwarmem oder warmem Wasser übergießen kann je nach Abhärtungsgrad, und der eigentliche Dampfraum.
Joni: In Deutschland würde man auch nicht alkoholisiert in die Sauna gehen!
Jetzt bitte jeder spontan ein Erlebnis, das euch befremdet hat oder sehr komisch anmutete!
Chrissi: Da muss ich erstmal nachdenken.
Joni: Da gab es mehrere Momente, aber zuerst fällt mir die Bilderausstellung im buddhistischen Tempel ein, wo wir zwar gesagt haben, dass wir die Sprache nicht sprechen, aber wir trotzdem zehn Minuten lang auf Russisch bequatscht wurden. Am Anfang haben wir noch gesagt „Ja nje ponimaju“, aber dann irgendwann sind wir doch ins Nicken abgedriftet - also mir war das sehr unangenehm.
Chrissi: Das im Konzert Leute hinter uns mitgesummt haben an einigen sehr emotionalen, tollen Stellen beim Tschaikowski.
Joni: Nee, das war beim Vivaldi…
Chrissi: …beim Tschaikowski auch…
Daran knüpfe ich gleich mal an: Ihr habt hier einiges an Kultur erlebt, Oper, Philharmonie, Auftritte in der kleinen Bahai-Gemeinde – was könnt ihr sagen, wie unterscheidet sich die russische Konzertkultur von der deutschen?
Chrissi: Da kann ich nur bestätigen, was Du ja auch schon oft geschrieben hast – nach Russland weiß man die deutsche Konzertkultur erst so richtig zu schätzen. Selbst in der Philharmonie, dem wichtigsten städtischen Konzerttraum, ist es nicht möglich, sich ganz der Musik hinzugeben, denn es herrscht immer eine leise Gesprächskulisse, natürlich im Flüsterton, aber gut hörbar, und wir haben erlebt, dass jemand ans Telefon ging. Die Leute applaudieren schon, wenn noch die letzten Töne erklingen.
Joni: Ich weiß nicht, ob das Meckern auf hohem Niveau ist, aber es gab ein paar Sachen, die ich wirklich ganz schlimm fand.
Schieß los!
Joni: Der Meister spielt Cello, ist ganz versunken in seinem Stück, und eine Frau filmt das – das ist ja schon bei uns unüblich – und schafft es dann tatsächlich, wahrscheinlich aus Versehen, die Aufnahme abzuspielen! Und dann hörte man das Cello in der Aufnahme, und der Meister hörte es wohl auch, weil die Frau in der ersten Reihe saß – er hörte sich selbst also spielen von vor dreißig Sekunden! Sie hat auch lange gebraucht, um das wieder auszumachen. In der Oper wurde aus Tetrapacks getrunken, Sechsjährige saßen vor Smartphones während der Aufführung…
Du warst ja das erste Mal in Russland, Joni. Welche der Vorstellungen, die Du von Russland hattest, wurden bestätigt und welche wurden widerlegt?
Joni: Bestätigt wurde, dass tatsächlich die wenigsten Englisch oder Deutsch sprechen. Naja, eine gewisse Grobheit ist den Leuten auch eigen, aber womit ich dann nicht gerechnet hatte, dass sich dann doch viele als sehr herzlich und nett erwiesen. Naja, und das Aussehen der Städte hatte ich mir schon ungefähr so vorgestellt, naja, so…(lacht)
Sprich es ruhig aus!
Joni: …irgendwie einfach, trist, industriell, graue Schlote… an wie vielen Fabriken wir vorbeigefahren sind, deren Schornsteine wie in der letzten postapokalyptischen Utopie da herausragen, das ist schon gruselig teilweise.
Ist es nicht auch so ein bisschen Industrieromantik? Kannst du mit dem Wort was anfangen? Gruselig, aber trotzdem irgendwie faszinierend.
Chrissi: Nee, also ich kann damit gar nichts anfangen, wenn das da so rausqualmt… Viele Stadtansichten wirken wie eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, in der einzelne Gegenstände mit grellen Farben eingefärbt wurden.
Joni: Doch, ja schon, ist was dran… Noch eine interessante Sache: ich glaube, es wird viel Wodka getrunken, aber ich habe das nie gesehen. Außer als wir es selbst praktiziert haben, habe ich nie jemanden trinken sehen.
Chrissi: Auf den Dörfern läuft immer mal jemand besoffen rum wie der, der uns fast ins Auto gelaufen wäre, aber getrunken wird wohl eher zuhause.
Joni: Es ist ja auch verboten, in der Öffentlichkeit zu trinken. Also, das Bild vom betrunkenen Russen mit der Wodkaflasche in der Hand hat sich nicht bestätigt. Alleine zu trinken scheint auch eher verpönt zu sein.
In der Öffentlichkeit wird dann umgefüllt, man trinkt den Wodka aus der Saftflasche, glaube ich, die Leute sind ja auch nicht ganz doof…Anderes Thema: Ihr seid in meinem Unterricht Studenten aus dem ersten Studienjahr begegnet, und selbst studiert ihr auch im zweiten Semester… wie war das für euch? Sind die russischen Studenten anders?
Chrissi: Natürlich auffallend war, dass sie sehr viel jünger sind als wir, zwischen 16 und 20, wohingegen sie bei uns zwischen 18 und 55 sind, der Durchschnitt so Ende 20, Anfang 30. Das hat sich natürlich im Verhalten geäußert, dass sie sehr schüchtern sind, viel Respekt vor dem Lehrer haben, sich nicht so profilieren oder aus sich rausgehen. Sie schreiben still mit, wenn Du was gefragt hast, wurde die Antwort kaum verständlich geflüstert, manche sagen gar nichts. Bei dem ersten Kurs war mein Eindruck, dass die Leute eigentlich gar keine Lust haben, dort zu sein, also völlig unmotiviert… aber das wirkte wohl nur so.
Joni: Ja, das wirkte wohl nur so, die wollen schon Deutsch lernen… Was eigentlich alle gesagt haben, war, dass sie ihre Stadt scheiße finden. Wenn man sie gefragt hat, was gefällt euch an Ulan-Ude, dann haben alle gekichert und den Kopf geschüttelt. Die wollen weg und den Westen kennenlernen und dafür lernen sie Deutsch. Es war jedenfalls interessant, den Unterricht kennenzulernen, ich glaube, sie können Dich gut leiden, Du giltst als cooler Dozent…
Woran meint ihr das gemerkt zu haben, dass sie mich gut leiden können?
Joni: Sie lachen, wenn Du was Lustiges sagst!
Chrissi: Was wahrscheinlich schon ganz mutig ist für sie. Im Unterricht wirkte es überhaupt nicht so, als hätten sie an uns Interesse, aber hinterher wollten alle ein Foto machen und das wurde gleich auf Instagram gepostet, das fand ich irgendwie befremdlich. Warum macht man ein Foto mit uns, wenn man kein Wort mit uns gewechselt hat? Sehen wir jetzt so exotisch aus?
Naja, nicht direkt exotisch, aber ein bisschen anders schon, Du mit entblößten Schultern und Joni mit Mütze heute – auf dem Foto erkennt man euch sofort als Ausländer, würde ich sagen. Ist ja auch nicht tragisch… Der Mut der Studenten hat nicht gereicht für ein lockeres Gespräch, aber er hat gereicht, um zu fragen, ob sie ein Foto machen dürfen. Ein erster Schritt immerhin. Was waren denn noch richtig schöne Erlebnisse?
Chrissi: Was mich richtig überrascht hat – es gibt ja viele Straßenhunde hier, aber die sind alle sehr freundlich und zurückhaltend. Sie haben Hunger und kommen an, und wenn man ihnen dann was abgibt, sind sie damit auch zufrieden und betteln nicht. Sie halten sich in der Nähe, aber betteln nicht. Nie hatte ich vor einem Angst. Sie lassen sich streicheln und sind alles andere als gefährlich.
Joni: Ich fand gut, dass es wenig andere Touristen gab – als Deutscher stört man sich im Ausland ja gern an anderen Deutschen zum Beispiel. Und wohl deshalb, weil wir oft die einzigen Touris waren, schienen viele Einheimische interessiert an uns und haben auch oft gelächelt.
Was würdet ihr Leuten raten, die eine Russlandreise planen, wie sollte man sich vorbereiten?
Joni: Etwas, das man auf keinen Fall tun sollte, großes Fettnäpfchen…
Chrissi: …nicht schneuzen vor anderen Leuten!
Joni: Das war wirklich dumm, das hätten wir wissen können. Leute, putzt euch nicht in Russland die Nase, das wird wohl als extrem eklig wahrgenommen.
Habt ihr denn ablehnende Reaktionen erlebt?
Chrissi: Komischerweise nicht so sehr, niemand hat gelacht, uns angestarrt oder was gesagt.
Joni: Die Leute haben sich wohl still in sich reingeekelt. Wir haben das Schneuzen im Zug wirklich die ganze Zeit durchgezogen…
Chrissi: Es lohnt sich wirklich, so weit in den Osten zu fahren, ich kann die Transsibirische Eisenbahn auch empfehlen, weil man dann natürlich auch ein ganz anderes Gefühl für die Entfernung bekommt. Es wird sich morgen sicher auch falsch anfühlen, so schnell wieder in Moskau zu sein. Ist zwar nicht so spektakulär, vier Tage im Zug, und es ergeben sich zwangsläufig Begegnungen, auch wenn man sie gar nicht sucht.
Joni: Sprachlich sollte man sich vorbereiten, das kyrillische Alphabet lernen… Und auch ohne den Vergleich zu haben, würde ich eine Reise an den Baikalsee nicht im Sommer, sondern im Winter empfehlen. Allein diese Eisgebilde! Das hätte ich nie geglaubt! Ich dachte, der Baikal ist zugefroren, und dann ist das wie ein Parkteich in Leipzig, da ist eben Eis. Aber nein, da kommt erstmal ein drei Meter hoher Rand mit Höhlen und Eiszapfen nach oben und unten plus ineinander verschachtelte Eisschollen mit klarem Eis, wo man zwei Meter runtergucken kann… Also, klare Empfehlung an dieser Stelle.
Worauf freut ihr euch am meisten, wenn ihr wieder in Deutschland seid?
Chrissi: Ich freue mich auf weiches Klopapier.
Joni: Ich freue mich auf weniger Sprachbarrieren und so ein paar Essens-Dinge, die wir hier nicht hatten.
Obwohl die vegane Ernährung ja auch hier geklappt hat.
Joni: Ja, aber es waren schon regelrechte Exkursionen, um Milchalternativen zu finden. Es ist schon deutlich schwieriger als in Deutschland. Und passierte Tomaten gab es nicht. Es gab nur Tomatenmark, aber nicht mal das war besonders gut. Dafür gab es auf dem Markt eine riesige Auswahl an Trockenfrüchten und Nüssen, was uns sehr gefreut hat.
Danke euch für das Gespräch und einen guten Rückflug morgen!

Meine Schwester Christiane und ihr Freund Jonathan im Gespräch mit Studenten in Ulan-Ude