Meine 20-jährige Schwester Christiane und ihr Freund Joni haben ihre ersten Semesterferien dazu genutzt, um sich auf den Weg nach Ulan-Ude zu machen und sind heute Mittag mit dem Zug eingetroffen. Im Interview erzählen sie, warum die Reise für sie mehr Abenteuer als Romantik war und wie es sich im offenen Großraumwagen schläft.
Liebe Christiane, lieber Joni, ihr habt gerade vier Tage und
vier Nächte Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn hinter euch von Moskau bis
nach Ulan-Ude. Viele in Deutschland träumen von einer solchen Reise und
verbinden sie mit Romantik und Abenteuer. Könnt ihr dieses Klischee bestätigen?
Christiane: Abenteuer ja, Romantik nicht so sehr, würde ich
sagen. Es war auf jeden Fall aus mehreren Gründen eine spannende Erfahrung.
Zuerst wäre zu nennen, dass wir vier Tage in einem Zug gelebt haben und unser
Zuhause und Rückzugsort in dieser Zeit eine Liege im Großraumwaggon war. Wir
hatten mit Hilfe des Reiseführers im Bewusstsein, wo wir uns gerade befanden –
also die meiste Zeit inmitten sibirischer Wälder – und bekamen den Weg, den wir
zurücklegten, in seiner Länge viel bewusster mit, als wenn wir beispielsweise geflogen
wären. Gewürzt wird die Erfahrung dadurch, dass die Menschen, die uns umgaben,
eine andere Sprache sprachen, aus einer anderen Kultur kamen und nicht als
Touristen unterwegs waren, sondern als ganz normale Einheimische.
Joni: Das Abenteuer kann ich bestätigen, die Romantik fehlte
jedoch. Höchstens im Hinblick auf die weitläufige Natur, aber im Zug an sich
geht es eher rustikal zu. Wer Romantik will, muss sich wohl so ein schickes
Touristenabteil für viel Geld reservieren, aber dann fehlt sicher das
Abenteuer.
Ihr wart in einem offenen Großraumwagen unterwegs, da gibt
es nicht so viel Privatsphäre. Hat euch das manchmal gestört?
Christiane:
Tatsächlich hat es weniger gestört als vor der Reise befürchtet, man
muss aber dazu sagen, dass wir durch unseren einjährigen Aufenthalt Neuseeland
sicherlich schon ein wenig geübt sind. Wir waren uns schon dessen bewusst, dass
uns die Mitreisenden beim Schlafen bobachten können und vor allem bei längeren
nächtlichen Zwischenstopps wechselten sich die Bewohner der gegenüberliegenden
Betten des Öfteren aus. Das hat die nächtliche Ruhe etwas gestört, denn wir
wollten uns ja immer erstmal ein Bild von demjenigen verschaffen, der nun in
einem Meter Abstand von einem entfernt sein Nachtlager errichtet, ehe wir in
Ruhe weiterschlafen konnten.
Joni: Das hat schon gelegentlich gestört beim Schlafen, wenn
einem die Leute an die Füße stoßen oder auffällig unauffällig in unsere Nische
starren. Wenn man bedenkt, dass wir die einzigen Ausländer waren und quasi in
der Öffentlichkeit geschlafen haben, war es doch ganz gut auszuhalten und
natürlich eine spannende Erfahrung.
Mit den Englischkenntnissen vieler Russen ist es ja nicht
zum Besten bestellt. Hattet ihr trotzdem interessante Begegnungen im Zug?
Christiane: Ja wir hatten meistens Glück: entweder wir
wurden nicht weiter gestört, nachdem die Sprachbarriere klar geworden war und
kein Interesse daran bestand, sich für gegenseitiges Verständnis mit Händen und
Füßen einzusetzen. Oder das Gegenteil war der Fall und wir alle suchten emsig
in unseren Sprachführern und Onlineübersetzern nach den Bedeutungen einfacher,
banaler Sätze der jeweils fremden Sprache. Eine Frau, die dreißig Jahre lang
eine große Schule geleitet hatte, sprach sogar noch recht gutes Deutsch, ein
Überbleibsel aus dem Unterricht in ihrer Kindheit.
Joni: Die Dialoge beschränken sich natürlich auf das
Wesentliche, aber interessant waren die Begegnungen trotzdem. Man bekommt den
Charakter der Leute mit, wie gesprächsbereit oder interessiert sie sind und
auch wo kulturelle Unterschiede zu sein scheinen.
Macht das tagelange Betrachten der russischen Weiten aus dem
Zugfenster nicht ein wenig melancholisch?
Christiane: Bis Krasnojarsk, also die gesamten ersten drei
Tage lang, ist von russischen Weiten nicht viel zu spüren, denn hauptsächlich
fährt der Zug durch Taigawälder. Westsibirien dagegen ist hügeliger und der
Blick konnte weiter schweifen, aber ich denke, melancholisch sind wir nicht
geworden. Das Aus-dem-Fenster-schauen hat sich als schöne Beschäftigung
entpuppt, wenn sonst nicht viel zutun ist, man ein bisschen müde ist und zu
unkonzentriert zum Lesen. Also nicht melancholisch, eher träumerisch. Und beim
Anblick der halb verfallenen Häuser in kleinen, abgelegenen Dörfern, begraben
unter dicken Schneedecken, hat sich der Zug gleich viel gemütlicher angefühlt.
Joni: Das kommt wohl auf den Charakter an. Ich persönlich
bin dadurch eher ungewöhnlich ruhig geworden und habe (auch ungewöhnlich) viel
gelesen oder beim Schauen aus dem Fenster einfach Musik gehört.
Gab es unerwartete oder unangenehme Vorkommnisse auf eurer
Reise? Habt ihr euch sicher gefühlt an Bord des Zuges?
Christiane: Tatsächlich haben ich mich sehr sicher gefühlt,
nicht zuletzt deswegen, weil gleich zu Beginn, als beim Einstieg unsere Pässe
kontrolliert wurden, ein Sicherheitsmann uns gleich ein wenig in Obhut genommen
hat und uns seine Hilfe während der gesamten Zugfahrt zusicherte. Er kam dann
auch jeden Tag mehrfach bei uns vorbei
und wir wechselten jedes Mal ein paar nette Worte – fast als Einziger konnte er
etwas Englisch.
Joni: Ja, Sicherheitsmann Alexej war in Punkto Sicherheit eine
große Hilfe. Ansonsten gab es immer mal die ein oder andere Person, die einen
mulmigen Eindruck bei uns hinterlassen hat, aber bestätigt hat sich das nie. Tatsächlich
waren die Leute alles im allem sehr nett zu uns. Gestern Nacht setzte sich eine
russische Wrestlingkämpferin – dritter Platz bei Olympia – an das Fußende
meines Bettes, um mit ihrer Schwester zu quatschen und weckte mich damit auf.
Das hat mich zunächst gestört, aber dann haben Chrissi und ich versucht, mit
den beiden ein Gespräch zu führen und haben uns doch sehr gut mit Händen und
Füßen verstanden. Unangenehm war allerdings die Toilette des Zuges, die uns
gegen Ende immer dreckiger vorkam.
Nun seid ihr in der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude
angekommen. Worauf freut ihr euch jetzt als nächstes?
Christiane: Ich freue mich auf Ausflüge zum Baikalsee mit
schönen Wanderungen und Ausblicken, richtiges Essen und Spieleabende!
Joni: Nach der unmittelbaren Ankunft tatsächlich auf das
Stillen der Grundbedürfnisse: Duschen und ordentliches Essen. Jetzt nach dem
wir wieder sauber und satt sind, freu ich mich auf die winterliche Natur, die
neue Kultur und auf das Beisammensein mit unseren lieben Gastgebern und auf
kulinarische Entdeckungen.