Der
Familienausflug ins Bargusin-Tal beginnt mit einer festgefrorenen Handbremse.
Erst nachdem beide Hinterräder, eins nach dem anderen, abgenommen und die
Bremstrommeln mit heißem Wasser übergossen wurden, können wir die Fahrt
antreten. Wahrscheinlich war es nicht so intelligent, überlege ich mir, während
wir uns die gewundene Straße zum Baikal über den Pychta-Pass hinaufwinden, am Tag zuvor die Autowäsche aufzusuchen.
Bei den derzeitigen Temperaturen in der Stadt um die null Grad ist die
Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas einfriert, die Türschlösser zum Beispiel
oder eben die Handbremse.
Zweihundert Kilometer weiter nördlich am populären kamen‘ tscherepacha, dem „Schildkrötenstein“, gibt es einen
Zwischenstopp am See, dessen Eis mit der ganzen Palette seiner winterlichen
Phänomene auf uns wartet. Um überhaupt hinauszukommen in das weiße Paradies,
müssen zunächst einige bis zu drei Metern hohe, sanft gerundete Eis- und
Schneeberge überwunden werden (sokuj),
die sich jedes Jahr zu Anfang des Winters bilden, wenn die Wellen immer wieder
an das erste Eis am Ufer schlagen und es damit höher und höher wachsen lassen.
Dahinter dann ziehe ich die kleine Maja auf einem Plastikschlitten am
Auto-Abschleppseil über geheimnisvoll schillernde spiegelglatte Flächen mit
feinen weißen Lufteinschlüssen, anhand derer wir ihre Dicke von über einem
Meter erkennen. Hundert Meter weiter ein langer Streifen zu Schollen
aufgeworfenen Eisbruchs (torosy),
einige dessen zehn- oder zwanzig Zentimeter dicken Eisplatten eine auffällig schimmernde
bläuliche Farbe haben (goluboj ljod).
Durch die weite, überwiegend weiße Fläche ziehen sich kilometerlange handbreite
Linien grauer oder bläulicher Farbe: Spalten, die sich mit Donnergrollen einmal
geöffnet hatten, durch die das Wasser gluckernd von unten heraufgequollen war
und die wenige Minuten später schon wieder vereisten. Am Ufer, auf der
seezugewandten Seite der runden Hügel schließlich noch grottenartige Höhlen mit
von unten und oben gewachsenen armdicken Eiszapfen
Wir packen Thermoskannen und Butterbrote aus und veranstalten unter
strahlender Wintersonne und blauem Himmel ein Picknick auf dem See. Die von uns
gewählte Stelle erfreut sich einiger Beliebtheit: vor unseren Blicken fahren
Leute Schlittschuh, chinesische Touristen zücken ihre Selfie-Sticks und weiter
draußen fahren Jeeps parallel zur Küste entlang. Von dem populären Felsen in
Gestalt einer Schildkröte ist nichts zu sehen. Er verbirgt sich unter einem der
Schnee- und Eisberge, unter welchem, weiß keiner so genau.
Eine Fahrtstunde weiter nördlich, durch den Wald und immer an der Küste
entlang erreichen wir Ust-Bargusin, wo die Straße das Ufer verlässt und ins
Bargusin-Tal hinein abbiegt. Bis auf ein paar Kilometer Schotterpiste bei
Maximicha, die gefühlt schon seit Jahren gebaut und niemals fertig gebaut wird,
ist die Strecke hervorragend asphaltiert, so hervorragend, dass es mir nicht
gelingt, die vorgeschriebenen neunzig Stundenkilometer nicht zu überschreiten.
Ein paar Tage später werde ich eine SMS auf mein Handy erhalten, dass 290 Rubel
von meinem Konto abgebucht wurden, die Strafe für Geschwindigkeitsüberschreitungen
von 20 bis 40 Stundenkilometern einschließlich fünfzig Prozent Rabatt für
schnelles Bezahlen.
Ulan-Ude liegt vierhundert Kilometer hinter uns, vor uns in der
Abendsonne der farbenfrohe buddhistische Tempel Janzhima, hinter dem die Gipfel
des Bargusin-Bergrückens in die Höhe ragen. Es wird kalt. Wir quartieren uns in
eines der auf der anderen Straßenseiten liegenden Gästehäuser ein, Maja
streichelt drei süße Wolfshund-Welpen (wolkodav),
deren burjatischer Besitzer uns anbietet, einen kostenlos mitzunehmen, worauf
die Kleine mir verspricht, fortan immer doppelt so lange Klavier zu üben, wenn
ein Hündchen ab jetzt bei uns wohnen dürfe. Am Morgen begeben wir uns auf dem
mit Holzdielen ausgelegten Weg hinter dem Tempel in den Wald hinein bis hin zu
einem überdachten Felsen, um den herum zehntausende farbige Tücher in die Bäume
geknotet und verschiedene Schreine zum Opfern von Münzen, Konfekt und Gebäck
aufgestellt sind. Hier, in Gestalt einer Zeichnung an diesem Stein, ist im
Jahre 2005 die Fruchtbarkeitsgöttin Janzhima zutage getreten; der Tempel ist
seitdem Wallfahrtsort für Gläubige, vor allem solche mit Kinderwunsch.
Am nächsten Tag holpern wir über die sandige Straße am westlichen
Talrand weiter nach Norden, dort, wo die Strecke von weißem Asphalt, sprich
Schnee bedeckt ist, reist es sich angenehm ruhig, wo nicht, hören wir kleine
und große Steine von unten gegen das Auto schlagen und ich bedauere, keinen
Geländewagen zu haben. Maja liest Nimmerklug
im Knirpsenland, ein sowjetischer Kinderbuchklassiker, den es auch in
der DDR in deutscher Übersetzung gab, und möchte zwischendurch
Kopfrechenaufgaben gestellt bekommen, um sich nicht zu langweilen, Addition und
Subtraktion im zweistelligen Bereich. Am frühen Nachmittag erreichen wir das
Dorf Kutschiger und finden Unterkunft an der dortigen heißen Heilquelle.
Am Fuße eines locker mit Fichten bewachsenen Berghanges stehen drei
schäbige Holzhütten, aus deren angelehnten Türen Wasserdampf quillt. Unter
ihnen fließen die Arme eines sich verzweigenden und trotz des Schnees ringsum
nicht gefrierenden Bächleins hindurch. Schwefelgeruch liegt in der Luft. Bei
meinem letzten Besuch im Sommer vor zweieinhalb Jahren drängten sich hier die
heilungsbedürftigen Kurgäste, jetzt sind wir hier die einzigen. In jeder der
Hütten gibt es einen Vorraum zum Umkleiden und den eigentlichen Baderaum mit
dem viereckig eingefassten heißen Wasserbecken. Da sich im Winter niemand darum
kümmert, die Türen geschlossen zu halten, dringt von außen immer wieder kalte
Luft ins Innere, wo die durch das Wasser transportierte Erdwärme aufsteigt; der
Wasserdampf kondensiert an Wänden, Bänken und Eingängen und erzeugt ein schier
unglaubliches optisches Spektakel an den groteskesten nur denkbaren meterhohen
Eiszapfen und Kristallgebilden. Ein Anblick wie auf einem anderen Planeten, auf
dem andere physikalische Gesetze gelten. Ich zwänge mich durch die
unbenennbaren Figuren der Eisstadt hindurch und steige in das Becken, dessen
schwefelstinkendes Wasser gerade so warm ist, dass ich nicht friere – und
trotzdem um mich herum der Eindruck, als bin ich im Inneren eines
Tiefkühlfachs; ein zehnminütiges Bad im Schweigen einer sibirischen Heilquelle,
das surrealste meines Lebens.
Ein Wochenende später sitzen meine Schwester und ihr Freund mit im
Auto. Diesmal folgen wir hinter Ust-Bargusin nicht der Hauptstraße, sondern
biegen nach links ab, hinein in den Sabaikalskij Nationalpark und auf die
Halbinsel Heilige Nase. Da es den ganzen März über ungewöhnlich warm war, ist
der Sandweg nicht gefroren und glatt, sondern eine einzige durchlöcherte
Schlammwüste. Während ich angespannt und mit leicht verkniffenem Gesicht hinter
dem Steuer sitze und versuche, die Kontrolle über den Wagen zu behalten,
jauchzt Maja jedesmal vor Freude auf, wenn das Auto in einer fast reifentiefen
Pfütze versinkt und eine Schlammfontäne gegen die Scheiben klatscht. Nach
vierzig Kilometern dann endlich passieren wir die paar Häuser von Monachowo.
Mit einem Schlag hört das Rütteln auf, die Straße wird glatt wie eine deutsche
Autobahn. Ich setze die Sonnenbrille auf, um das gleißende Weiß um uns herum zu
ertragen. Wir sind auf dem Eis.
Während ich entspannt durchatme, ist es nun meine Frau, in deren
Gesicht sich besorgte Anspannung abzeichnet. Für Niso ist es immer mit der
Überwindung von Angst verbunden, aufs Eis hinaus zu gehen oder zu fahren. Erst
als klar wird, was für ein winterliches Leben hier in der Tschivirkuj-Bucht
herrscht, weicht ihre Sorge der Faszination. Die Straße ist von Schnee geräumt,
mit Verkehrszeichen und Wegweisern versehen; Lastwagen kommen uns entgegen, im
Vergleich zu denen unser Lada Samara wohl ein Leichtgewicht ist, und irgendwo
in der Mitte fernab des Ufers zeichnen sich Fischerhütten als kleine Punkte ab.
In einer Bucht an der waldbedeckten Steilküste sehen wir eine Häuserzeile
mit unter Schnee begrabenen Booten davor und folgen der Straße wieder an Land.
Während Maja die Dorfhunde streichelt, frage ich hier im Fischerdorf Kurbulik
einen seinen Kopf aus dem Fenster steckenden Mann nach einer Unterkunft. Er
führt uns zu seinem Nachbarn zwei Grundstücke weiter, der uns sein schon für
Gäste zurechtgemachtes Wohnzimmer anbietet. Statt Zimmertür gibt es einen
Vorhang, in der Mitte ein riesiger, untypischerweise gekachelter Ofen, an den
Wänden Tapeten mit Blumenmuster, ein irgendwie sowjetischer Bücherschrank. Ich
freue mich, dass meine Gäste aus Deutschland ganz unverstellt ein sibirisches
Dorfhaus von innen erleben. Ob es in DDR-Wohnungen auch so ausgesehen hat,
möchte Christiane wissen. Ich versuche mich zu erinnern, mir kommen eher
Zweifel – gut, vielleicht das Tapetenmuster…? Abends bitte ich unseren
Gastgeber Alexander, der im kleinen Zimmer nebenan schläft, das stromerzeugende
Dieselaggregat nicht anzustellen: wir bräuchten nach Sonnenuntergang kein
Licht, zur Not hätten wir eine Taschenlampe, und als des Lärmes überdrüssige
Städter genießen wir gern einen ganz stillen Abend ohne Motorenrattern im Hof.
Alexander schaut uns an wie ein paar seltsame Vögel, freut sich aber dann wohl,
dass er an diesem Abend Diesel sparen kann: nur für sich selbst hätte er das
Aggregat ohnehin nicht angeworfen.
Im Schein der letzten Sonnenstrahlen schippt Alexander Schnee von seinem
Motorboot, das von den weißen Massen fast völlig begraben ist. Sein Nachbar,
der uns zu ihm geführt hatte, schaut zu und raucht dabei. „Ja, euer Hitler hat
wirklich ganz schöne Scheiße gebaut“, sagt er gutmütig zu mir, wie als sinniere
er über ein kürzlich vergangenes Ereignis. Und dann erzählt er von seiner Zeit
bei der russischen Armee im zweiten Tschetschenienkrieg. Siebzig Mann Verluste in
seinem 1500 Mann starken Regiment, das sei ziemlich wenig. Einen Monat lang
habe er dann gebraucht, um vom Kaukasus in seine Heimat an den Baikal
zurückzufahren und dabei begriffen, dass Russland viel zu groß sei, als dass es
jemals jemand erobern könne.
Nacht in Kurbulik. Mit Jonathan und Christiane gehe ich auf die Bucht
heraus zum Betrachten des Sternenhimmels. Nur in drei, vier Häusern ist Licht,
das entfernte Knattern der Dieselaggregate weht zu uns herüber. Kurbulik ist
nicht an das Stromnetz der Zivilisation angeschlossen, man erzeugt Elektrizität
aus Diesel oder mit Solarzellen. Nur drei Familien halten hier im Winter die
Stellung und noch ein paar Einzelne wie er, hatte Alexander erzählt, die
anderen gehen in größere Siedlungen wie Ust-Bargusin und kommen im Sommer
wieder mit all ihren Kindern und Enkeln, die dann paradiesische Ferien in der Natur
verbringen. Der Mond bescheint die weiße Wüste der Tschivirkuj-Bucht,
Scheinwerfer blitzen im Dunkeln auf von Autos, die sogar nachts auf der
Eisstraße fahren.
Am nächsten Tag baden wir in der heißen Quelle der Schlangenbucht: zwei
in Holz eingefasste Wasserbecken im Freien zwanzig Fahrtminuten nördlich von
Kurbulik, neu ausgebaut mit Holzstegen, damit Besucher nicht auf den
geschützten Pflanzen herumtrampeln; Umkleidekabinen daneben und
Toilettenhäuschen, davor auf dem Eis ein Metallcontainer mit zwei
Nationalparkmitarbeitern, die von jedem Ankommenden 100 Rubel Eintritt nehmen. Wir
sind früh da und fast die einzigen. Nach dem Bad dann ein fast schon
traditionelles Picknick auf dem Kofferraum unseres Lada Samara mit Thermoskannentee,
Nüssen, Äpfeln und Karob-Schokolade. Jonathan und Christiane ernähren sich
vegan, was mit etwas Mühe auch in Russland kein Problem ist: die beiden haben
in Ulan-Ude gleich nach ihrer Ankunft ein Spezialgeschäft ausfindig gemacht, wo
es Reismilch und Tofu gibt.
Wieder auf der Eisautobahn, steuern wir einen kahlen felsigen Buckel in
der Bucht an, die Insel Golyj, „die Nackte“, deren Nordende berühmt für seine
gigantischen Eiszapfen und –grotten ist. Wind kommt auf. Wir legen die Köpfe in
den Nacken und schauen die grauschwarzen Felsen hinauf, auf denen oben kahle
Kiefernstämme mit großen verlassenen Vogelnestern stehen. Das Dorf liegt weit
hinter uns, das Schweigen hier wirkt ein wenig gespenstisch. Meine Frau fühlt
sich unwohl und möchte nicht länger an diesem Ort bleiben. Maja rutscht selbstvergessen
auf dem Eis herum und bricht die Zapfen vor den Höhlen am Ufer ab; ich muss an
das rote Hinweisschild denken, welches Besucher auffordert, die
Naturschönheiten doch bitte für die Nachfolgenden zu erhalten, finde aber, dass
Kinder auch das Recht zum Spielen haben sollten. Nach einigem Zögern kriecht
Niso dann doch mit uns in eine metertiefe, mit Schneekristallen ausgekleidete
Grotte hinein, und wir sitzen eine Weile fasziniert zwischen den Eiszapfen, von
allen Seiten von gefrorenem Wasser umgeben. Ein vergleichbares Schauspiel kann
es an den Ozeanen nicht geben, auch nicht am Nordpolarmeer, denn Salzwasser
erstarrt nicht zu solchen prägnanten, verrückten Formen, und Süßwasser wird
selten zu solchen Wellen aufgeworfen in Kombination mit derartigen Minusgraden,
wie hier am Baikalsee.
Wolfshund-Welpen am Tempel Janzhima, wo an einem Felsen die gleichnamige Göttin zutage getreten ist (unten) |
Die Heilquelle Kutschiger am Nordende des Bargusin-Tals |
Die Heilquelle in der Schlangenbucht (oben); Eisgrotten an der Insel Golyj (unten) |