Freitag, 22. März 2019

Janzhimá, Kutschigér und Kurbulík

Der Familienausflug ins Bargusin-Tal beginnt mit einer festgefrorenen Handbremse. Erst nachdem beide Hinterräder, eins nach dem anderen, abgenommen und die Bremstrommeln mit heißem Wasser übergossen wurden, können wir die Fahrt antreten. Wahrscheinlich war es nicht so intelligent, überlege ich mir, während wir uns die gewundene Straße zum Baikal über den Pychta-Pass hinaufwinden, am Tag zuvor die Autowäsche aufzusuchen. Bei den derzeitigen Temperaturen in der Stadt um die null Grad ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas einfriert, die Türschlösser zum Beispiel oder eben die Handbremse.
Zweihundert Kilometer weiter nördlich am populären kamen‘ tscherepacha, dem „Schildkrötenstein“, gibt es einen Zwischenstopp am See, dessen Eis mit der ganzen Palette seiner winterlichen Phänomene auf uns wartet. Um überhaupt hinauszukommen in das weiße Paradies, müssen zunächst einige bis zu drei Metern hohe, sanft gerundete Eis- und Schneeberge überwunden werden (sokuj), die sich jedes Jahr zu Anfang des Winters bilden, wenn die Wellen immer wieder an das erste Eis am Ufer schlagen und es damit höher und höher wachsen lassen. Dahinter dann ziehe ich die kleine Maja auf einem Plastikschlitten am Auto-Abschleppseil über geheimnisvoll schillernde spiegelglatte Flächen mit feinen weißen Lufteinschlüssen, anhand derer wir ihre Dicke von über einem Meter erkennen. Hundert Meter weiter ein langer Streifen zu Schollen aufgeworfenen Eisbruchs (torosy), einige dessen zehn- oder zwanzig Zentimeter dicken Eisplatten eine auffällig schimmernde bläuliche Farbe haben (goluboj ljod). Durch die weite, überwiegend weiße Fläche ziehen sich kilometerlange handbreite Linien grauer oder bläulicher Farbe: Spalten, die sich mit Donnergrollen einmal geöffnet hatten, durch die das Wasser gluckernd von unten heraufgequollen war und die wenige Minuten später schon wieder vereisten. Am Ufer, auf der seezugewandten Seite der runden Hügel schließlich noch grottenartige Höhlen mit von unten und oben gewachsenen armdicken Eiszapfen
Wir packen Thermoskannen und Butterbrote aus und veranstalten unter strahlender Wintersonne und blauem Himmel ein Picknick auf dem See. Die von uns gewählte Stelle erfreut sich einiger Beliebtheit: vor unseren Blicken fahren Leute Schlittschuh, chinesische Touristen zücken ihre Selfie-Sticks und weiter draußen fahren Jeeps parallel zur Küste entlang. Von dem populären Felsen in Gestalt einer Schildkröte ist nichts zu sehen. Er verbirgt sich unter einem der Schnee- und Eisberge, unter welchem, weiß keiner so genau.
Eine Fahrtstunde weiter nördlich, durch den Wald und immer an der Küste entlang erreichen wir Ust-Bargusin, wo die Straße das Ufer verlässt und ins Bargusin-Tal hinein abbiegt. Bis auf ein paar Kilometer Schotterpiste bei Maximicha, die gefühlt schon seit Jahren gebaut und niemals fertig gebaut wird, ist die Strecke hervorragend asphaltiert, so hervorragend, dass es mir nicht gelingt, die vorgeschriebenen neunzig Stundenkilometer nicht zu überschreiten. Ein paar Tage später werde ich eine SMS auf mein Handy erhalten, dass 290 Rubel von meinem Konto abgebucht wurden, die Strafe für Geschwindigkeitsüberschreitungen von 20 bis 40 Stundenkilometern einschließlich fünfzig Prozent Rabatt für schnelles Bezahlen.
Ulan-Ude liegt vierhundert Kilometer hinter uns, vor uns in der Abendsonne der farbenfrohe buddhistische Tempel Janzhima, hinter dem die Gipfel des Bargusin-Bergrückens in die Höhe ragen. Es wird kalt. Wir quartieren uns in eines der auf der anderen Straßenseiten liegenden Gästehäuser ein, Maja streichelt drei süße Wolfshund-Welpen (wolkodav), deren burjatischer Besitzer uns anbietet, einen kostenlos mitzunehmen, worauf die Kleine mir verspricht, fortan immer doppelt so lange Klavier zu üben, wenn ein Hündchen ab jetzt bei uns wohnen dürfe. Am Morgen begeben wir uns auf dem mit Holzdielen ausgelegten Weg hinter dem Tempel in den Wald hinein bis hin zu einem überdachten Felsen, um den herum zehntausende farbige Tücher in die Bäume geknotet und verschiedene Schreine zum Opfern von Münzen, Konfekt und Gebäck aufgestellt sind. Hier, in Gestalt einer Zeichnung an diesem Stein, ist im Jahre 2005 die Fruchtbarkeitsgöttin Janzhima zutage getreten; der Tempel ist seitdem Wallfahrtsort für Gläubige, vor allem solche mit Kinderwunsch.
Am nächsten Tag holpern wir über die sandige Straße am westlichen Talrand weiter nach Norden, dort, wo die Strecke von weißem Asphalt, sprich Schnee bedeckt ist, reist es sich angenehm ruhig, wo nicht, hören wir kleine und große Steine von unten gegen das Auto schlagen und ich bedauere, keinen Geländewagen zu haben. Maja liest Nimmerklug im Knirpsenland, ein sowjetischer Kinderbuchklassiker, den es auch in der DDR in deutscher Übersetzung gab, und möchte zwischendurch Kopfrechenaufgaben gestellt bekommen, um sich nicht zu langweilen, Addition und Subtraktion im zweistelligen Bereich. Am frühen Nachmittag erreichen wir das Dorf Kutschiger und finden Unterkunft an der dortigen heißen Heilquelle.
Am Fuße eines locker mit Fichten bewachsenen Berghanges stehen drei schäbige Holzhütten, aus deren angelehnten Türen Wasserdampf quillt. Unter ihnen fließen die Arme eines sich verzweigenden und trotz des Schnees ringsum nicht gefrierenden Bächleins hindurch. Schwefelgeruch liegt in der Luft. Bei meinem letzten Besuch im Sommer vor zweieinhalb Jahren drängten sich hier die heilungsbedürftigen Kurgäste, jetzt sind wir hier die einzigen. In jeder der Hütten gibt es einen Vorraum zum Umkleiden und den eigentlichen Baderaum mit dem viereckig eingefassten heißen Wasserbecken. Da sich im Winter niemand darum kümmert, die Türen geschlossen zu halten, dringt von außen immer wieder kalte Luft ins Innere, wo die durch das Wasser transportierte Erdwärme aufsteigt; der Wasserdampf kondensiert an Wänden, Bänken und Eingängen und erzeugt ein schier unglaubliches optisches Spektakel an den groteskesten nur denkbaren meterhohen Eiszapfen und Kristallgebilden. Ein Anblick wie auf einem anderen Planeten, auf dem andere physikalische Gesetze gelten. Ich zwänge mich durch die unbenennbaren Figuren der Eisstadt hindurch und steige in das Becken, dessen schwefelstinkendes Wasser gerade so warm ist, dass ich nicht friere – und trotzdem um mich herum der Eindruck, als bin ich im Inneren eines Tiefkühlfachs; ein zehnminütiges Bad im Schweigen einer sibirischen Heilquelle, das surrealste meines Lebens.

Ein Wochenende später sitzen meine Schwester und ihr Freund mit im Auto. Diesmal folgen wir hinter Ust-Bargusin nicht der Hauptstraße, sondern biegen nach links ab, hinein in den Sabaikalskij Nationalpark und auf die Halbinsel Heilige Nase. Da es den ganzen März über ungewöhnlich warm war, ist der Sandweg nicht gefroren und glatt, sondern eine einzige durchlöcherte Schlammwüste. Während ich angespannt und mit leicht verkniffenem Gesicht hinter dem Steuer sitze und versuche, die Kontrolle über den Wagen zu behalten, jauchzt Maja jedesmal vor Freude auf, wenn das Auto in einer fast reifentiefen Pfütze versinkt und eine Schlammfontäne gegen die Scheiben klatscht. Nach vierzig Kilometern dann endlich passieren wir die paar Häuser von Monachowo. Mit einem Schlag hört das Rütteln auf, die Straße wird glatt wie eine deutsche Autobahn. Ich setze die Sonnenbrille auf, um das gleißende Weiß um uns herum zu ertragen. Wir sind auf dem Eis.
Während ich entspannt durchatme, ist es nun meine Frau, in deren Gesicht sich besorgte Anspannung abzeichnet. Für Niso ist es immer mit der Überwindung von Angst verbunden, aufs Eis hinaus zu gehen oder zu fahren. Erst als klar wird, was für ein winterliches Leben hier in der Tschivirkuj-Bucht herrscht, weicht ihre Sorge der Faszination. Die Straße ist von Schnee geräumt, mit Verkehrszeichen und Wegweisern versehen; Lastwagen kommen uns entgegen, im Vergleich zu denen unser Lada Samara wohl ein Leichtgewicht ist, und irgendwo in der Mitte fernab des Ufers zeichnen sich Fischerhütten als kleine Punkte ab.
In einer Bucht an der waldbedeckten Steilküste sehen wir eine Häuserzeile mit unter Schnee begrabenen Booten davor und folgen der Straße wieder an Land. Während Maja die Dorfhunde streichelt, frage ich hier im Fischerdorf Kurbulik einen seinen Kopf aus dem Fenster steckenden Mann nach einer Unterkunft. Er führt uns zu seinem Nachbarn zwei Grundstücke weiter, der uns sein schon für Gäste zurechtgemachtes Wohnzimmer anbietet. Statt Zimmertür gibt es einen Vorhang, in der Mitte ein riesiger, untypischerweise gekachelter Ofen, an den Wänden Tapeten mit Blumenmuster, ein irgendwie sowjetischer Bücherschrank. Ich freue mich, dass meine Gäste aus Deutschland ganz unverstellt ein sibirisches Dorfhaus von innen erleben. Ob es in DDR-Wohnungen auch so ausgesehen hat, möchte Christiane wissen. Ich versuche mich zu erinnern, mir kommen eher Zweifel – gut, vielleicht das Tapetenmuster…? Abends bitte ich unseren Gastgeber Alexander, der im kleinen Zimmer nebenan schläft, das stromerzeugende Dieselaggregat nicht anzustellen: wir bräuchten nach Sonnenuntergang kein Licht, zur Not hätten wir eine Taschenlampe, und als des Lärmes überdrüssige Städter genießen wir gern einen ganz stillen Abend ohne Motorenrattern im Hof. Alexander schaut uns an wie ein paar seltsame Vögel, freut sich aber dann wohl, dass er an diesem Abend Diesel sparen kann: nur für sich selbst hätte er das Aggregat ohnehin nicht angeworfen.
Im Schein der letzten Sonnenstrahlen schippt Alexander Schnee von seinem Motorboot, das von den weißen Massen fast völlig begraben ist. Sein Nachbar, der uns zu ihm geführt hatte, schaut zu und raucht dabei. „Ja, euer Hitler hat wirklich ganz schöne Scheiße gebaut“, sagt er gutmütig zu mir, wie als sinniere er über ein kürzlich vergangenes Ereignis. Und dann erzählt er von seiner Zeit bei der russischen Armee im zweiten Tschetschenienkrieg. Siebzig Mann Verluste in seinem 1500 Mann starken Regiment, das sei ziemlich wenig. Einen Monat lang habe er dann gebraucht, um vom Kaukasus in seine Heimat an den Baikal zurückzufahren und dabei begriffen, dass Russland viel zu groß sei, als dass es jemals jemand erobern könne.
Nacht in Kurbulik. Mit Jonathan und Christiane gehe ich auf die Bucht heraus zum Betrachten des Sternenhimmels. Nur in drei, vier Häusern ist Licht, das entfernte Knattern der Dieselaggregate weht zu uns herüber. Kurbulik ist nicht an das Stromnetz der Zivilisation angeschlossen, man erzeugt Elektrizität aus Diesel oder mit Solarzellen. Nur drei Familien halten hier im Winter die Stellung und noch ein paar Einzelne wie er, hatte Alexander erzählt, die anderen gehen in größere Siedlungen wie Ust-Bargusin und kommen im Sommer wieder mit all ihren Kindern und Enkeln, die dann paradiesische Ferien in der Natur verbringen. Der Mond bescheint die weiße Wüste der Tschivirkuj-Bucht, Scheinwerfer blitzen im Dunkeln auf von Autos, die sogar nachts auf der Eisstraße fahren.
Am nächsten Tag baden wir in der heißen Quelle der Schlangenbucht: zwei in Holz eingefasste Wasserbecken im Freien zwanzig Fahrtminuten nördlich von Kurbulik, neu ausgebaut mit Holzstegen, damit Besucher nicht auf den geschützten Pflanzen herumtrampeln; Umkleidekabinen daneben und Toilettenhäuschen, davor auf dem Eis ein Metallcontainer mit zwei Nationalparkmitarbeitern, die von jedem Ankommenden 100 Rubel Eintritt nehmen. Wir sind früh da und fast die einzigen. Nach dem Bad dann ein fast schon traditionelles Picknick auf dem Kofferraum unseres Lada Samara mit Thermoskannentee, Nüssen, Äpfeln und Karob-Schokolade. Jonathan und Christiane ernähren sich vegan, was mit etwas Mühe auch in Russland kein Problem ist: die beiden haben in Ulan-Ude gleich nach ihrer Ankunft ein Spezialgeschäft ausfindig gemacht, wo es Reismilch und Tofu gibt.
Wieder auf der Eisautobahn, steuern wir einen kahlen felsigen Buckel in der Bucht an, die Insel Golyj, „die Nackte“, deren Nordende berühmt für seine gigantischen Eiszapfen und –grotten ist. Wind kommt auf. Wir legen die Köpfe in den Nacken und schauen die grauschwarzen Felsen hinauf, auf denen oben kahle Kiefernstämme mit großen verlassenen Vogelnestern stehen. Das Dorf liegt weit hinter uns, das Schweigen hier wirkt ein wenig gespenstisch. Meine Frau fühlt sich unwohl und möchte nicht länger an diesem Ort bleiben. Maja rutscht selbstvergessen auf dem Eis herum und bricht die Zapfen vor den Höhlen am Ufer ab; ich muss an das rote Hinweisschild denken, welches Besucher auffordert, die Naturschönheiten doch bitte für die Nachfolgenden zu erhalten, finde aber, dass Kinder auch das Recht zum Spielen haben sollten. Nach einigem Zögern kriecht Niso dann doch mit uns in eine metertiefe, mit Schneekristallen ausgekleidete Grotte hinein, und wir sitzen eine Weile fasziniert zwischen den Eiszapfen, von allen Seiten von gefrorenem Wasser umgeben. Ein vergleichbares Schauspiel kann es an den Ozeanen nicht geben, auch nicht am Nordpolarmeer, denn Salzwasser erstarrt nicht zu solchen prägnanten, verrückten Formen, und Süßwasser wird selten zu solchen Wellen aufgeworfen in Kombination mit derartigen Minusgraden, wie hier am Baikalsee.

Wolfshund-Welpen am Tempel Janzhima, wo an einem Felsen die gleichnamige Göttin zutage getreten ist (unten)
Die Heilquelle Kutschiger am Nordende des Bargusin-Tals
Die Heilquelle in der Schlangenbucht (oben); Eisgrotten an der Insel Golyj (unten)