Mittwoch, 27. März 2019

Über die Bedeutung des Essens


Je öfter ich mit guten Freunden oder lieben Verwandten unterwegs bin, desto mehr wird mir die herausragende Funktion des Essens klar. Früher, noch romantisch und verträumt in die Welt schauend, dachte ich, das Reiseglück wäre für alle vollkommen, wenn die Natur erhaben, die Kultur lehrreich und die Gesprächsthemen tiefgründig seien; Banalitäten wir die Nahrungsaufnahme würden sich schon immer irgendwie von selbst regeln. Inzwischen bin ich mir der zentralen, gruppenzusammenhaltenden und stimmungsrettenden Bedeutung bewusst, die das richtige Essen zur richtigen Zeit einnimmt.
Die sonnabendliche Fahrt mit Frau, Kind, Schwester und Schwesters Freund in mein geliebtes Bargusin-Tal steht zunächst unter keinem guten Stern. Die Hälfte der Passagiere schlafen, die andere Hälfte schweigt angestrengt. Der Fahrer trauert in Gedanken seiner Digitalkamera nach, den seine Gattin am Vortag versehentlich in den schwefligen Schlamm der Heilquelle fallen ließ. Graue Wolken hängen am Himmel. Zwischen Maximicha und Ust-Bargusin kippt er stinkendes Benzin aus dem Reservekanister in den Tank und sich dabei die Hälfte über die Hand und auf die Straße, da ein geeigneter Trichter fehlt. Beim nächsten Tankstopp am Ortseingang von Ust-Bargusin, direkt neben einer übelriechenden, rauchenden Müllkippe, deren Plastikabfälle vom Wind in alle Himmelsrichtungen verteilt werden, öffnet Christiane die Autotür und kotzt eine Runde auf die schlammige Straße – vielleicht eine Folge des gestrigen Abends, als unsere freundlichen Gastgeber auf der Datsche in Gorjatschinsk ihre Gäste in die Traditionen der russischen Gastfreundschaft einführten und uns sehr höflich und sehr bestimmt zum Trinken nötigten: jedes Glas auf Ex, und natürlich darf die Wodkaflasche nicht angebrochen stehenbleiben. Als wenig später der Asphalt endet und die Holperpiste nach Bargusin beginnt, schaue ich verstohlen in das Gesicht meiner Frau: ob sie am untypischen Röhren des Motors und den seitlich hervorquellenden Abgasen gemerkt hat, dass unser Auspuffrohr ein Loch hat und jeden Moment abfallen könnte? Ihr sonnenbrillenbedecktes Gesicht verrät keine Emotionen. Bei Bargusin gibt es kurzzeitig Asphalt, dann folgt gewellter Sandboden, über dessen Riffel der Wagen wie über ein Waschbrett rattert. Ich verkneife mir meinen Vortrag über die örtlichen Sehenswürdigkeiten, den wegen des Lärmpegels ohnehin niemand verstehen würde, und erinnere mich an Mückenterror und das Auto rammende Kühe auf der verschimmelten Bauernhofruine meines Bekannten Sergej, die jetzt irgendwo links in der Steppe hinter uns zurückbleibt.
Am Fuße der „Sächsisches Schloss“ genannten Felsformation, am Rande einer Weidefläche vor Beginn der Holzhäuser des Dorfes Suvo, parke ich den Wagen und fordere zum Aussteigen auf. Die Sonne ist hervorgekommen. Zögerlich schälen sich meine Mitreisenden aus dem Auto und hocken sich neben die Decke, die ich flugs daneben ausgebreitet habe. Thermoskannen, Obst und Nüsse stehen bereit, mit kochendem Wasser werden Doshirak-Nudeln aufgebrüht, süßes Halwa macht die Runde. Nach wenigen Minuten mischen sich Laute zufriedenen Schmatzens und genüsslichen Schlürfens in das friedliche Geräusch des über die karge Steppe pfeifenden Frühlingswindes. Ein heiteres Gespräch kommt in Gang. Der Tag ist gerettet. Mit gefüllte Mägen und geschmeichelten Gaumen begeben wir uns den Hang hinauf in das elbsandsteingebirgeähnliche Felsenparadies, Jonathan und Christiane geben sich einen Kuss, Niso breitet die Arme im Wind aus und Maja spielt mit mir Fangen.