Samstag, 6. April 2019

Autokauf in Russland


    In den dreieinhalb Jahren meines Lebens in Ulan-Ude habe ich Dinge gemacht, die in Deutschland nicht möglich gewesen wären. Dazu gehört die Gründung und Leitung eines kleinen Studentenchores, mein persönliches Lieblingsprojekt an der Uni und fester Termin in meinem Wochenkalender, jeden Dienstag um sechzehn Uhr zwanzig. Damit hat es nun allerdings seit diesem Jahr ein Ende: zur ersten geplanten Probe kamen nur fünf Leute, und auch die wohl weniger wegen des Singens, sondern mehr wegen unseres Unterrichtspraktikanten Florian, mit dessen Teilnahme ich auf dem Plakat gelockt hatte: Lebendige Begegnung mit einem echten Österreicher, jede Woche zur Chorprobe, kommt und macht mit! Statt zu singen, wofür mindestens zehn Teilnehmer nötig wären, saßen wir und unterhielten uns angeregt neunzig Minuten lang: was unterscheidet Österreicher von Deutschen? Was denken die Leute im Westen über Stalin? War auch interessant, aber der Chor ist nun tot. Vielleicht ist das ja nicht schlimm. Manchmal habe ich den Eindruck, meine Energie reicht nicht mehr für zusätzliche Initiativen aus, obwohl ich in diesem Semester weniger unterrichte als in den Vorjahren: nur sechs wöchentliche Doppelstunden. Vielleicht ist es auch so, dass mir die Familie immer wichtiger wird und das Geschehen an der Uni etwas in den Hintergrund tritt.
Ich werde ein weiteres reichliches Jahr in Russland wohnen. In dieser Zeit möchte ich noch einiges unternehmen, wozu es in meiner Heimat keine Gelegenheit mehr geben wird – am Baikalsee durch die Steppe und über das Eis fahren zum Beispiel, ohne befürchten zu müssen, dass es mit gebrochenem Stoßdämpfer im Abschleppwagen nach Hause geht. Ich entschließe mich zum Kauf eines Geländewagens, und natürlich steht auch sofort das Modell fest: nichts ist russischer, robuster und preiswerter als ein Lada Niva. Meinen bisherigen elf Jahre alten Lada Samara überlasse ich Freund Mischa, Universitätsdozent und zurzeit Leiter des Theologie-Lehrstuhles, der gerade nicht so recht weiß, wovon er mit seinen drei Kindern leben soll (jedenfalls nicht von umgerechnet 400 Euro Lehrstuhlleiter-Gehalt) und nun die Möglichkeit hat, seine schachtelförmige Schestjorka zu verkaufen und zum ersten Mal seit zehn Jahren in den Sommerferien nicht zu arbeiten, sondern das zu machen, was ich mir fast jeden Monat erlaube: ein paar Tage Erholung am Baikal.
Bei meinem zweiten Autokauf in Russland fühle ich mich deutlich ruhiger und souveräner als beim ersten Mal. Ich begebe mich auf den mit fast ausschließlich japanischen Modellen vollgestellten Automarkt und steuere gemessenen Schrittes einen silbergrauen WAS-2131 an, wie die fünftürige Variante des Niva offiziell heißt. Am Vorabend hatte ich die Verkaufsanzeige des Wagens im Internet studiert und mir für 300 Rubel eine Datensammlung zu ihm heruntergeladen, aus der hervorgeht, dass das Auto nicht gestohlen ist, keinen Unfall hatte und der Vorbesitzer im autonomen Kreis der Jamal-Nenzen lebte: in der nordrussischen Tundra war der Niva also im Einsatz, dann sollte er also auch für die burjatische Steppe taugen. Zwei junge Händler kommen herbei, schließen das Auto auf und beobachten aus einigem Abstand den Deutschen, der kritisch Moto, Kofferraum und Armaturenbrett inspiziert. Das Design des Innenraums wirkt wie aus den Neunzigern, dabei ist es Baujahr 2013. Meine Ahnungslosigkeit wird spätestens dann deutlich, als ich vergeblich versuche, den Kofferraum zu öffnen (dafür gibt es einen Hebel neben dem Fahrersitz) und mich wundere, warum es gleich drei Schaltknüppel gibt statt wie üblich einen. Differentialsperre und Geländeuntersetzung, erklären die Händler und sind sichtlich amüsiert über den Kunden, der wohl zum ersten Mal in so einem Auto sitzt.
Ehe ich mich zum Kauf entschließe, fahren wir in eine kleine Garage ans andere Ende der Stadt, in welcher der Mechaniker meines Vertrauens arbeitet. Nikolai Nikolajewitsch legt sich unter das Auto, lauscht dem Tuckern des 1,7-Liter-Motors und lässt sich die Fahrzeugdokumente zeigen. Dann nehme ich ihn für einen Moment zur Seite.
„Steig ein und fahr los. Weiter gibt’s nichts zu sagen!“ 
Ich überreiche ihm eine Flasche armenischem Kognak als Dank für seine Expertise und frage, ob der von den Händlern verlangte Preis in Ordnung wäre.
„Absolut! Gute Wahl. Ist ja fast neuwertig. Keine Beulen, keine Schrammen, sieht man auch sofort, dass der Wagen nie in schwierigem Gelände war.“
Bevor man ein Auto auf den eigenen Namen registrieren lassen kann, muss man es bei der Verkehrspolizei einer Durchsicht unterziehen lassen. Ein paar Tage später stelle ich das Fahrzeug in eine Reihe mit etwa vierzig anderen Autos im Hof neben dem Polizei-Hauptgebäude und öffne die Motorhaube. Ein uniformierter Burjate geht herum, vergleicht die Fahrzeugnummer an der Karosserie mit der Nummer auf dem Zulassungsschein und schaut, ob auch niemand illegalerweise etwas an seinem Auto an-oder umgebaut hat.
„Für die Anhängerkupplung brauchen Sie eine gesonderte Genehmigung“, sagt der Polizist, als die Reihe an mir ist. Ich antworte, dass ich ohnehin heute noch zum Mechaniker wolle und sie dann eben bei dieser Gelegenheit gleich entfernen lasse, da ich nicht vorhätte, mit Hänger zu fahren. Reihum sammelt er von allen Fahrern die Zulassungsscheine ein und teilt sie nach einer halben Stunde wieder aus, zusammen mit einem kleinen Zettel über die erfolgreich bestandene Durchsicht.
„Und, haben Sie die Hängerkupplung inzwischen abgebaut?“
Das würde ich doch heute in der Werkstatt machen lassen, erwidere ich.
„Wenn jemand fragt, die Anhängerkupplung haben Sie morgen erst angebaut“, sagt der Burjate mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Heute gibt es sie nicht. Verstanden?“ Ich erhalte den kleinen unterschriebenen und gestempelten Zettel und fahre vom Hof. Morgen erst angebaut – alles klar! Obwohl ich die Durchsicht bestanden habe, bitte ich Nikolai Nikolajewitsch, die Kupplung abzumontieren. Vielleicht findet ja der nächste Polizist, der sie sieht, dass es sie doch gibt, und fragt nach der Genehmigung.
Als nächstes steht der Gang zum Versicherungsagenten an. Der jüngere, dickliche Mann in etwa meinem Alter kennt mich schon und bittet freundlich, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ich bitte um eine Haftpflichtversicherung für einen Wagen des Typs WAS-2131.
„Oh Gott, schon wieder ein Lada. Und was ist an dem jetzt besser als an dem vom letzten Mal?“
Nun, es wäre doch ein Niva, erkläre ich, ein robuster, geländetauglicher –
„Trotzdem“, unterbricht er mich, „ich finde, Sie sollten endlich nach Hause fahren. Ab nach Deutschland. Was machen Sie hier eigentlich noch? Ich verstehe nicht, was Sie in Burjatien suchen.“ Sicherlich sei alles nicht so entwickelt und durchdacht wie in Westeuropa, pflichte ich ihm bei, aber die Natur doch wunderschön, und außerdem hätte ich mein Familienglück in Ulan-Ude gefunden. Bis zum Sommer des nächsten Jahres würde ich noch hierhin und dorthin zu reisen planen…
Während meiner Ausführungen hat der Versicherungsagent meine Papiere abfotografiert, um die Fotos nach Moskau zu schicken – selbst kann er für einen Ausländer keine Police ausstellen – und schiebt sie mir dann mit einer mitleidigen Bewegung über den Schreibtisch zurück.
„Lassen Sie uns lieber über das Leben sprechen. Schimpfen Ihre Verwandten denn nicht mit Ihnen, dass Sie hier sind?“ Keineswegs, sage ich, im Gegenteil, die finden das sehr interessant und kommen mich besuchen, meine Schwester war neulich hier…
Kopfschütteln. „Und was haben Sie ihr gezeigt?“
Ich gebe dem Russen einen kurzen Überblick über die Sehenswürdigkeiten seiner Heimat und verabschiede mich. Hoffentlich trifft die Police aus Moskau bald ein.