In den dreieinhalb Jahren
meines Lebens in Ulan-Ude habe ich Dinge gemacht, die in Deutschland nicht
möglich gewesen wären. Dazu gehört die Gründung und Leitung eines kleinen
Studentenchores, mein persönliches Lieblingsprojekt an der Uni und fester
Termin in meinem Wochenkalender, jeden Dienstag um sechzehn Uhr zwanzig. Damit
hat es nun allerdings seit diesem Jahr ein Ende: zur ersten geplanten Probe
kamen nur fünf Leute, und auch die wohl weniger wegen des Singens, sondern mehr
wegen unseres Unterrichtspraktikanten Florian, mit dessen Teilnahme ich auf dem
Plakat gelockt hatte: Lebendige Begegnung mit einem echten Österreicher, jede
Woche zur Chorprobe, kommt und macht mit! Statt zu singen, wofür mindestens
zehn Teilnehmer nötig wären, saßen wir und unterhielten uns angeregt neunzig
Minuten lang: was unterscheidet Österreicher von Deutschen? Was denken die
Leute im Westen über Stalin? War auch interessant, aber der Chor ist nun tot.
Vielleicht ist das ja nicht schlimm. Manchmal habe ich den Eindruck, meine
Energie reicht nicht mehr für zusätzliche Initiativen aus, obwohl ich in diesem
Semester weniger unterrichte als in den Vorjahren: nur sechs wöchentliche
Doppelstunden. Vielleicht ist es auch so, dass mir die Familie immer wichtiger
wird und das Geschehen an der Uni etwas in den Hintergrund tritt.
Ich werde ein weiteres reichliches Jahr in Russland
wohnen. In dieser Zeit möchte ich noch einiges unternehmen, wozu es in meiner
Heimat keine Gelegenheit mehr geben wird – am Baikalsee durch die Steppe und
über das Eis fahren zum Beispiel, ohne befürchten zu müssen, dass es mit
gebrochenem Stoßdämpfer im Abschleppwagen nach Hause geht. Ich entschließe mich
zum Kauf eines Geländewagens, und natürlich steht auch sofort das Modell fest:
nichts ist russischer, robuster und preiswerter als ein Lada Niva. Meinen
bisherigen elf Jahre alten Lada Samara überlasse ich Freund Mischa, Universitätsdozent und
zurzeit Leiter des Theologie-Lehrstuhles, der gerade nicht so recht weiß, wovon
er mit seinen drei Kindern leben soll (jedenfalls nicht von umgerechnet 400
Euro Lehrstuhlleiter-Gehalt) und nun die Möglichkeit hat, seine
schachtelförmige Schestjorka zu
verkaufen und zum ersten Mal seit zehn Jahren in den Sommerferien nicht zu
arbeiten, sondern das zu machen, was ich mir fast jeden Monat erlaube: ein paar
Tage Erholung am Baikal.
Bei meinem zweiten Autokauf in Russland fühle ich
mich deutlich ruhiger und souveräner als beim ersten Mal. Ich begebe mich auf
den mit fast ausschließlich japanischen Modellen vollgestellten Automarkt und steuere gemessenen Schrittes
einen silbergrauen WAS-2131 an, wie
die fünftürige Variante des Niva offiziell heißt. Am Vorabend hatte ich die
Verkaufsanzeige des Wagens im Internet studiert und mir für 300 Rubel eine
Datensammlung zu ihm heruntergeladen, aus der hervorgeht, dass das Auto nicht
gestohlen ist, keinen Unfall hatte und der Vorbesitzer im autonomen Kreis der
Jamal-Nenzen lebte: in der nordrussischen Tundra war der Niva also im Einsatz,
dann sollte er also auch für die burjatische Steppe taugen. Zwei junge Händler
kommen herbei, schließen das Auto auf und beobachten aus einigem Abstand den
Deutschen, der kritisch Moto, Kofferraum und Armaturenbrett inspiziert. Das
Design des Innenraums wirkt wie aus den Neunzigern, dabei ist es Baujahr 2013.
Meine Ahnungslosigkeit wird spätestens dann deutlich, als ich vergeblich
versuche, den Kofferraum zu öffnen (dafür gibt es einen Hebel neben dem
Fahrersitz) und mich wundere, warum es gleich drei Schaltknüppel gibt statt wie
üblich einen. Differentialsperre und Geländeuntersetzung, erklären die
Händler und sind sichtlich amüsiert über den Kunden, der wohl zum ersten Mal in
so einem Auto sitzt.
Ehe ich mich zum Kauf entschließe, fahren wir in
eine kleine Garage ans andere Ende der Stadt, in welcher der Mechaniker meines
Vertrauens arbeitet. Nikolai Nikolajewitsch legt sich unter das Auto, lauscht
dem Tuckern des 1,7-Liter-Motors und lässt sich die Fahrzeugdokumente zeigen.
Dann nehme ich ihn für einen Moment zur Seite.
„Steig ein und fahr los. Weiter gibt’s nichts zu
sagen!“
Ich überreiche ihm eine Flasche armenischem Kognak
als Dank für seine Expertise und frage, ob der von den Händlern verlangte Preis
in Ordnung wäre.
„Absolut! Gute Wahl. Ist ja fast neuwertig. Keine
Beulen, keine Schrammen, sieht man auch sofort, dass der Wagen nie in
schwierigem Gelände war.“
Bevor man ein Auto auf den eigenen Namen
registrieren lassen kann, muss man es bei der Verkehrspolizei einer Durchsicht
unterziehen lassen. Ein paar Tage später stelle ich das Fahrzeug in eine Reihe
mit etwa vierzig anderen Autos im Hof neben dem Polizei-Hauptgebäude und öffne
die Motorhaube. Ein uniformierter Burjate geht herum, vergleicht die
Fahrzeugnummer an der Karosserie mit der Nummer auf dem Zulassungsschein und
schaut, ob auch niemand illegalerweise etwas an seinem Auto an-oder umgebaut
hat.
„Für die Anhängerkupplung brauchen Sie eine
gesonderte Genehmigung“, sagt der Polizist, als die Reihe an mir ist. Ich
antworte, dass ich ohnehin heute noch zum Mechaniker wolle und sie dann eben
bei dieser Gelegenheit gleich entfernen lasse, da ich nicht vorhätte, mit
Hänger zu fahren. Reihum sammelt er von allen Fahrern die Zulassungsscheine ein
und teilt sie nach einer halben Stunde wieder aus, zusammen mit einem kleinen
Zettel über die erfolgreich bestandene Durchsicht.
„Und, haben Sie die Hängerkupplung inzwischen
abgebaut?“
Das würde ich doch heute in der Werkstatt machen
lassen, erwidere ich.
„Wenn jemand fragt, die Anhängerkupplung haben Sie
morgen erst angebaut“, sagt der Burjate mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Heute gibt es sie nicht. Verstanden?“ Ich erhalte den kleinen unterschriebenen
und gestempelten Zettel und fahre vom Hof. Morgen erst angebaut – alles klar!
Obwohl ich die Durchsicht bestanden habe, bitte ich Nikolai Nikolajewitsch, die
Kupplung abzumontieren. Vielleicht findet ja der nächste Polizist, der sie
sieht, dass es sie doch gibt, und fragt nach der Genehmigung.
Als nächstes steht der Gang zum
Versicherungsagenten an. Der jüngere, dickliche Mann in etwa meinem Alter kennt
mich schon und bittet freundlich, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ich
bitte um eine Haftpflichtversicherung für einen Wagen des Typs WAS-2131.
„Oh Gott, schon wieder ein Lada. Und was ist an dem
jetzt besser als an dem vom letzten Mal?“
Nun, es wäre doch ein Niva, erkläre ich, ein
robuster, geländetauglicher –
„Trotzdem“, unterbricht er mich, „ich finde, Sie
sollten endlich nach Hause fahren. Ab nach Deutschland. Was machen Sie hier
eigentlich noch? Ich verstehe nicht, was Sie in Burjatien suchen.“ Sicherlich sei alles nicht so entwickelt und durchdacht wie in
Westeuropa, pflichte ich ihm bei, aber die Natur doch wunderschön, und außerdem
hätte ich mein Familienglück in Ulan-Ude gefunden. Bis zum Sommer des nächsten
Jahres würde ich noch hierhin und dorthin zu reisen planen…
Während meiner Ausführungen hat der
Versicherungsagent meine Papiere abfotografiert, um die Fotos nach Moskau zu
schicken – selbst kann er für einen Ausländer keine Police ausstellen – und
schiebt sie mir dann mit einer mitleidigen Bewegung über den Schreibtisch
zurück.
„Lassen Sie uns lieber über das Leben sprechen.
Schimpfen Ihre Verwandten denn nicht mit Ihnen, dass Sie hier sind?“ Keineswegs,
sage ich, im Gegenteil, die finden das sehr interessant und kommen mich
besuchen, meine Schwester war neulich hier…
Kopfschütteln. „Und was haben Sie ihr gezeigt?“
Ich gebe dem Russen einen kurzen Überblick über die
Sehenswürdigkeiten seiner Heimat und verabschiede mich. Hoffentlich trifft die Police
aus Moskau bald ein.