Donnerstag, 31. August 2017

Vom Paradies ins Krankenhaus

Reisebericht aus Tadschikistan, Teil 4

Am Bahnhof in Duschanbe hängt ein großes Werbeplakat eines Mobilfunkanbieters. Zu sehen ist ein junger, telefonierender Mann vor dem Hintergrund des Moskauer Kremls, auf der anderen Seite zwei sehnsüchtig in ihr Handy lauschende Eltern, die Teekanne vor sich stehen, im Hintergrund die tadschikischen Berge. „Immer zusammen!“, lautet der Slogan. Eine Reklame, die die Situation der Tadschiken auf den Punkt bringt: aus jeder Familie arbeitet mindestens ein Mitglied in Russland, für meist ein Jahr oder länger, schickt Geld und kommt dann mit guten Russischkenntnissen zurück. Auf dem Land sprechen die Frauen kein Russisch, und auch von den Männern nur die, die entweder dort waren oder älter sind und in der Sowjetarmee gedient hatten. Aber in jeder Menschengruppe findet sich schnell einer, an den ich mich wenden kann, so dass ich während der ganzen Reise kaum Verständigungsprobleme habe.

Eine Fahrkarte mit dem Regionalzug von Dushanbe nach Kulob kostet umgerechnet 1,50 €. Die Fahrkarte, die ich bekomme, stammt noch aus Sowjetzeiten, „Mittelasiatische Eisenbahn“ steht darauf. Der Zug ist deutlich moderner als das Ticket, lässt sich in der kurvenreichen Landschaft aber viel Zeit: 250 Kilometer nach Südosten werden in sieben Stunden zurückgelegt. Fasziniert schaue ich auf Granatapfelplantagen, kleine Lehmhütten, Bewässerungsrinnen und Jungs, die auf Eseln reiten – das nationale Transportmittel auf dem Land. Plötzlich gibt es einen heftigen Knall, Staub wirbelt auf und ein Traktoranhänger fliegt in hohem Bogen zur Seite. Jemand hatte ihn versehentlich auf den Gleisen stehen lassen, die Lok hat ihn gerammt. Das kann schon mal passieren, schließlich fährt der Zug nur zweimal pro Woche. Zum Glück kein Personenschaden – nach 15 Minuten geht es weiter.
Die ersten, die Kontakt zu dem Fremdling aufnehmen, der da neben seinem Rucksack sitzt und neugierig aus dem Fenster fotografiert, sind Kinder, die mich zunächst schweigend bestaunen und dann ausfragen. Später beginnen sich zwei junge Frauen für meine Landkarte zu interessieren. An der Station Dangara ist das Portrait von Rahmon besonders groß geraten. „Hier wurde unser Präsident geboren, am fünften Oktober neunzehnhundertzweiundfünfzig“, erklärt mir die 15jährige Shahmigul. Es kommt wie aus der Pistole geschossen – anscheinend elementarster Schulstoff.
Eigentlich wollte ich bis zur Endstation Kulob fahren, aber soweit komme ich nicht. Shahmigul spricht kurz mit ihrer Mutter und lädt mich ein, in Guliston auszusteigen und Gast der Familie zu sein. Ich folge der Aufforderung gern und finde mich so auf dem Lande im Kreis einer tadschikischen Familie wieder. Ich werde in einen Raum des kleinen Lehmhauses gebeten, auf dem Boden wird der Dastarkhon ausgebreitet, das Tischtuch, Tee, Fladenbot und Früchte stehen bereit. Man sitzt im Schneidersitz und mustert mich aufmerksam, noch ein paar Nachbarn sind zum Staunen hinzugeholt worden. Ich frage nach den Namen meiner Gastgeber und schreibe sie in meinen kleinen Notizblock, denn sonst würde ich sie augenblicklich vergessen: die Mutter Todschiniso mit Mann Abdussalom, der sechs Jahre in Russland gearbeitet hat; die Töchter Shahmigul und Sabriná und noch drei Söhne, der älteste davon – Ossim. Fünf Kinder, das ist keine besonders große Familie. Aufmerksam wird Tee nachgeschenkt, sobald meine Schale leer ist. Ich zeige Fotos von meinen deutschen Verwandten herum. Zwei Welten treffen aufeinander.
Die Landschaft hier im Süden ist schon fast wüstenartig. Die Lehmhütte der Familie steht inmitten gelbbrauner, karger Berge. Ein Lehmzaun umschließt das kleine Grundstück mit Beetfläche, zwei Maulbeerbäumen, einer Kuh und vier Hühnern. Fließendes Wasser gibt es nicht, in einer Zisterne auf dem Hof finden 6 Kubikmeter Platz, die angeliefert wurden und einen Monat reichen müssen. Im Schuppen wird Kuhdung als Heizmaterial für den Winter gelagert. Eine Lehmkuhle ist zum Backen von Fladenbrot vorgesehen. Abends bereitet die große Tochter draußen auf offenem Feuer Plov zu.
Abgesehen von einem Schränkchen mit dem Fernseher darauf gibt es keine Möbel im Haus. Geschlafen und gegessen wird auf dem Boden. Außer ihren Kindern und dem, was ihnen die Natur gibt, haben die Leute nach westlichen Maßstäben fast nichts – aber auch nicht das Gefühl, dass ihnen viel fehlt. Das Geld, das ich ihnen am Morgen vor der Weiterreise dalassen möchte, lehnen sie ab.
Meine nächste Station ist Anjirob, ein Kishlak – wie die Dörfer hier heißen – in Sichtweite der afghanischen Grenze. Seit vielen Jahren zum ersten Mal packe ich mein Aquarellzeug aus und male: den lehmigbraunen Fluss Pandsh mit den schroffen Hindukush-Bergen dahinter, eine Granatapfelplantage… Lange bleibe ich nicht allein, ein Mann kommt vorbei, erkundigt sich nach meinem Wohnbefinden und lädt mich nach Hause ein, nachdem ich meinte, dass ich noch ein Nachtlager suche.
Anjirob ist fast das Paradies. Aufgrund der fast subtropischen Lage wächst hier nahezu alles: Feigen, Pistazien, Granatäpfel, Weintrauben, mir völlig unbekannte Dinge wie Chinesische Jojobe und sogar Zitronen. Klares Wasser kommt vom Berg und ist in unbegrenzter Fülle vorhanden. Dafür gibt es andere Dinge nicht wie Post, Briefkästen und Hausnummern, nur zwei Straßen haben Namen; Müll wird verbrannt oder im Garten vergraben. Mein Gastgeber heißt Radshabali, hat 5 Kinder und unterrichtet Geschichte an der Dorfschule. Ob ich nicht als Russischlehrer dort anfangen wolle, es gäbe gerade Bedarf? Wir essen in seinem großen Garten im Schatten von Apfel- und Birnbäumen auf einem Kat oder Taptshan genannten, mit Matten und dem Dastarkhon (Tischtuch) ausgelegten Metallgestell – wir, das heißt er und seine Söhne. Mich beeindruckt die ritualisierte, mich mit viel Aufmerksamkeit umgebende Gastfreundschaft. Sobald ich mich erhebe, werden die Pantoffeln angereicht; nach dem Toilettenbesuch steht jemand bereit und gießt mir aus einer Kanne Wasser über die Hände. Ich erkundige mich, warum Frau und Töchter nicht mit am Tischtuch sitzen. Aus Respekt vor dem Gast, erklärt mir Radshabali. 

Am ersten Vormittag hole ich mir einen heftigen Sonnenstich. Die nächsten zwei Tage geht es mir denkbar schlecht. Alles, was ich zu mir nehme, kommt entweder oben oder – trotz Loperamid – unten wieder heraus. Völlig kraftlos liege ich auf der Schlafmatte und habe trotz Durst nicht einmal die Energie, die Hand zum Wasserglas auszustrecken. Am dritten Tag fährt mich mein Gastgeber ins Krankenhaus in die nächste Kreisstadt Shurabod. Lieber Heimflug als stationäre Behandlung in Tadschikistan, schreibt der Reiseführer – aber ich beschließe, es zu riskieren. Nach einer Blutdruckmessung und einem Blick auf meine nicht belegte Zunge (wohl die Kontrolle auf Blinddarmentzündung) bekomme ich ein sauberes Einzelzimmer und zwei Flaschen Infusion, nach denen es mir deutlich besser geht. Fließendes Wasser gibt es leider keines, Plumpsklo ist im Hof, Essen kann im Geschäft über die Straße gekauft werden. Pfleger Todshiddin erkundigt sich regelmäßig nach meinem Wohlbefinden und erzählt mir von seiner Zeit als Gastarbeiter in Tschetschenien: ein muslimisches Brudervolk, man versteht sich gut, aber mit den Frauen ist man strenger, wenn ein Fremder sie anspräche, gibt’s gleich was auf die Mütze; in Tadschikistan nehme das ja keiner so genau. - Die Reinigungsfrau bringt mir Tee vorbei, man trägt extra einen Schreibtisch in mein Krankenzimmer. Ich erfahre, dass die Patienten normalerweise ihre Kanülen und Medikamente selbst mitbringen. Kurz vor der Entlassung am nächsten Morgen fällt dem Personal noch ein, dass für die offizielle Dokumentation eine Blutanalyse nötig ist, weshalb mir noch schnell ein Tropfen aus der Fingerkuppe gezogen wird. Ich zahle dem Arzt nach kurzer Verhandlung umgerechnet 20 Euro und breche auf, halbwegs gestärkt und wieder reisefähig.

                                                               Video: in Guliston 
"Immer zusammen": Werbung eines Mobilfunkanbieters für günstige Gespräche nach Russland
Recht moderne Züge (oben), aber Fahrkarten noch aus der UdSSR (unten)
Kinder studieren den Ausländer mit unverhohlener Neugierde (oben), auch meine Landkarte stößt auf Interesse (unten)
Leben am Bewässerungskanal (oben), meine erste tadschikische Gastfamilie (unten)
Abendliche Plov-Zubereitung (oben), das Kuhdung-Lager (unten)
Radshabali lädt mich in sein Früchteparadies ein (oben, am Feigenbaum); der Imbiss für den Gast ist bereitet (unten)
Der Esel als nationales Transportmittel auf dem Lande (oben); im tadschikischen Krankenhaus (unten) - auch diese Erlebnis möchte ich nicht missen, freilich erst im Rückblick :-)