Reisebericht aus Tadschikistan, Teil 4
Am Bahnhof in Duschanbe hängt ein großes Werbeplakat eines
Mobilfunkanbieters. Zu sehen ist ein junger, telefonierender Mann vor dem
Hintergrund des Moskauer Kremls, auf der anderen Seite zwei sehnsüchtig in ihr
Handy lauschende Eltern, die Teekanne vor sich stehen, im Hintergrund die
tadschikischen Berge. „Immer zusammen!“, lautet der Slogan. Eine Reklame, die
die Situation der Tadschiken auf den Punkt bringt: aus jeder Familie arbeitet mindestens
ein Mitglied in Russland, für meist ein Jahr oder länger, schickt Geld und
kommt dann mit guten Russischkenntnissen zurück. Auf dem Land sprechen die
Frauen kein Russisch, und auch von den Männern nur die, die entweder dort waren
oder älter sind und in der Sowjetarmee gedient hatten. Aber in jeder
Menschengruppe findet sich schnell einer, an den ich mich wenden kann, so dass
ich während der ganzen Reise kaum Verständigungsprobleme habe.
Eine Fahrkarte mit dem Regionalzug von Dushanbe nach Kulob
kostet umgerechnet 1,50 €. Die Fahrkarte, die ich bekomme, stammt noch aus
Sowjetzeiten, „Mittelasiatische Eisenbahn“ steht darauf. Der Zug ist deutlich
moderner als das Ticket, lässt sich in der kurvenreichen Landschaft aber viel
Zeit: 250 Kilometer nach Südosten werden in sieben Stunden zurückgelegt.
Fasziniert schaue ich auf Granatapfelplantagen, kleine Lehmhütten,
Bewässerungsrinnen und Jungs, die auf Eseln reiten – das nationale
Transportmittel auf dem Land. Plötzlich gibt es einen heftigen Knall, Staub wirbelt
auf und ein Traktoranhänger fliegt in hohem Bogen zur Seite. Jemand hatte ihn
versehentlich auf den Gleisen stehen lassen, die Lok hat ihn gerammt. Das kann
schon mal passieren, schließlich fährt der Zug nur zweimal pro Woche. Zum Glück
kein Personenschaden – nach 15 Minuten geht es weiter.
Die ersten, die Kontakt zu dem Fremdling aufnehmen, der da
neben seinem Rucksack sitzt und neugierig aus dem Fenster fotografiert, sind
Kinder, die mich zunächst schweigend bestaunen und dann ausfragen. Später beginnen
sich zwei junge Frauen für meine Landkarte zu interessieren. An der Station
Dangara ist das Portrait von Rahmon besonders groß geraten. „Hier wurde unser
Präsident geboren, am fünften Oktober neunzehnhundertzweiundfünfzig“, erklärt
mir die 15jährige Shahmigul. Es kommt wie aus der Pistole geschossen –
anscheinend elementarster Schulstoff.
Eigentlich wollte ich bis zur Endstation Kulob fahren, aber
soweit komme ich nicht. Shahmigul spricht kurz mit ihrer Mutter und lädt mich
ein, in Guliston auszusteigen und Gast der Familie zu sein. Ich folge der
Aufforderung gern und finde mich so auf dem Lande im Kreis einer tadschikischen
Familie wieder. Ich werde in einen Raum des kleinen Lehmhauses gebeten, auf dem
Boden wird der Dastarkhon
ausgebreitet, das Tischtuch, Tee, Fladenbot und Früchte stehen bereit. Man
sitzt im Schneidersitz und mustert mich aufmerksam, noch ein paar Nachbarn sind
zum Staunen hinzugeholt worden. Ich frage nach den Namen meiner Gastgeber und
schreibe sie in meinen kleinen Notizblock, denn sonst würde ich sie
augenblicklich vergessen: die Mutter Todschiniso mit Mann Abdussalom, der sechs
Jahre in Russland gearbeitet hat; die Töchter Shahmigul und Sabriná und noch
drei Söhne, der älteste davon – Ossim. Fünf Kinder, das ist keine besonders große
Familie. Aufmerksam wird Tee nachgeschenkt, sobald meine Schale leer ist. Ich
zeige Fotos von meinen deutschen Verwandten herum. Zwei Welten treffen
aufeinander.
Die Landschaft hier im Süden ist schon fast wüstenartig. Die
Lehmhütte der Familie steht inmitten gelbbrauner, karger Berge. Ein Lehmzaun
umschließt das kleine Grundstück mit Beetfläche, zwei Maulbeerbäumen, einer Kuh
und vier Hühnern. Fließendes Wasser gibt es nicht, in einer Zisterne auf dem
Hof finden 6 Kubikmeter Platz, die angeliefert wurden und einen Monat reichen
müssen. Im Schuppen wird Kuhdung als Heizmaterial für den Winter gelagert. Eine
Lehmkuhle ist zum Backen von Fladenbrot vorgesehen. Abends bereitet die große
Tochter draußen auf offenem Feuer Plov
zu.
Abgesehen von einem Schränkchen mit dem Fernseher darauf
gibt es keine Möbel im Haus. Geschlafen und gegessen wird auf dem Boden. Außer
ihren Kindern und dem, was ihnen die Natur gibt, haben die Leute nach
westlichen Maßstäben fast nichts – aber auch nicht das Gefühl, dass ihnen viel
fehlt. Das Geld, das ich ihnen am Morgen vor der Weiterreise dalassen möchte,
lehnen sie ab.
Meine nächste Station ist Anjirob, ein Kishlak – wie die Dörfer hier heißen – in Sichtweite der
afghanischen Grenze. Seit vielen Jahren zum ersten Mal packe ich mein
Aquarellzeug aus und male: den lehmigbraunen Fluss Pandsh mit den schroffen
Hindukush-Bergen dahinter, eine Granatapfelplantage… Lange bleibe ich nicht
allein, ein Mann kommt vorbei, erkundigt sich nach meinem Wohnbefinden und lädt
mich nach Hause ein, nachdem ich meinte, dass ich noch ein Nachtlager suche.
Anjirob ist fast das Paradies. Aufgrund der fast subtropischen
Lage wächst hier nahezu alles: Feigen, Pistazien, Granatäpfel, Weintrauben, mir
völlig unbekannte Dinge wie Chinesische Jojobe und sogar Zitronen. Klares
Wasser kommt vom Berg und ist in unbegrenzter Fülle vorhanden. Dafür gibt es
andere Dinge nicht wie Post, Briefkästen und Hausnummern, nur zwei Straßen
haben Namen; Müll wird verbrannt oder im Garten vergraben. Mein Gastgeber heißt
Radshabali, hat 5 Kinder und unterrichtet Geschichte an der Dorfschule. Ob ich
nicht als Russischlehrer dort anfangen wolle, es gäbe gerade Bedarf? Wir essen
in seinem großen Garten im Schatten von Apfel- und Birnbäumen auf einem Kat oder Taptshan genannten, mit Matten und dem Dastarkhon (Tischtuch) ausgelegten Metallgestell – wir, das heißt
er und seine Söhne. Mich beeindruckt die ritualisierte, mich mit viel
Aufmerksamkeit umgebende Gastfreundschaft. Sobald ich mich erhebe, werden die
Pantoffeln angereicht; nach dem Toilettenbesuch steht jemand bereit und gießt
mir aus einer Kanne Wasser über die Hände. Ich erkundige mich, warum Frau und
Töchter nicht mit am Tischtuch sitzen. Aus Respekt vor dem Gast, erklärt mir
Radshabali.
Am ersten Vormittag hole ich mir einen heftigen Sonnenstich.
Die nächsten zwei Tage geht es mir denkbar schlecht. Alles, was ich zu mir
nehme, kommt entweder oben oder – trotz Loperamid
– unten wieder heraus. Völlig kraftlos liege ich auf der Schlafmatte und habe
trotz Durst nicht einmal die Energie, die Hand zum Wasserglas auszustrecken. Am
dritten Tag fährt mich mein Gastgeber ins Krankenhaus in die nächste Kreisstadt
Shurabod. Lieber Heimflug als stationäre Behandlung in Tadschikistan, schreibt
der Reiseführer – aber ich beschließe, es zu riskieren. Nach einer
Blutdruckmessung und einem Blick auf meine nicht belegte Zunge (wohl die
Kontrolle auf Blinddarmentzündung) bekomme ich ein sauberes Einzelzimmer und
zwei Flaschen Infusion, nach denen es mir deutlich besser geht. Fließendes
Wasser gibt es leider keines, Plumpsklo ist im Hof, Essen kann im Geschäft über
die Straße gekauft werden. Pfleger Todshiddin erkundigt sich regelmäßig nach
meinem Wohlbefinden und erzählt mir von seiner Zeit als Gastarbeiter in
Tschetschenien: ein muslimisches Brudervolk, man versteht sich gut, aber mit
den Frauen ist man strenger, wenn ein Fremder sie anspräche, gibt’s gleich was
auf die Mütze; in Tadschikistan nehme das ja keiner so genau. - Die
Reinigungsfrau bringt mir Tee vorbei, man trägt extra einen Schreibtisch in
mein Krankenzimmer. Ich erfahre, dass die Patienten normalerweise ihre Kanülen
und Medikamente selbst mitbringen. Kurz vor der Entlassung am nächsten Morgen
fällt dem Personal noch ein, dass für die offizielle Dokumentation eine
Blutanalyse nötig ist, weshalb mir noch schnell ein Tropfen aus der Fingerkuppe
gezogen wird. Ich zahle dem Arzt nach kurzer Verhandlung umgerechnet 20 Euro
und breche auf, halbwegs gestärkt und wieder reisefähig.
Video: in Guliston
"Immer zusammen": Werbung eines Mobilfunkanbieters für günstige Gespräche nach Russland |
Recht moderne Züge (oben), aber Fahrkarten noch aus der UdSSR (unten) |
Kinder studieren den Ausländer mit unverhohlener Neugierde (oben), auch meine Landkarte stößt auf Interesse (unten) |
Leben am Bewässerungskanal (oben), meine erste tadschikische Gastfamilie (unten) |
Abendliche Plov-Zubereitung (oben), das Kuhdung-Lager (unten) |
Radshabali lädt mich in sein Früchteparadies ein (oben, am Feigenbaum); der Imbiss für den Gast ist bereitet (unten) |
Der Esel als nationales Transportmittel auf dem Lande (oben); im tadschikischen Krankenhaus (unten) - auch diese Erlebnis möchte ich nicht missen, freilich erst im Rückblick :-) |