Dienstag, 27. Juni 2017

Kurbulik

 
Am Wochenende wollten Niso und ich in die Berge der Halbinsel Heilige Nase aufsteigen, die sich fast anderthalb Kilometer über den Baikal hinaus erheben, majestätische, karge, oben noch ein wenig schneebedeckte Gipfel, zu denen ein gut ausgebauter Pfad hinaufführt. Am Eingang des Zabaikalskij-Nationalparkes belehrte uns der uniformierte Kontrollposten, dass aufgrund der sehr akuten Waldbrandgefahr Wandern und wildes Zelten zurzeit strengstens verboten sind. Erst nachdem der Fischer, der uns als Tramper mit seinem Auto mitgenommen hatte, dem Posten versprach, die beiden Touristen an einem bewachten Zeltplatz abzusetzen, konnten wir den Parkeintritt zahlen und wurden durchgelassen. „Ich bin Vater von sechs Söhnen“, erzählte der Mann stolz, während wir die sandige Landzunge entlangholperten, die die Heilige Nase mit dem Festland verbindet. „Meine Vorfahren wohnen seit 1932 in Kurbulik, sie sind im Zuge der Entkulakisierung aus Omsk hierher umgesiedelt worden.“ Seine Kinder wohnen in der Woche in Ust-Bargusin im Internat, da es in dem kleinen, abgeschiedenen Fischerdorf keine Schule gibt. 

Der 100-Einwohner-Ort Kurbulik, allseitig von Taiga umrahmt an der Küste der Tschivyrkuj-Bucht, ist durch zwei Handymasten mit der Zivilisation verbunden, hat aber keinen Stromanschluss. Gelegentlich hört man das Rattern eines Elektrizität erzeugenden Dieselaggregates, an einigen Häusern glänzen Solarzellen. Die Verkäuferin in dem kleinen Geschäft kommt ohne Strom aus, sie rechnet mit einem Abakus. Hinter den in einer Reihe am sandigen Ufer stehenden Holzhäusern laufen in einer sumpfigen Niederung ein paar Kühe. „Klub“ steht an einem Gebäude, an anderer Stelle bilden Holzbänke und ein Podium eine Art Freiluftbühne. Verfall und Neubau scheinen sich die Waage zu halten; im Sommer gibt es ein bescheidenes Tourismusaufkommen, ansonsten lebt man vom Fischfang. 

Sibirien, das Land der Extreme: noch vor zweieinhalb Monaten bin ich über die einen Meter dicke Eisdecke der Tschivyrkuj-Bucht spaziert. Jetzt herrscht drückende Hitze. Von unserem Zeltplatz etwas südlich von Kurbulik brachte man uns mit einem kleinen Motorboot in die Schlangenbucht zu zwei nach Schwefel riechenden, heißen Heilquellen, holzeingerahmte Wasserbecken unter freiem Himmel mit Sichtschutz zum Umkleiden. Die im Sommer dort stationierte Mitarbeiterin des Nationalparks kam sofort angelaufen, ließ sich unsere Eintritts-Quittungen zeigen und erzählte detailliert, wann man wo und wie lange in den Quellen baden sollte und dass sie gut für die Gelenke, aber schlecht für die inneren Organe sind, wenn man zu lange in ihnen sitzt. Ich erwähnte beiläufig, dass wir eigentlich geplant hätten, in die Berge zu gehen, aber nun ja, eine Heilquelle sei auch ganz schön… Da gäbe es durchaus Möglichkeiten, meinte die Parkwächterin, mit einer Spezialgenehmigung der Direktion und dem hochheiligen Versprechen, kein Lagerfeuer zu entzünden. Dafür war es jetzt leider zu spät; brav das Wanderverbot befolgend, fuhren wir mit dem Boot auch wieder zurück. Ärgerlich natürlich, diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit in der Natur – im Grunde aber gut, dass es einen Nationalpark gibt mit Regeln, die Ernst genommen werden und keine anarchischen Zustände mehr wie zu Ende der 90er Jahre, wie sie zum Beispiel Bednarz in seiner „Ballade vom Baikalsee“ beschreibt.

Die Schlangenbucht mit den zwei Heilquellen



Das Inselchen Pokojnitskij kamen in der Tschivirkuj-Bucht






Kurbulik
Moosglöckchen (Linnaea borealis)
Eine Waldrebe (Atragene sibirica)