Freitag, 23. Juni 2017

Ich kann gerade nicht sprechen

Es gibt Momente im Leben, da kann der Mensch keine Handyanrufe entgegennehmen. Wenn man in einem Vorstellungsgespräch sitzt zu Beispiel, gerade eine Vorlesung hält oder mit dem Partner im Bett beschäftigt ist. In Situationen, in denen telefonieren unmöglich ist, würden die meisten Menschen in Deutschland nicht telefonieren. Nicht für alle Kulturkreise hat diese Logik Gültigkeit. Jemand, der in Russland gerade am Telefon nicht sprechen kann, weil er etwa in einem Konzert sitzt, an der Kasse Geld aus dem Portemonnaie nimmt oder Kuchen aus dem heißen Backofen balanciert, kramt unbedingt und auf jeden Fall hastig sein Smartphone hervor und verkündet: „Ich kann gerade nicht sprechen!“. Andernfalls könnte der Anrufer denken, man ignoriere ihn bewusst und hätte etwas gegen seine Person. Wie fundamental bedeutend dieser Unterschied im Kommunikationsverhalten zwischen Deutschen und Russen ist, wurde mir klar, als meine burjatische Bekannte Ira mich fragte, warum denn Anna, unsere österreichische Praktikantin, sich ihr gegenüber so komisch verhalten würde? Anna hätte ihre letzten Anrufe nicht entgegengenommen. Geduldig erklärte ich ihr, dass es in unserem Kulturkreis nicht üblich sei, abzuheben, nur um zu sagen, man hätte jetzt keine Zeit – dafür gäbe es die Möglichkeit, etwas später zurückzurufen, oder es existiere die (in Russland weitgehend unbekannte) Einrichtung der Mailbox.  Ira staunte nicht schlecht und bedankte sich bei mir für die Aufklärung. Mir wurde in dem Moment auch klar, warum der erste Satz, den ich von Anrufern am Telefon höre, nachdem ich mich mit dem üblichen „Allo“ gemeldet habe, nicht selten lautet: „Kannst du jetzt sprechen?“
Das beschriebene Verhalten fügt sich ein in die typisch östliche Tendenz, Dinge nicht nacheinander linear abzuarbeiten, sondern sie gleichzeitig ineinanderfließen zu lassen. Wo eine Sache stattfindet, kann durchaus auch noch eine andere ihren Platz haben, zeitlichen Grenzen wohnt eine gewisse Unschärfe inne. So, wie zum Beispiel bei der Verteidigung der studentischen Master-Abschlussarbeiten: Die Studentin, die als erstes beginnen sollte, kommt 10 Minuten später. Die Vorsitzende der vierköpfigen Prüfungskommission taucht überhaupt erst nach einer Stunde auf – natürlich hat man längst ohne sie begonnen. Nebenbei werden noch tausend andere Formalitäten erledigt, die Sekretärin läuft hinein und hinaus, es ist nicht ganz klar, wer eigentlich zuhört, wenn die Absolventen den Inhalt ihrer Arbeit in einer kurzen Präsentation herunterrasseln. Ein schönes Bild für das nichtlineare Zeitverständnis auch der orthodoxe Gottesdienst: Kommen, Gehen, Zelebrieren, Fußboden wischen, Kerzen verkaufen und Ikonen küssen – alles ist auf geheimnisvolle Weise untrennbar ineinander verwoben. Der Westeuropäer steht daneben und versucht es in seinem strukturierten Verstand vergeblich zu ordnen.
Die kleinen kulturellen Unterschiede, die das Leben in einer deutsch-russischen Partnerschaft spannend machen, erstrecken sich bis in das Badezimmer hinein. Neulich hatten wir in der Toilette eine kleine, harmlose Verstopfung, die nach dreimaliger Betätigung des Spülknopfes wieder behoben war. Meine Freundin interessierte sich für die Ursache und fragte, ob ich denn nicht etwa das im Verlaufe des großen Geschäftes benutzte Klopapier versehentlich ins Klo geworfen habe. Ich schaute sie verwundert an: ja, wohin denn sonst? Natürlich gehöre das in den Mülleimer daneben, rief Niso entsetzt in der vollsten Überzeugung von der Richtigkeit dieser für sie einzig denkbaren Entsorgungsvariante. Mir fiel es in diesem Moment wieder ein, weil ich es von öffentlichen russischen Toiletten natürlich kenne, aber nie auch auf das häusliche Privatleben übertragen hätte. Geringer Wasserdruck, halb defekte Spülvorrichtungen und sich kaum zersetzendes, weil zeitungspapierartig zähes Toilettenpapier mögen die Ursache sein für große Warnschilder: „Nichts ins Klobecken werfen!“

Gestern habe ich zum ersten Mal in Ulan-Ude eine Zahnarztpraxis aufgesucht. Während ich in Deutschland einen Termin drei Monate im Voraus machen muss, konnte ich in die „Konzeptklinik Ojun Spasovoj“ gleich am nächsten Tag kommen. Die Endung des Familiennamens verrät eine Frau, der Vorname klang für mich aber männlich – Ojun sei ein mongolischer Frauenname, klärte mich die Zahnärztin auf, Verdiente Zahnärztin der Republik Burjatien und bestimmt eine der besten der Stadt, während sie aufmerksam meinen Mund von innen begutachtete und Plomben, Kronen und Brücke mit ihrem Spiegelchen studierte. „Ja, deutsche Zahntechnik ist wirklich weltklasse!“, meinte sie anerkennend und ließ von ihrer Assistentin eine Aufnahme zweier Zähne mit dem deutschen Röntgenapparat anfertigen. Ein größerer Eingriff war zum Glück nicht nötig, reinigen, polieren, ein bisschen abschleifen – am Ende kam ich mit 900 Rubeln davon, ein Betrag, für den ein deutscher Zahnarzt gerade einmal „Guten Tag“ sagen würde, wenn man selbst zahlen müsste.

Mein zweites Studienjahr hier ist zuende gegangen. Am Abend saß ich vor dem Operntheater, aus einem Plastikbecher Kwass schlürfend, zusammen mit meinen ausländischen Kollegen Valentin, Isabella und Anna. Die brütende Hitze des Tages hatte ein wenig nachgelassen, das in Fontänen aufspritzende Wasser des Springbrunnens harmonierte zu Prokofjew- und Chatschaturjan-Klängen aus dem Lautsprecher, junge Paare wandelten zuckerwatteessend über den Platz und begleiteten ihre stolz kleine Motorautos lenkenden Kinderchen. Valentin, ein charmanter Franzose, war in diesem Semester Unterrichtspraktikant an unserem Lehrstuhl. Isabella, eine junge Amerikanerin, hatte am Nachbarlehrstuhl ein Jahr lang Englisch unterrichtet. Anna kommt aus Österreich, genauer aus Vorarlberg – von dort, wo ich in früher Jugend meine ersten Zweitausender erklomm und für den Rest des Lebens die Liebe zu den Bergen entdeckte. Anna hatte in diesem Semester bei uns Deutsch unterrichtet und den Studenten beigebracht, dass man bei ihr Jänner, Erdapfel und Häferl statt Januar, Kartoffel und Tasse sagt und dass die österreichischen Ausdrücke als anerkannte Varianten gleichberechtigt neben den in Deutschland üblichen stehen. Zu meiner großen Freude spielt Anna Klavier – gerade hatten wir bei uns am Institut ein Konzert unter dem Motto „Klassik goes Tango“ gegeben. Dreißig Zuhörer, Studenten und Kollegen, alle begeistert, wo sonst hört man Sibirien Piazzolla bearbeitet für Cello und Piano? „Wir würden uns freuen, wenn Sie während des Konzertes keine Anrufe entgegennehmen könnten“, hatte ich die Besucher vor Beginn gebeten. Verständnisvolles Nicken. Die Westeuropäer haben eben so ihre speziellen Wünsche. Tatsächlich holte dann auch niemand sein Handy hervor, um zu sagen: „Ich kann gerade nicht sprechen!“

Die Kollegen Isabella (USA), Anna (Österreich), Valentin (Frankreich); Student Zhargal (Burjatien)