Es gibt Momente im Leben, da kann der Mensch keine
Handyanrufe entgegennehmen. Wenn man in einem Vorstellungsgespräch sitzt zu
Beispiel, gerade eine Vorlesung hält oder mit dem Partner im Bett beschäftigt
ist. In Situationen, in denen telefonieren unmöglich ist, würden die meisten
Menschen in Deutschland nicht telefonieren. Nicht für alle Kulturkreise hat
diese Logik Gültigkeit. Jemand, der in Russland gerade am Telefon nicht
sprechen kann, weil er etwa in einem Konzert sitzt, an der Kasse Geld
aus dem Portemonnaie nimmt oder Kuchen aus dem heißen Backofen balanciert,
kramt unbedingt und auf jeden Fall hastig sein Smartphone hervor und verkündet:
„Ich kann gerade nicht sprechen!“. Andernfalls könnte der Anrufer denken, man
ignoriere ihn bewusst und hätte etwas gegen seine Person. Wie fundamental
bedeutend dieser Unterschied im Kommunikationsverhalten zwischen Deutschen und
Russen ist, wurde mir klar, als meine burjatische Bekannte Ira mich fragte,
warum denn Anna, unsere österreichische Praktikantin, sich ihr gegenüber so
komisch verhalten würde? Anna hätte ihre letzten Anrufe nicht entgegengenommen.
Geduldig erklärte ich ihr, dass es in unserem Kulturkreis nicht üblich sei,
abzuheben, nur um zu sagen, man hätte jetzt keine Zeit – dafür gäbe es die
Möglichkeit, etwas später zurückzurufen, oder es existiere die (in Russland
weitgehend unbekannte) Einrichtung der Mailbox.
Ira staunte nicht schlecht und bedankte sich bei mir für die Aufklärung.
Mir wurde in dem Moment auch klar, warum der erste Satz, den ich von Anrufern
am Telefon höre, nachdem ich mich mit dem üblichen „Allo“ gemeldet habe, nicht
selten lautet: „Kannst du jetzt sprechen?“
Das beschriebene Verhalten fügt sich ein in die typisch
östliche Tendenz, Dinge nicht nacheinander linear abzuarbeiten, sondern sie
gleichzeitig ineinanderfließen zu lassen. Wo eine Sache stattfindet, kann
durchaus auch noch eine andere ihren Platz haben, zeitlichen Grenzen wohnt eine
gewisse Unschärfe inne. So, wie zum Beispiel bei der Verteidigung der
studentischen Master-Abschlussarbeiten: Die Studentin, die als erstes beginnen
sollte, kommt 10 Minuten später. Die Vorsitzende der vierköpfigen Prüfungskommission
taucht überhaupt erst nach einer Stunde auf – natürlich hat man längst ohne sie
begonnen. Nebenbei werden noch tausend andere Formalitäten erledigt, die
Sekretärin läuft hinein und hinaus, es ist nicht ganz klar, wer eigentlich
zuhört, wenn die Absolventen den Inhalt ihrer Arbeit in einer kurzen
Präsentation herunterrasseln. Ein schönes Bild für das nichtlineare
Zeitverständnis auch der orthodoxe Gottesdienst: Kommen, Gehen, Zelebrieren,
Fußboden wischen, Kerzen verkaufen und Ikonen küssen – alles ist auf
geheimnisvolle Weise untrennbar ineinander verwoben. Der Westeuropäer steht
daneben und versucht es in seinem strukturierten Verstand vergeblich zu ordnen.
Die kleinen kulturellen Unterschiede, die das Leben in einer
deutsch-russischen Partnerschaft spannend machen, erstrecken sich bis in das Badezimmer hinein. Neulich hatten wir in der Toilette eine kleine,
harmlose Verstopfung, die nach dreimaliger Betätigung des Spülknopfes wieder
behoben war. Meine Freundin interessierte sich für die Ursache und fragte, ob
ich denn nicht etwa das im Verlaufe des großen Geschäftes benutzte Klopapier
versehentlich ins Klo geworfen habe. Ich schaute sie verwundert an: ja, wohin
denn sonst? Natürlich gehöre das in den Mülleimer daneben, rief Niso entsetzt
in der vollsten Überzeugung von der Richtigkeit dieser für sie einzig denkbaren
Entsorgungsvariante. Mir fiel es in diesem Moment wieder ein, weil ich es von
öffentlichen russischen Toiletten natürlich kenne, aber nie auch auf das
häusliche Privatleben übertragen hätte. Geringer Wasserdruck, halb defekte
Spülvorrichtungen und sich kaum zersetzendes, weil zeitungspapierartig zähes
Toilettenpapier mögen die Ursache sein für große Warnschilder: „Nichts ins
Klobecken werfen!“
Gestern habe ich zum ersten Mal in Ulan-Ude eine
Zahnarztpraxis aufgesucht. Während ich in Deutschland einen Termin drei Monate
im Voraus machen muss, konnte ich in die „Konzeptklinik Ojun Spasovoj“ gleich
am nächsten Tag kommen. Die Endung des Familiennamens verrät eine Frau, der
Vorname klang für mich aber männlich – Ojun sei ein mongolischer Frauenname,
klärte mich die Zahnärztin auf, Verdiente Zahnärztin der Republik Burjatien und
bestimmt eine der besten der Stadt, während sie aufmerksam meinen Mund von
innen begutachtete und Plomben, Kronen und Brücke mit ihrem Spiegelchen
studierte. „Ja, deutsche Zahntechnik ist wirklich weltklasse!“, meinte sie
anerkennend und ließ von ihrer Assistentin eine Aufnahme zweier Zähne mit dem
deutschen Röntgenapparat anfertigen. Ein größerer Eingriff war zum Glück nicht
nötig, reinigen, polieren, ein bisschen abschleifen – am Ende kam ich mit 900
Rubeln davon, ein Betrag, für den ein deutscher Zahnarzt gerade einmal „Guten
Tag“ sagen würde, wenn man selbst zahlen müsste.
Mein zweites Studienjahr hier ist zuende gegangen. Am Abend
saß ich vor dem Operntheater, aus einem Plastikbecher Kwass schlürfend,
zusammen mit meinen ausländischen Kollegen Valentin, Isabella und Anna. Die
brütende Hitze des Tages hatte ein wenig nachgelassen, das in Fontänen
aufspritzende Wasser des Springbrunnens harmonierte zu Prokofjew- und
Chatschaturjan-Klängen aus dem Lautsprecher, junge Paare wandelten
zuckerwatteessend über den Platz und begleiteten ihre stolz kleine Motorautos
lenkenden Kinderchen. Valentin, ein charmanter Franzose, war in diesem Semester
Unterrichtspraktikant an unserem Lehrstuhl. Isabella, eine junge Amerikanerin,
hatte am Nachbarlehrstuhl ein Jahr lang Englisch unterrichtet. Anna kommt aus
Österreich, genauer aus Vorarlberg – von dort, wo ich in früher Jugend meine
ersten Zweitausender erklomm und für den Rest des Lebens die Liebe zu den
Bergen entdeckte. Anna hatte in diesem Semester bei uns Deutsch unterrichtet
und den Studenten beigebracht, dass man bei ihr Jänner, Erdapfel und Häferl
statt Januar, Kartoffel und Tasse sagt und dass die österreichischen Ausdrücke
als anerkannte Varianten gleichberechtigt neben den in Deutschland üblichen
stehen. Zu meiner großen Freude spielt Anna Klavier – gerade hatten wir bei uns
am Institut ein Konzert unter dem Motto „Klassik goes Tango“ gegeben. Dreißig Zuhörer,
Studenten und Kollegen, alle begeistert, wo sonst hört man Sibirien Piazzolla
bearbeitet für Cello und Piano? „Wir würden uns freuen, wenn Sie während des
Konzertes keine Anrufe entgegennehmen könnten“, hatte ich die Besucher vor
Beginn gebeten. Verständnisvolles Nicken. Die Westeuropäer haben eben so ihre
speziellen Wünsche. Tatsächlich holte dann auch niemand sein Handy hervor, um
zu sagen: „Ich kann gerade nicht sprechen!“
Die Kollegen Isabella (USA), Anna (Österreich), Valentin (Frankreich); Student Zhargal (Burjatien) |