Freitag, 9. Juni 2017

Von einem riesigen Plakat an der Hauptstraße

...schaut mit ernstem, fast strengem Gesichtsausdruck Wladimir Iljitsch Lenin auf die Passanten herab. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution wird erinnert an die - inzwischen der Vergangenheit angehörenden - „Errungenschaften des Großen Oktobers 1917: kostenlose Ausbildung, kostenlose Medizin, garantierte Renten, kostenloser Wohnraum und Recht auf Arbeit“. „Wie lebt es sich denn so unter dem Kapitalismus?“, fragt der Revolutionsführer in die Runde. Rechts oben prangen Hammer und Sichel und die Buchstaben KPRF, Kommunistische Partei der Russischen Föderation, die Nachfolgerin der KPdSU. Bei den letzten Parlamentswahlen war sie mit 13 Prozent zweitstärkste Gruppierung geworden. 

Gespräche über Politik führe ich hier ausgesprochen selten. Gelegentlich berichten ältere Kollegen am Lehrstuhl davon, wie das Leben zu Sowjetzeiten war. Mit einem Anflug von Nostalgie und Bedauern erinnert man sich an die viel besser funktionierende Wirtschaft – in Ulan-Ude war der Himmel vom Schadstoffausstoß deutlich grauer als heute, wo es außer dem Hubschrauber- und dem Lokomotivenreparaturwerk keine großen Industriebetriebe mehr gibt – an die blühende Landwirtschaft und an den regen Flugverkehr zwischen kleineren Siedlungen auf dem Land. Strom und Wasser waren bezahlbar, niemand musste um seinen Arbeitsplatz bangen. Man wirtschaftete bescheiden, aber da ungefähr alle gleich bescheiden lebten, fühlte sich keiner arm, anders als heute, wo es alles gibt, aber zu Preisen, die in keinem Verhältnis zu dem bescheidenen Einkommen stehen. Für einen Ausländer ist das nicht sofort offensichtlich. Wenn ich manchmal Gästen davon erzähle, dass das Netto-Durchschnittseinkommen in Burjatien etwa 300 Euro beträgt, bleibt so manchem der Mund vor Verwunderung offen stehen. Mitunter kommt die Rede in den Gesprächen mit den Einheimischen auch auf die Nachteile ihrer jungen Jahre, das ewige Schlangestehen, die kleine Zahl an privilegierter Parteinomenklatura, das Abgeschottetsein gegenüber dem Westen, die Schwierigkeiten, zu reisen, auch innerhalb des riesigen Landes. Ganz selten kommt die Sprache auf politische Repressionen, auf die Straflager zur Stalinzeit. Die meisten vor allem jungen Menschen sind weitgehend apolitisch. Kaum findet man jemanden, der klar mit einer politischen Partei sympathisiert. Die Person des Präsidenten, seine überzeugte, bestimmte und väterliche Art zu reden flößen Sympathie und Vertrauen ein, wer sich schon die Mühe macht und wählt, wählt Putins „Einiges Russland“.

 Meine Freundin hat ihr Schengen-Visum für Deutschland bekommen. Damit steht unserer gemeinsamen Sommerreise nichts mehr im Wege, und in Vorbereitung darauf lernt Niso fleißig Deutsch. Die Wohnungseinrichtung ist bei uns inzwischen auf Deutsch beschriftet - "der Kühlschrank, die Tür" usw., und ich denke mir Mini-Gedichte aus für sie zum Auswendiglernen. „Wir warten / im Garten / und sehen verschiedene Schmetterlingsarten“, oder „Die Sonne scheint / die Vögel singen / kannst du mir bitte ein Glas Wasser bringen?“ So gehen die wichtigen Wörter besser ins Blut über, vielleicht. Ich freue mich schon sehr darauf, einem vertrauten Menschen meine Heimat zu zeigen.

 In dem großen Wohnzimmer der aristokratischen Tatjana Stepanovna haben Pianistin Nina und ich vor einer Handvoll Freunden unseren dritten „Musikalischen Salon“ veranstaltet. Beethoven, dritte Cellosonate, erster Satz: wie kann es sein, dass mir nach 12 Jahren Musikschule ein solches Meisterwerk unbekannt geblieben war? Bei Fauré’s „Elegie“ ging das rechte Klavierpedal kaputt, Piazzollas „Libertango“ musste deshalb ohne auskommen.