...schaut mit
ernstem, fast strengem Gesichtsausdruck Wladimir Iljitsch Lenin auf die Passanten herab. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Großen
Sozialistischen Oktoberrevolution wird erinnert an die - inzwischen der Vergangenheit angehörenden - „Errungenschaften des
Großen Oktobers 1917: kostenlose Ausbildung, kostenlose Medizin, garantierte
Renten, kostenloser Wohnraum und Recht auf Arbeit“. „Wie lebt es sich denn so
unter dem Kapitalismus?“, fragt der Revolutionsführer in die Runde. Rechts oben
prangen Hammer und Sichel und die Buchstaben KPRF, Kommunistische Partei der
Russischen Föderation, die Nachfolgerin der KPdSU. Bei den letzten
Parlamentswahlen war sie mit 13 Prozent zweitstärkste Gruppierung geworden.
Gespräche
über Politik führe ich hier ausgesprochen selten. Gelegentlich berichten ältere
Kollegen am Lehrstuhl davon, wie das Leben zu Sowjetzeiten war. Mit einem
Anflug von Nostalgie und Bedauern erinnert man sich an die viel besser
funktionierende Wirtschaft – in Ulan-Ude war der Himmel vom Schadstoffausstoß
deutlich grauer als heute, wo es außer dem Hubschrauber- und dem
Lokomotivenreparaturwerk keine großen Industriebetriebe mehr gibt – an die
blühende Landwirtschaft und an den regen Flugverkehr zwischen kleineren
Siedlungen auf dem Land. Strom und Wasser waren bezahlbar, niemand musste um
seinen Arbeitsplatz bangen. Man wirtschaftete bescheiden, aber da ungefähr alle
gleich bescheiden lebten, fühlte sich keiner arm, anders als heute, wo es alles
gibt, aber zu Preisen, die in keinem Verhältnis zu dem bescheidenen Einkommen
stehen. Für einen Ausländer ist das nicht sofort offensichtlich. Wenn ich
manchmal Gästen davon erzähle, dass das Netto-Durchschnittseinkommen in
Burjatien etwa 300 Euro beträgt, bleibt so manchem der Mund vor Verwunderung
offen stehen. Mitunter kommt die Rede in den Gesprächen mit den Einheimischen
auch auf die Nachteile ihrer jungen Jahre, das ewige Schlangestehen, die kleine
Zahl an privilegierter Parteinomenklatura, das Abgeschottetsein gegenüber dem
Westen, die Schwierigkeiten, zu reisen, auch innerhalb des riesigen Landes.
Ganz selten kommt die Sprache auf politische Repressionen, auf die Straflager
zur Stalinzeit. Die meisten vor allem jungen Menschen sind weitgehend
apolitisch. Kaum findet man jemanden, der klar mit einer politischen Partei sympathisiert. Die Person des Präsidenten, seine
überzeugte, bestimmte und väterliche Art zu reden flößen Sympathie und Vertrauen
ein, wer sich schon die Mühe macht und wählt, wählt Putins „Einiges Russland“.
Meine Freundin hat ihr Schengen-Visum für Deutschland bekommen. Damit
steht unserer gemeinsamen Sommerreise nichts mehr im Wege, und in Vorbereitung
darauf lernt Niso fleißig Deutsch. Die Wohnungseinrichtung ist bei uns inzwischen auf Deutsch beschriftet - "der Kühlschrank, die Tür" usw., und ich denke mir Mini-Gedichte aus für sie
zum Auswendiglernen. „Wir warten / im Garten / und sehen verschiedene
Schmetterlingsarten“, oder „Die Sonne scheint / die Vögel singen / kannst du
mir bitte ein Glas Wasser bringen?“ So gehen die wichtigen Wörter besser ins
Blut über, vielleicht. Ich freue mich schon sehr darauf, einem vertrauten
Menschen meine Heimat zu zeigen.
In dem großen Wohnzimmer der aristokratischen
Tatjana Stepanovna haben Pianistin Nina und ich vor einer Handvoll Freunden
unseren dritten „Musikalischen Salon“ veranstaltet. Beethoven, dritte
Cellosonate, erster Satz: wie kann es sein, dass mir nach 12 Jahren Musikschule
ein solches Meisterwerk unbekannt geblieben war? Bei Fauré’s „Elegie“ ging das
rechte Klavierpedal kaputt, Piazzollas „Libertango“ musste deshalb ohne
auskommen.