Mit weichen Knien, nassen Füßen
und schmerzendem Rücken stehe ich in Glinka am Ufer und lausche, wie die vom
Wind aufgepeitschten Wellen mit weißer Gischt an den Geröllstrand klatschen. An
einem so stürmischen und nebligen Tag, wenn die gegenüberliegenden Berge sich
dem Blick entziehen, kann man tatsächlich den Eindruck haben, an einem Meer zu
stehen und nicht an einem See. Nur der Salzgeschmack in der Luft fehlt – und
der direkte Vergleich würde auch zeigen, dass das Geräusch der Wellen ein
anderes ist, Meerwasser ist zäher, sein Anbrausen und Aufspritzen klingt
klebriger, schwerer. Gerade bin ich den so genannten, recht gut markierten
„Pfad der Herausforderung“ anderthalb Höhenkilometer nach oben und wieder nach
unten gelaufen. Nebel, Sichtweite dreißig Meter, null Ausblick – erst beim
Abstieg, als schon fast die Waldgrenze wieder erreicht war, vertrieb der Wind
die Wolken und es öffnete sich ein Bild wie aus dem Flugzeugfenster: über die
Bargusin-Bucht, die Tschivirkuj-Bucht und die Landzunge zwischen ihnen mit dem
längsten Sandstrand des Baikal, der sich in ästhetisch sanft geschwungenem
Bogen derart perfekt dahinzieht, als wäre er künstlich angelegt.
Die Siedlung Glinka auf der
Halbinsel Heilige Nase hat etwa acht Häuser und einen Einwohner. Bis zu den sechziger
Jahren gab es hier wohl ein richtiges Fischerdorf. In den Neunzigern errichtete
ein Unternehmer eine Art Ferienhaussiedlung. Als alles zur Inbetriebnahme
bereit war, brannte das Hauptgebäude ab. Ein monumentales, birkenüberwuchertes
Steinfundament zeugt von den großen Plänen, ein verfallenes Holztor über dem
Fahrweg, kleinere und größere Holzhütten in verschieden ruinösem Zustand. Etwas
Farbe ins Bild kommt durch neue, auffällige rote Schilder: „Privateigentum,
Betreten verboten, bewaffneter Wächter, Videoüberwachung“. Der Wächter in dem
einzig intakten Gebäude wacht wohl darüber, dass niemand den natürlichen
Verfall aufhält – oder ihn etwa beschleunigt, indem er Bretter und Dachpappe
klaut. Es ist wie so oft hier im Land: jemand hatte eine Idee, aber es ist
nichts draus geworden; die Reste bleiben für die Nachwelt noch ein paar
Jahrzehnte erhalten.
Die Halbinsel Heilige Nase gehört
zum Sabaikalskij-Nationalpark. Für einen Eintritt bekommt man die Erlaubnis,
ihn zu betreten oder zu befahren und darf sich auf den sandigen Straßen und
Pfaden frei bewegen – es sei denn, es gelten aufgrund großer Trockenheit gerade
besondere Brandschutzbestimmungen; dann ist eine gesonderte Erlaubnis von der
Nationalparkverwaltung erforderlich, die gegen das Versprechen, kein Lagerfeuer
zu entzünden, erteilt wird. An den Ufern des Baikals, seit 1996
UNESCO-Weltnaturerbe, gibt es insgesamt 10 Schutzgebiete: drei Reservate (russ.
Sapovednik – hier sind die
Bestimmungen am strengsten), zwei Nationalparks und fünf Naturschutzgebiete
(russ. Sakasnik). Zu den ersten
beiden gibt es in Deutschland von der Strenge des Schutzstatus her keine
Gegenstücke.
Großflächig verkohltes Unterholz
und schwarze Stämme der Birken und Kiefern zeugen von dem Waldbrand, der im
Jahre 2015 auf der Heiligen Nase wütete. In diesem Jahr erfolgt die
Brandbekämpfung in der Baikalregion teils mit künstlichem Regen: ein Flugzeug
schießt von oben Chemikalien in die Wolken, damit sie sich abregnen. Seit
letztem Wochenende ist eine lange Hitzephase erst einmal vorbei, ob die Regenfälle
der vergangenen Tage nun künstlich sind oder natürlich, weiß man nicht genau.
Schon in den letzten Jahren hätten die Mongolen künstlich Niederschlag erzeugt,
heißt es, weshalb damals in den nach Burjatien weiterziehenden Wolken kein
Wasser mehr übrig blieb.
Als ich mein Zelt aufstelle und
Dozhirak-Schnellkochnudeln in den Aluminiumtopf auf dem Gaskocher werfe, hat
der Regen zum Glück aufgehört. Der Nebel ist verschwunden, am anderen Ufer
lassen sich die Siedlungen Ust-Bargusin und Maximicha vor der blaugrauen
Bergkulisse erahnen. Der Baikal ist eigentlich kein Meer, aber vielleicht ist
er ja das Meer der Zukunft – wenn man den Wissenschaftlern Glauben schenkt, die
errechnet haben, dass seine Ufer jedes Jahr um zwei Zentimeter
auseinanderdriften.
Bis vor drei Jahren fuhr hier in Ust-Bargusin die Fähre über den Fluss (oben), inzwischen gibt es eine Brücke (unten im Hintergrund) |
Einige der verfallenden Hütten in Glinka taugen noch als Regenschutz beim Frühstück (oben); die Natur holt sich ihr Reich zurück (unten) |
Zeltplatz zwischen verkohlten Baumstämmen - Ergebnis des Waldbrandes 2015 (oben); keine Sicht beim Aufstieg (unten) |
Eine lange Sandzunge verbindet die Heilige Nase mit dem Festland (oben), Blick auf die Tschivirkuj- und die Bargusin-Bucht (unten, ganz unten) |
Der Berggrat auf der Heiligen Nase, auf dem der "Pfad der Herausforderung" verläuft |