Freitag, 7. Juli 2017

Glinka



Mit weichen Knien, nassen Füßen und schmerzendem Rücken stehe ich in Glinka am Ufer und lausche, wie die vom Wind aufgepeitschten Wellen mit weißer Gischt an den Geröllstrand klatschen. An einem so stürmischen und nebligen Tag, wenn die gegenüberliegenden Berge sich dem Blick entziehen, kann man tatsächlich den Eindruck haben, an einem Meer zu stehen und nicht an einem See. Nur der Salzgeschmack in der Luft fehlt – und der direkte Vergleich würde auch zeigen, dass das Geräusch der Wellen ein anderes ist, Meerwasser ist zäher, sein Anbrausen und Aufspritzen klingt klebriger, schwerer. Gerade bin ich den so genannten, recht gut markierten „Pfad der Herausforderung“ anderthalb Höhenkilometer nach oben und wieder nach unten gelaufen. Nebel, Sichtweite dreißig Meter, null Ausblick – erst beim Abstieg, als schon fast die Waldgrenze wieder erreicht war, vertrieb der Wind die Wolken und es öffnete sich ein Bild wie aus dem Flugzeugfenster: über die Bargusin-Bucht, die Tschivirkuj-Bucht und die Landzunge zwischen ihnen mit dem längsten Sandstrand des Baikal, der sich in ästhetisch sanft geschwungenem Bogen derart perfekt dahinzieht, als wäre er künstlich angelegt.

Die Siedlung Glinka auf der Halbinsel Heilige Nase hat etwa acht Häuser und einen Einwohner. Bis zu den sechziger Jahren gab es hier wohl ein richtiges Fischerdorf. In den Neunzigern errichtete ein Unternehmer eine Art Ferienhaussiedlung. Als alles zur Inbetriebnahme bereit war, brannte das Hauptgebäude ab. Ein monumentales, birkenüberwuchertes Steinfundament zeugt von den großen Plänen, ein verfallenes Holztor über dem Fahrweg, kleinere und größere Holzhütten in verschieden ruinösem Zustand. Etwas Farbe ins Bild kommt durch neue, auffällige rote Schilder: „Privateigentum, Betreten verboten, bewaffneter Wächter, Videoüberwachung“. Der Wächter in dem einzig intakten Gebäude wacht wohl darüber, dass niemand den natürlichen Verfall aufhält – oder ihn etwa beschleunigt, indem er Bretter und Dachpappe klaut. Es ist wie so oft hier im Land: jemand hatte eine Idee, aber es ist nichts draus geworden; die Reste bleiben für die Nachwelt noch ein paar Jahrzehnte erhalten.

Die Halbinsel Heilige Nase gehört zum Sabaikalskij-Nationalpark. Für einen Eintritt bekommt man die Erlaubnis, ihn zu betreten oder zu befahren und darf sich auf den sandigen Straßen und Pfaden frei bewegen – es sei denn, es gelten aufgrund großer Trockenheit gerade besondere Brandschutzbestimmungen; dann ist eine gesonderte Erlaubnis von der Nationalparkverwaltung erforderlich, die gegen das Versprechen, kein Lagerfeuer zu entzünden, erteilt wird. An den Ufern des Baikals, seit 1996 UNESCO-Weltnaturerbe, gibt es insgesamt 10 Schutzgebiete: drei Reservate (russ. Sapovednik – hier sind die Bestimmungen am strengsten), zwei Nationalparks und fünf Naturschutzgebiete (russ. Sakasnik). Zu den ersten beiden gibt es in Deutschland von der Strenge des Schutzstatus her keine Gegenstücke.

Großflächig verkohltes Unterholz und schwarze Stämme der Birken und Kiefern zeugen von dem Waldbrand, der im Jahre 2015 auf der Heiligen Nase wütete. In diesem Jahr erfolgt die Brandbekämpfung in der Baikalregion teils mit künstlichem Regen: ein Flugzeug schießt von oben Chemikalien in die Wolken, damit sie sich abregnen. Seit letztem Wochenende ist eine lange Hitzephase erst einmal vorbei, ob die Regenfälle der vergangenen Tage nun künstlich sind oder natürlich, weiß man nicht genau. Schon in den letzten Jahren hätten die Mongolen künstlich Niederschlag erzeugt, heißt es, weshalb damals in den nach Burjatien weiterziehenden Wolken kein Wasser mehr übrig blieb.

Als ich mein Zelt aufstelle und Dozhirak-Schnellkochnudeln in den Aluminiumtopf auf dem Gaskocher werfe, hat der Regen zum Glück aufgehört. Der Nebel ist verschwunden, am anderen Ufer lassen sich die Siedlungen Ust-Bargusin und Maximicha vor der blaugrauen Bergkulisse erahnen. Der Baikal ist eigentlich kein Meer, aber vielleicht ist er ja das Meer der Zukunft – wenn man den Wissenschaftlern Glauben schenkt, die errechnet haben, dass seine Ufer jedes Jahr um zwei Zentimeter auseinanderdriften.

Bis vor drei Jahren fuhr hier in Ust-Bargusin die Fähre über den Fluss (oben), inzwischen gibt es eine Brücke (unten im Hintergrund)
Einige der verfallenden Hütten in Glinka taugen noch als Regenschutz beim Frühstück (oben); die Natur holt sich ihr Reich zurück (unten)
Zeltplatz zwischen verkohlten Baumstämmen - Ergebnis des Waldbrandes 2015 (oben); keine Sicht beim Aufstieg (unten)

Eine lange Sandzunge verbindet die Heilige Nase mit dem Festland (oben), Blick auf die Tschivirkuj- und die Bargusin-Bucht (unten, ganz unten)
Der Berggrat auf der Heiligen Nase, auf dem der "Pfad der Herausforderung" verläuft