Mittwoch, 21. Juni 2017

Bildung und Medizin

Neulich wurde Niso von einer Mitstudentin gefragt, ob sie ihre Diplomarbeit schon bestellt habe? Siebzehntausend kostet es, ein knappes Monatsgehalt, mit Rabatt fünfzehntausend. Zu deren großen Verwunderung antwortete meine Freundin, sie habe eigentlich vor, die Diplomarbeit selbst zu schreiben. Niso studiert das Fach „Pädagogik für das Vorschulalter“ im Fernstudium; wenn sie dann im Dezember ihr Zeugnis endlich hat, kann sie eine gute Stelle an einem Kindergarten bekommen. Vor allem bei Fernstudenten ist es gang und gäbe, Haus- und Abschlussarbeiten zu kaufen. Die Dozenten wissen das und drücken ein Auge zu, da ihr Gehalt wohl von der Anzahl der korrigierten Arbeiten abhängt. Die Studenten wissen, dass die Dozenten das wissen, und bemühen sich nicht sonderlich, die Herkunft ihrer Arbeiten zu verbergen. Man spielt sich gegenseitig „Universität“ vor und wahrt nach außen hin den schönen Schein. Nicht umsonst werden russische Hochschulabschlüsse in Deutschland nicht ohne weiteres anerkannt.
An unserem Institut sind mir solche Fälle noch nicht begegnet. Manchmal kommt der eine oder andere Deutsch-Student im Auftrag einer Lehrkraft zu mir, um sich zum Thema seiner Abschlussarbeit beraten zu lassen. Die kleine Gruppengröße ist hingegen schon ein deutliches Problem: abgesehen davon, dass im sprachpraktischen Unterricht kein Schwung aufkommt und viele kommunikative Übungsformen mit drei oder vier Teilnehmern nicht möglich sind, sind die Studierenden in der Rolle des Arbeitgebers für die Dozenten, und das merken sie natürlich. Es gibt keine echte Konkurrenz. Irgendwie kommt jeder durch, der will.
Eigentlich verstehe ich das ganze russische Bildungssystem nicht. Warum müssen achtzig oder mehr Prozent aller jungen Leute an einer Hochschule studieren? Warum gibt es kein anerkanntes und etabliertes Berufsausbildungs-System? So kommt es, dass sich Menschen jahrelang in Seminaren und Vorlesungen herumquälen, die sich viel besser mit einer praktischen Tätigkeit entfalten könnten. Entsprechend ist das Niveau in sehr vielen Fällen einer Universität nach westlichem Maßstab nicht angemessen, Oberstufe vielleicht, oft nicht mal das.

Vor einiger Zeit betrat ein hochgewachsener, schlanker Mann mittleren Alters mein Büro, fein umrandete Brille, sehr intelligentes Gesicht, elaborierte, gewählte Ausdrucksweise: ein Chirurg aus einem städtischen Klinikum, Viktor sein Name. Er habe vor, im nächsten Jahr mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern nach Deutschland auszuwandern, vielleicht könne ich ihm ein paar nützliche Empfehlungen geben?
Sein Fall weckte mein Interesse. Mal kein Student, der Au-pair oder einen Sommersprachkurs machen möchte! Was ihn denn zu diesem Schritt bewogen habe, wollte ich wissen, sicher habe er deutsche Wurzeln oder zumindest Verwandte dort?
Keineswegs sei das der Fall. Die Arbeitsbedingungen in Ulan-Ude für Mediziner seien nicht gut, das Gehalt unwürdig niedrig, deshalb die Entscheidung. Viktor, der gelegentlich ein paar deutsche Brocken in unser Gespräch einstreute, zeigte mir sein Lehrbuch, mit dem er seit einem halben Jahr Deutsch lernt.
Die medizinische Versorgung der Bevölkerung sei ja in Russland im Prinzip immer noch kostenlos wie schon zu Sowjetzeiten, aber wer eine halbwegs vernünftige Behandlung bekommen möchte, müsse bezahlen – ob ich das so richtig verstanden hätte?
Ja, meinte der Arzt, im Westen Russlands, zum Beispiel in Smolensk, wo er herkäme, lägen die Dinge durchaus so wie von mir beschrieben.
Und hier in Burjatien?
Nun, sagte Viktor in diplomatischem Tonfall, in Ulan-Ude würden die Ärzte auch dann pfuschen, wenn der Patient zahlt. Besser hier nicht krank werden, riet er mir. Die Entscheidung, vor zwei Jahren von Smolensk nach Sibirien zu ziehen, habe er wegen seiner Frau getroffen. Von den Kollegen hier könne das keiner nachvollziehen. Und da er als Zugezogener keine Verbindungen habe, gäbe es auch keine Möglichkeiten für ihn, durch zusätzliche Aufträge etwas dazuzuverdienen. Seine Kinder sollten eine gute Zukunft haben, deshalb Deutschland, weltweit doch ein Spitzenland, was das Niveau der Medizin beträfe.
Ein klein wenig sei ich im Zwiespalt, ob ich ihn unterstützen solle, gestand ich Viktor am Ende des Gespräches, denn wenn alle guten Fachkräfte Ulan-Ude verließen, wer bleibe dann noch hier? Sicher, die Medizin in Deutschland sei Weltklasse, die Probleme lägen eher woanders – vor lauter Übertechnisierung bleibe oft wenig Zeit für den Patienten, der Arzt schaue mehr auf den Bildschirm als auf den Menschen, der vor ihm sitzt, und schicke ihn zu überflüssigen Routineuntersuchungen, um die teuren Geräte auszulasten, das käme hier sicher nicht vor? Gut, ein anderes, großes Thema.

In den fast zwei Jahren meines Lebens in Ulan-Ude habe ich noch keine Arztpraxis von innen gesehen. Meine halbjährlichen Deutschlandbesuche verbinde ich immer mit einem Zahnarztbesuch, wo die eine oder andere Plombe erneuert oder hinzugefügt wird  – ein für mich etwas sensibler Bereich; darüberhinaus erfreut sich mein Körper traditionell guter Gesundheit, sogar die mich in der Heimat periodisch plagenden allergischen Schnupfenanfälle sind hier völlig verschwunden, obwohl es in Ulan-Ude ungleich viel staubiger ist als in Potsdam oder Leipzig. Leider kann ich diesmal nicht bis zum Sommer warten: zum ersten Mal werde ich morgen hier einen Stomatologen aufsuchen, einen, der nach westlichen Standards arbeitet, wie mir die Amerikanerin versicherte, die mir die Praxis empfohlen hat.
Vor allem unter Burjaten, aber auch unter Russen ist es allgemein akzeptiert, statt zum Arzt zu einem Schamanen zu gehen, um sich mit ganz anderen Kräften heilen zu lassen als die, die der westlichen Medizin zur Verfügung stehen. Eine Bekannte erzählte mir neulich, dass ihre Schwester sich im Sommer zur Schamanin weihen lassen wird, ein mehrstufiges Ritual an einem besonderen Ort in der Natur, ein Weg, den jemand beschreiten kann, wenn unter den Vorfahren schon einmal jemand Schamane war.