Neulich wurde Niso von einer Mitstudentin gefragt, ob sie
ihre Diplomarbeit schon bestellt habe? Siebzehntausend kostet es, ein knappes
Monatsgehalt, mit Rabatt fünfzehntausend. Zu deren großen Verwunderung
antwortete meine Freundin, sie habe eigentlich vor, die Diplomarbeit selbst zu
schreiben. Niso studiert das Fach „Pädagogik für das Vorschulalter“ im
Fernstudium; wenn sie dann im Dezember ihr Zeugnis endlich hat, kann sie eine
gute Stelle an einem Kindergarten bekommen. Vor allem bei Fernstudenten ist es
gang und gäbe, Haus- und Abschlussarbeiten zu kaufen. Die Dozenten wissen das
und drücken ein Auge zu, da ihr Gehalt wohl von der Anzahl der korrigierten
Arbeiten abhängt. Die Studenten wissen, dass die Dozenten das wissen, und
bemühen sich nicht sonderlich, die Herkunft ihrer Arbeiten zu verbergen. Man
spielt sich gegenseitig „Universität“ vor und wahrt nach außen hin den schönen
Schein. Nicht umsonst werden russische Hochschulabschlüsse in Deutschland nicht
ohne weiteres anerkannt.
An unserem Institut sind mir solche Fälle noch nicht
begegnet. Manchmal kommt der eine oder andere Deutsch-Student im Auftrag einer
Lehrkraft zu mir, um sich zum Thema seiner Abschlussarbeit beraten zu lassen.
Die kleine Gruppengröße ist hingegen schon ein deutliches Problem: abgesehen
davon, dass im sprachpraktischen Unterricht kein Schwung aufkommt und viele
kommunikative Übungsformen mit drei oder vier Teilnehmern nicht möglich sind,
sind die Studierenden in der Rolle des Arbeitgebers für die Dozenten, und das
merken sie natürlich. Es gibt keine echte Konkurrenz. Irgendwie kommt jeder
durch, der will.
Eigentlich verstehe ich das ganze russische Bildungssystem
nicht. Warum müssen achtzig oder mehr Prozent aller jungen Leute an einer
Hochschule studieren? Warum gibt es kein anerkanntes und etabliertes
Berufsausbildungs-System? So kommt es, dass sich Menschen jahrelang in
Seminaren und Vorlesungen herumquälen, die sich viel besser mit einer
praktischen Tätigkeit entfalten könnten. Entsprechend ist das Niveau in sehr
vielen Fällen einer Universität nach westlichem Maßstab nicht angemessen,
Oberstufe vielleicht, oft nicht mal das.
Vor einiger Zeit betrat ein hochgewachsener, schlanker Mann
mittleren Alters mein Büro, fein umrandete Brille, sehr intelligentes Gesicht,
elaborierte, gewählte Ausdrucksweise: ein Chirurg aus einem städtischen
Klinikum, Viktor sein Name. Er habe vor, im nächsten Jahr mit seiner Frau und
zwei kleinen Kindern nach Deutschland auszuwandern, vielleicht könne ich ihm
ein paar nützliche Empfehlungen geben?
Sein Fall weckte mein Interesse. Mal kein Student, der
Au-pair oder einen Sommersprachkurs machen möchte! Was ihn denn zu diesem
Schritt bewogen habe, wollte ich wissen, sicher habe er deutsche Wurzeln oder
zumindest Verwandte dort?
Keineswegs sei das der Fall. Die Arbeitsbedingungen in
Ulan-Ude für Mediziner seien nicht gut, das Gehalt unwürdig niedrig, deshalb
die Entscheidung. Viktor, der gelegentlich ein paar deutsche Brocken in unser
Gespräch einstreute, zeigte mir sein Lehrbuch, mit dem er seit einem halben
Jahr Deutsch lernt.
Die medizinische Versorgung der Bevölkerung sei ja in
Russland im Prinzip immer noch kostenlos wie schon zu Sowjetzeiten, aber wer
eine halbwegs vernünftige Behandlung bekommen möchte, müsse bezahlen – ob ich
das so richtig verstanden hätte?
Ja, meinte der Arzt, im Westen Russlands, zum Beispiel in
Smolensk, wo er herkäme, lägen die Dinge durchaus so wie von mir beschrieben.
Und hier in Burjatien?
Nun, sagte Viktor in diplomatischem Tonfall, in Ulan-Ude
würden die Ärzte auch dann pfuschen, wenn der Patient zahlt. Besser hier nicht
krank werden, riet er mir. Die Entscheidung, vor zwei Jahren von Smolensk nach
Sibirien zu ziehen, habe er wegen seiner Frau getroffen. Von den Kollegen hier
könne das keiner nachvollziehen. Und da er als Zugezogener keine Verbindungen habe, gäbe es auch keine
Möglichkeiten für ihn, durch zusätzliche Aufträge etwas dazuzuverdienen. Seine
Kinder sollten eine gute Zukunft haben, deshalb Deutschland, weltweit doch ein
Spitzenland, was das Niveau der Medizin beträfe.
Ein klein wenig sei ich im Zwiespalt, ob ich ihn
unterstützen solle, gestand ich Viktor am Ende des Gespräches, denn wenn alle
guten Fachkräfte Ulan-Ude verließen, wer bleibe dann noch hier? Sicher, die
Medizin in Deutschland sei Weltklasse, die Probleme lägen eher woanders – vor
lauter Übertechnisierung bleibe oft wenig Zeit für den Patienten, der Arzt
schaue mehr auf den Bildschirm als auf den Menschen, der vor ihm sitzt, und
schicke ihn zu überflüssigen Routineuntersuchungen, um die teuren Geräte
auszulasten, das käme hier sicher nicht vor? Gut, ein anderes, großes Thema.
In den fast zwei Jahren meines Lebens in Ulan-Ude habe ich
noch keine Arztpraxis von innen gesehen. Meine halbjährlichen Deutschlandbesuche
verbinde ich immer mit einem Zahnarztbesuch, wo die eine oder andere Plombe
erneuert oder hinzugefügt wird – ein für
mich etwas sensibler Bereich; darüberhinaus erfreut sich mein Körper traditionell
guter Gesundheit, sogar die mich in der Heimat periodisch plagenden
allergischen Schnupfenanfälle sind hier völlig verschwunden, obwohl es in
Ulan-Ude ungleich viel staubiger ist als in Potsdam oder Leipzig. Leider kann
ich diesmal nicht bis zum Sommer warten: zum ersten Mal werde ich morgen hier
einen Stomatologen aufsuchen, einen, der nach westlichen Standards arbeitet, wie mir die Amerikanerin
versicherte, die mir die Praxis empfohlen hat.
Vor allem unter Burjaten, aber auch unter Russen ist es
allgemein akzeptiert, statt zum Arzt zu einem Schamanen zu gehen, um sich mit
ganz anderen Kräften heilen zu lassen als die, die der westlichen Medizin zur
Verfügung stehen. Eine Bekannte erzählte mir neulich, dass ihre Schwester sich
im Sommer zur Schamanin weihen lassen wird, ein mehrstufiges Ritual an einem
besonderen Ort in der Natur, ein Weg, den jemand beschreiten kann, wenn unter
den Vorfahren schon einmal jemand Schamane war.