Donnerstag, 13. April 2017

Uni-Episoden

Mascha, Studentin des vierten Studienjahres, betritt mein Büro. Sie sieht aus wie soeben aus einer Modenschau entlaufen und ist von einer dicken Wolke süßlichen Parfums umgeben. Sie war nicht ein einziges Mal in der Lehrveranstaltung, die ich mit ihrer Gruppe hatte. Jetzt möchte sie von mir Aufgaben für zu Hause haben, damit ich ihr trotzdem den „satschót“ – eine Art Teilnahmebescheinigung – ausstelle. Ich lasse mir ihre Mailadresse geben und schicke sie schnell wieder weg. Ich werde mir etwas ausdenken müssen. An einer deutschen Uni würde der Dozent die Achseln zucken und sagen: kommen Sie im nächsten Semester wieder. An einer russischen Uni gilt: irgendwie muss man die Leute durchkommen lassen, denn wir brauchen Absolventen.

Zwei Burjatinnen kommen zu mir in die Beratung, Olga und Olga. Die eine Olga hat ein paar Fragen zu englischsprachigen Studiengängen in Deutschland. Sie macht auf mich einen zielstrebigen und motivierten Eindruck. Demnächst möchte sie nach Ulan-Bator fahren, um dort den TOEFL-Test abzulegen, eine umfangreiche Englisch-Prüfung, deren Bestehen die deutschen Unis fordern.
Ich werde stutzig – warum nach Ulan-Bator? Den Test kann man auch in Irkutsk machen, dorthin kommt man doch schneller als in die mongolische Hauptstadt. „In Irkutsk fühle ich mich mit meinem asiatischen Gesicht von den Russen nicht gleichwertig behandelt“, sagt Olga. „In Moskau ist das genauso, die denken alle, wir sind Chinesen, und dann fragen sie noch, warum wir so gut Russisch sprechen. Von Burjatien haben sie keine Ahnung.“ Dann doch lieber nach Ulan-Bator,wo sie unter Mongolen nicht weiter auffällt; die Sprache versteht sie auch. Es ist das erste Mal, dass mir eine burjatische Studentin von solcherart Spannungen zum russischen Brudervolk erzählt.
Die andere Olga hat eine Frage zum Visum. „Mein Visaantrag für Kanada wurde nicht genehmigt, obwohl gleichzeitig drei männliche Mitstudenten mit den gleichen Dokumenten ihn bekommen haben. Wahrscheinlich dachten sie, eine junge Frau, die will doch nur heiraten und im Land bleiben. Wenn ich ein Visum nach Deutschland möchte, muss ich dann auch damit rechnen, abgelehnt zu werden?“ Mir ist nicht bekannt, dass das Konsulat in Novosibirsk hübschen Frauen generell kein Visum ausstellt, wenn der Antrag in Ordnung ist, sollte es klappen, versuche ich sie zu beruhigen.

Eine Studentin, an die ich mich noch dunkel aus dem Vorjahr erinnern kann, steht etwas unschlüssig vor meiner geöffneten Bürotür. Nach einer Weile fällt mir ein – das ist doch Dascha, die gegen Ende des letzten Sommersemesters verschwand und dann nicht zu den Abschlussprüfungen zugelassen wurde, weil sie, statt Lehrveranstaltungen zu besuchen, auf Tanzwettbewerbe fuhr. Man muss sich schon ziemlich viel erlauben, um nicht in der Regelstudienzeit zuende studieren zu können! Ich sehe, wie sie tief Luft holt, sich sozusagen einen Ruck gibt und zu mir in den Raum tritt. „Ich möchte gern mit Ihnen einen Prüfungstermin vereinbaren“, sagt sie schnell, „Sie erinnern sich, im letzten Jahr…“ – „Wenn Sie mit einer Drei zufrieden sind“, unterbreche ich sie – das ist die schlechteste russische Note – „dann gebe ich ihnen eine kleine schriftliche Übersetzungsaufgabe.“ Dascha ist sichtlich erleichtert, ohne viel Prüfungsstress davonzukommen.

Am Anfang einer Unterrichtsstunde plaudere ich manchmal ein bisschen mit den Studenten, sozusagen zum Warmwerden. Was sie denn heute so zum Mittag gegessen hätten, frage ich im zweiten Studienjahr. Die jungen Frauen erzählen etwas von Joghurt, Buchweizengrütze und Tee. Dann kommt die Reihe an Nikita. Er schüttelt den Kopf.
„Nichts?“, wundere ich mich. „Dann haben Sie nur etwas getrunken?“ Nikita reagiert nicht.
„Na, dann erzählen Sie eben, was Sie zum Frühstück gegessen haben“, versuche ich locker zu bleiben.
Keine Reaktion. „Auch nichts? Das glaube ich nicht.“
„Nichts“, zischt Nikita zwischen den Zähnen hervor. Aus irgendeinem Grund will er heute nicht mit mir reden, wie versteinert und angespannt sitzt er an seinem Platz. Ich lasse ihn in Ruhe.
Manchmal ärgere ich mich über solche bockigen und kooperationsunwilligen Studenten, sie studieren schließlich eine Sprache und sollten irgendwie auch bereit sein, zu kommunizieren. Dann wieder fällt mir ein, wie alt die jungen Leute gerade mal sind – Nikita ist achtzehn – und dass manche von ihnen rein „entwicklungsbedingt“ oder auch familiär und finanziell mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, von denen ich wohl keine Vorstellung habe.
Einen Tag später wundere ich mich nicht schlecht, als Nikita in meinem Chor auftaucht. Eigentlich hat er anderen Unterricht in dieser Zeit und dürfte gar nicht kommen. Aber er schwänzt die Stunde, um bei mir singen zu können. Das rührt mich, und natürlich schicke ich ihn nicht weg, zumal männliche Sänger Mangelware sind.


Mittwoch morgen im Übersetzungs-Seminar: mit den drei anwesenden Burjatinnen Dolgorma, Anna und Daria gehe ich die Kontrollarbeit durch, die wir in der letzten Woche geschrieben hatten. Die Ergebnisse: einmal sehr gut (eine Fünf), einmal gut (eine Vier), einmal schlecht (eigentlich noch nicht mal eine Drei). Alle drei sind aber aufmerksam und fleißig, es macht Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Dreißig Minuten nach Beginn erscheint Pawel mit verschlafenem Gesicht in der Tür. „Entschuldigen Sie bitte…“ Pawel war bei der Hälfte aller Stunden nicht anwesend und hat auch den Test nicht mitgeschrieben. „Gehen Sie bitte nach Hause, es gibt hier nichts für sie zu tun“, sage ich (freundlich, wie immer) und habe etwas Herzklopfen dabei – ob ich meine Kompetenzen als Lehrkraft damit nicht etwas überschreite? Pawel verschwindet. Aber irgendwie muss der Schlendrian doch auch Grenzen haben!

Abends um halb zehn: eine Studentin ruft mich an, um mich darum zu bitten, ihr am übermorgigen Donnerstag zu gestatten, eine halbe Stunde eher den Unterricht zu verlassen. „Ja, bitteschön“, antworte ich knapp und lege auf. Ich habe bei ihr einen bestimmten Verdacht. In der nächsten Stunde werde ich ganz beiläufig mal etwas von meiner Freundin erzählen.