Mascha, Studentin des vierten Studienjahres, betritt mein
Büro. Sie sieht aus wie soeben aus einer Modenschau entlaufen und ist von einer
dicken Wolke süßlichen Parfums umgeben. Sie war nicht ein einziges Mal in der
Lehrveranstaltung, die ich mit ihrer Gruppe hatte. Jetzt möchte sie von mir
Aufgaben für zu Hause haben, damit ich ihr trotzdem den „satschót“ – eine Art
Teilnahmebescheinigung – ausstelle. Ich lasse mir ihre Mailadresse geben und
schicke sie schnell wieder weg. Ich werde mir etwas ausdenken müssen. An einer
deutschen Uni würde der Dozent die Achseln zucken und sagen: kommen Sie im
nächsten Semester wieder. An einer russischen Uni gilt: irgendwie muss man die
Leute durchkommen lassen, denn wir brauchen Absolventen.
Zwei Burjatinnen kommen zu mir in die Beratung, Olga und
Olga. Die eine Olga hat ein paar Fragen zu englischsprachigen Studiengängen in
Deutschland. Sie macht auf mich einen zielstrebigen und motivierten Eindruck.
Demnächst möchte sie nach Ulan-Bator fahren, um dort den TOEFL-Test abzulegen,
eine umfangreiche Englisch-Prüfung, deren Bestehen die deutschen Unis fordern.
Ich werde stutzig – warum nach Ulan-Bator? Den Test kann man
auch in Irkutsk machen, dorthin kommt man doch schneller als in die mongolische
Hauptstadt. „In Irkutsk fühle ich mich mit meinem asiatischen Gesicht von den
Russen nicht gleichwertig behandelt“, sagt Olga. „In Moskau ist das genauso,
die denken alle, wir sind Chinesen, und dann fragen sie noch, warum wir so gut
Russisch sprechen. Von Burjatien haben sie keine Ahnung.“ Dann doch lieber nach
Ulan-Bator,wo sie unter Mongolen nicht weiter auffällt; die Sprache versteht
sie auch. Es ist das erste Mal, dass mir eine burjatische Studentin von
solcherart Spannungen zum russischen Brudervolk erzählt.
Die andere Olga hat eine Frage zum Visum. „Mein Visaantrag
für Kanada wurde nicht genehmigt, obwohl gleichzeitig drei männliche
Mitstudenten mit den gleichen Dokumenten ihn bekommen haben. Wahrscheinlich
dachten sie, eine junge Frau, die will doch nur heiraten und im Land bleiben.
Wenn ich ein Visum nach Deutschland möchte, muss ich dann auch damit rechnen,
abgelehnt zu werden?“ Mir ist nicht bekannt, dass das Konsulat in Novosibirsk
hübschen Frauen generell kein Visum ausstellt, wenn der Antrag in Ordnung ist,
sollte es klappen, versuche ich sie zu beruhigen.
Eine Studentin, an die ich mich noch dunkel aus dem Vorjahr
erinnern kann, steht etwas unschlüssig vor meiner geöffneten Bürotür. Nach
einer Weile fällt mir ein – das ist doch Dascha, die gegen Ende des letzten
Sommersemesters verschwand und dann nicht zu den Abschlussprüfungen zugelassen
wurde, weil sie, statt Lehrveranstaltungen zu besuchen, auf Tanzwettbewerbe
fuhr. Man muss sich schon ziemlich viel erlauben, um nicht in der Regelstudienzeit
zuende studieren zu können! Ich sehe, wie sie tief Luft holt, sich sozusagen
einen Ruck gibt und zu mir in den Raum tritt. „Ich möchte gern mit Ihnen einen
Prüfungstermin vereinbaren“, sagt sie schnell, „Sie erinnern sich, im letzten
Jahr…“ – „Wenn Sie mit einer Drei zufrieden sind“, unterbreche ich sie – das ist
die schlechteste russische Note – „dann gebe ich ihnen eine kleine schriftliche
Übersetzungsaufgabe.“ Dascha ist sichtlich erleichtert, ohne viel Prüfungsstress
davonzukommen.
Am Anfang einer Unterrichtsstunde plaudere ich manchmal ein
bisschen mit den Studenten, sozusagen zum Warmwerden. Was sie denn heute so zum
Mittag gegessen hätten, frage ich im zweiten Studienjahr. Die jungen Frauen
erzählen etwas von Joghurt, Buchweizengrütze und Tee. Dann kommt die Reihe an
Nikita. Er schüttelt den Kopf.
„Nichts?“, wundere ich mich. „Dann haben Sie nur etwas
getrunken?“ Nikita reagiert nicht.
„Na, dann erzählen Sie eben, was Sie zum Frühstück gegessen
haben“, versuche ich locker zu bleiben.
Keine Reaktion. „Auch nichts? Das glaube ich nicht.“
„Nichts“, zischt Nikita zwischen den Zähnen hervor. Aus
irgendeinem Grund will er heute nicht mit mir reden, wie versteinert und
angespannt sitzt er an seinem Platz. Ich lasse ihn in Ruhe.
Manchmal ärgere ich mich über solche bockigen und
kooperationsunwilligen Studenten, sie studieren schließlich eine Sprache und
sollten irgendwie auch bereit sein, zu kommunizieren. Dann wieder fällt mir
ein, wie alt die jungen Leute gerade mal sind – Nikita ist achtzehn – und dass
manche von ihnen rein „entwicklungsbedingt“ oder auch familiär und finanziell
mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, von denen ich wohl keine Vorstellung
habe.
Einen Tag später wundere ich mich nicht schlecht, als Nikita
in meinem Chor auftaucht. Eigentlich hat er anderen Unterricht in dieser Zeit
und dürfte gar nicht kommen. Aber er schwänzt die Stunde, um bei mir singen zu
können. Das rührt mich, und natürlich schicke ich ihn nicht weg, zumal
männliche Sänger Mangelware sind.
Mittwoch morgen im Übersetzungs-Seminar: mit den drei anwesenden
Burjatinnen Dolgorma, Anna und Daria gehe ich die Kontrollarbeit durch, die wir
in der letzten Woche geschrieben hatten. Die Ergebnisse: einmal sehr gut (eine
Fünf), einmal gut (eine Vier), einmal schlecht (eigentlich noch nicht mal eine
Drei). Alle drei sind aber aufmerksam und fleißig, es macht Spaß, mit ihnen zu
arbeiten. Dreißig Minuten nach Beginn erscheint Pawel mit verschlafenem Gesicht
in der Tür. „Entschuldigen Sie bitte…“ Pawel war bei der Hälfte aller Stunden
nicht anwesend und hat auch den Test nicht mitgeschrieben. „Gehen Sie bitte
nach Hause, es gibt hier nichts für sie zu tun“, sage ich (freundlich, wie
immer) und habe etwas Herzklopfen dabei – ob ich meine Kompetenzen als
Lehrkraft damit nicht etwas überschreite? Pawel verschwindet. Aber irgendwie
muss der Schlendrian doch auch Grenzen haben!
Abends um halb zehn: eine Studentin ruft mich an, um mich
darum zu bitten, ihr am übermorgigen Donnerstag zu gestatten, eine halbe Stunde
eher den Unterricht zu verlassen. „Ja, bitteschön“, antworte ich knapp und lege
auf. Ich habe bei ihr einen bestimmten Verdacht. In der nächsten Stunde werde
ich ganz beiläufig mal etwas von meiner Freundin erzählen.