Meine Schwester macht gerade ihr Abitur und wird danach
zusammen mit ihrem Freund für ein Jahr nach Neuseeland fliegen. Als ich im
Jahre 1999 Schule und Zivildienst hinter mich gebracht hatte, bin ich für ein
halbes Jahr nach Norwegen entschwunden. Eine Auslands- und Volontärs-Zeit vor
dem Studium, für junge Leute in Deutschland nichts Ungewöhnliches, ist in
Russland nicht üblich. Wenn jungen Männer nicht gleich nach der 11. Klasse an
die Uni gehen, werden sie ein Jahr zum Militärdienst eingezogen, ansonsten ist
die Armee danach fällig. Eltern drängen ihre Kinder oft auf den einzigen für
sie denkbaren Weg, weil die Norm scheinbar nichts anderes zulässt: Studium,
Beruf, Heirat und Kinder, und zwar möglichst ohne Zeit zu verlieren. Die Wahl
der Studienrichtung erfolgt in einem Alter, in dem man die jungen Leute
schwerlich als erwachsen bezeichnen kann.
Eiligen Schrittes durchquere ich das Institutsfoyer und
nicke beiläufig meinem Studenten Nikita zu, der zusammengesunken und mit versteinertem
Gesicht am Rand sitzt. Ich habe schon den Türgriff zum Ausgang in der Hand, als
mich eine vor ihm stehende Frau zurückruft.
„Thomas? Gott sei dank, dass ich sie treffe. Ich bin die
Mutter von Nikita.“
Eine energische Dame in mittleren Jahren, die in irgendeinem
Ministerium arbeitet, so hatte mir Nikita mal erzählt.
„Stellen Sie sich vor – mein Sohn will das Studium
schmeißen!“
Jeder habe mal eine Krise, versuche ich zu beruhigen, an
beide gewandt, unsere Dozenten seien eigentlich recht flexibel, mit einer Drei
komme so ziemlich jeder irgendwie durch.
„Er wollte schon heute die Exmatrikulationsdokumente
einreichen! Und ich erfahre davon durch Dritte! Nur, weil er seine Launen hat!
Mir erzählt er nichts!“
Nikita schaunt auf den Boden und schüttelt den Kopf. Ich
erinnere mich, dass seine Mutter ihn allein erzieht.
„Natürlich wollte er das!“, schimpft sie weiter. „Mein Sohn!
Er ist doch künftiger Versorger der Familie! Was soll denn werden, wenn er
keinen Abschluss hat? Wenn eine Frau nicht arbeiten möchte, dann sucht sie sich
einen Mann, der sie ernährt. Aber mein Sohn!“
Er wolle das Studium nicht schmeißen, sondern ein
Urlaubsjahr nehmen, sagt Nikita leise, ohne aufzublicken.
„Ich kenne meinen Sohn, der ist genauso wie ich! Wenn er
jetzt unterbricht, dann macht er nie weiter.“
Das Problem lösen wir jetzt wohl nicht, erwidere ich und
bitte Nikita darum, am nächsten Tag mal allein in mein Büro zu kommen. Vielleicht
hat er ja gar keine Lust auf Familie und Karriere und sich in der Wahl des
Studienfaches vertan? Mal sehen, was er erzählt, wenn die Mutter nicht dabei
ist.
Neulich meinte die bei uns am Lehrstuhl arbeitende
Assistentin, dass für mich im Dekanat – in einem anderen Gebäude – ein Päckchen
liege. Normalerweise bringt sie immer die Post mit. Fünf Kilo aber seien zu
viel, da habe sie es dort gelassen.
Im Dekanat erfahre ich, dass noch ein zweites Päckchen für
mich bei der Post sei. Die zuständige Mitarbeiterin habe es aber nicht
abgeholt, es sei zu schwer gewesen.
Also begebe ich mich selbst zur Post und
ärger mich ein wenig über russische Frauen, die meinen, alles was mehr wiegt
als ein Kosmetik-Handtäschchen, sei von Männern zu tragen. Auf der Post dann
wartet allerdings noch eine schöne Überraschung auf mich: neben dem zweiten
Paket (eine Buchlieferung aus Deutschland) überreicht mir die Angestellte ein
postlagernd gesendetes Päckchen von meinen Großeltern mit in Sibirien nicht
erhältlichen Kräutertees.