Sonntag, 2. April 2017

Plusgrade

In Ulan-Ude herrschen angenehme Plusgrade, der letzte Schnee ist geschmolzen. Seit dem 1. April gehe ich nicht mehr in Daunenjacke, sondern im leichten Mantel aus dem Haus. Wenn ich nicht vor Kurzem dort gewesen wäre, würde ich nicht glauben, dass 150 Kilometer weiter auf dem Baikal noch Autos über die dicke Eisdecke fahren und Angler in massiven Holzhütten übernachten.

In meinem Institut – dem Institut für Philologie und Massenkommunikation an der Burjatischen Staatlichen Universität – bin ich nicht der einzige Ausländer. Eine regelrechte kleine Gemeinschaft junger ausländischer Dozenten hat sich eingefunden, außer mir noch bestehend aus Isabella (USA), Valentin (Frankreich), Anna (Österreich) und einer Chinesin, deren Namen ich mir nicht merken kann. Neulich waren wir alle zusammen in Schule Nummer 49, um Werbung für das Studium unserer Sprachen zu machen. Valentin erzählte, wie toll es ist, Französisch zu lernen, Isabella sagte, dass in der globalisierten Zukunft natürlich Englisch unabdingbar ist, und ich erklärte, dass Deutsch der Schlüssel zu 120 Millionen Menschen in vier zentraleuropäischen Ländern sei. Danach gaben wir den Schülern die Gelegenheit, Fragen zu stellen – was wolltet ihr denn schon immer einmal über China, Österreich, Frankreich, Amerika oder Deutschland wissen?
Kurzes verlegenes Schweigen, dann der erste Mutige: „Wie alt sind Sie eigentlich?“
Die nächste Frage: „Haben Sie Kinder?“
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen wir als Menschen, da waren die Fakten über unsere Länder eher zweitrangig. -

Niso und ich besuchten am Wochenende zwei Museen. Im Museum der Geschichte Burjatiens gab es eine Karte mit Kosakenfestungen, die den Anfang der russischen Besiedlung der Baikalregion bildeten. Außerdem waren die Orte „antirussischen Widerstandes“ der burjatischen Bevölkerung eingezeichnet. Das fand ich bemerkenswert, da in den russischen Geschichtsdarstellungen normalerweise nicht thematisiert wird, welche Völker sich der Expansion des Zarenreiches nach Osten widersetzten. In der Baikalregion waren es vor allem die Burjaten westlich des Sees, die gegen die fremde Schutzmacht kämpften. Die östlich lebenden Stämme hatten unter marodierenden Mongolenhorden zu leiden und waren deshalb eher bereit, sich unter Moskaus Schutz zu begeben. Nach der Machtergreifung der Kommunisten bekamen die Burjaten eine teilweise Autonomie in der Burjat-Mongolischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Später strich man das „mongolisch“ aus dem Namen, um Ideen vorzubeugen, aus der Sowjetunion auszutreten und sich mit der Mongolei zu vereinigen – schließlich sind Burjaten und Mongolen sprachlich und kulturell sehr eng verwandt.

In der Sampilov-Galerie hängen großformatige Ölbilder burjatischer Künstler des 20. Jahrhunderts, die die Arbeit in der Landwirtschaft, den Bau von Strommasten durch die Taiga oder Viehherden zeigen – stimmungsvolle Darstellungen des unter dem Sozialismus einer glorreichen Zukunft entgegengehenden Landes. „Der Schamane heilt nicht, sondern verstümmelt“, lautete eine Bildunterschrift von 1929, der damaligen Ideologie entsprechend, die alles Religiöse und Metaphysische ausrotten wollte. -

Bei meinem letzten Besuch in Deutschland hatte ich meiner Mutter Bärenöl und Dachsfett mitgebracht, das ich auf dem zentralen Markt erstanden hatte. Bei unserem heutigen Skype-Gespräch hält sie die Flaschen etwas ratlos in die Kamera: was macht man eigentlich damit, wie wendet man es an?



Sozialistische Landwirtschaft in Burjatien: ein Bild aus dem Sampilov-Museum von 1956