In Ulan-Ude herrschen angenehme Plusgrade, der letzte Schnee
ist geschmolzen. Seit dem 1. April gehe ich nicht mehr in Daunenjacke, sondern
im leichten Mantel aus dem Haus. Wenn ich nicht vor Kurzem dort gewesen wäre,
würde ich nicht glauben, dass 150 Kilometer weiter auf dem Baikal noch Autos
über die dicke Eisdecke fahren und Angler in massiven Holzhütten übernachten.
In meinem Institut – dem Institut für Philologie und
Massenkommunikation an der Burjatischen Staatlichen Universität – bin ich nicht
der einzige Ausländer. Eine regelrechte kleine Gemeinschaft junger
ausländischer Dozenten hat sich eingefunden, außer mir noch bestehend aus
Isabella (USA), Valentin (Frankreich), Anna (Österreich) und einer Chinesin,
deren Namen ich mir nicht merken kann. Neulich waren wir alle zusammen in
Schule Nummer 49, um Werbung für das Studium unserer Sprachen zu machen.
Valentin erzählte, wie toll es ist, Französisch zu lernen, Isabella sagte, dass
in der globalisierten Zukunft natürlich Englisch unabdingbar ist, und ich
erklärte, dass Deutsch der Schlüssel zu 120 Millionen Menschen in vier
zentraleuropäischen Ländern sei. Danach gaben wir den Schülern die Gelegenheit,
Fragen zu stellen – was wolltet ihr denn schon immer einmal über China, Österreich,
Frankreich, Amerika oder Deutschland wissen?
Kurzes verlegenes Schweigen, dann der erste Mutige: „Wie alt
sind Sie eigentlich?“
Die nächste Frage: „Haben Sie Kinder?“
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen wir als Menschen,
da waren die Fakten über unsere Länder eher zweitrangig. -
Niso und ich besuchten am Wochenende zwei Museen. Im Museum
der Geschichte Burjatiens gab es eine Karte mit Kosakenfestungen,
die den Anfang der russischen Besiedlung der Baikalregion bildeten. Außerdem
waren die Orte „antirussischen Widerstandes“ der burjatischen Bevölkerung
eingezeichnet. Das fand ich bemerkenswert, da in den russischen Geschichtsdarstellungen
normalerweise nicht thematisiert wird, welche Völker sich der Expansion des
Zarenreiches nach Osten widersetzten. In der Baikalregion waren es vor allem
die Burjaten westlich des Sees, die gegen die fremde Schutzmacht kämpften. Die
östlich lebenden Stämme hatten unter marodierenden Mongolenhorden zu leiden und
waren deshalb eher bereit, sich unter Moskaus Schutz zu begeben. Nach der
Machtergreifung der Kommunisten bekamen die Burjaten eine teilweise Autonomie
in der Burjat-Mongolischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Später strich man
das „mongolisch“ aus dem Namen, um Ideen vorzubeugen, aus der Sowjetunion
auszutreten und sich mit der Mongolei zu vereinigen – schließlich sind Burjaten
und Mongolen sprachlich und kulturell sehr eng verwandt.
In der Sampilov-Galerie hängen großformatige Ölbilder
burjatischer Künstler des 20. Jahrhunderts, die die Arbeit in der
Landwirtschaft, den Bau von Strommasten durch die Taiga oder Viehherden zeigen –
stimmungsvolle Darstellungen des unter dem Sozialismus einer glorreichen Zukunft
entgegengehenden Landes. „Der Schamane heilt nicht, sondern verstümmelt“,
lautete eine Bildunterschrift von 1929, der damaligen Ideologie entsprechend,
die alles Religiöse und Metaphysische ausrotten wollte. -
Bei meinem letzten Besuch in Deutschland hatte ich meiner Mutter Bärenöl und Dachsfett mitgebracht, das ich auf dem zentralen Markt erstanden hatte. Bei unserem heutigen Skype-Gespräch hält sie die Flaschen etwas ratlos in die Kamera: was macht man eigentlich damit, wie wendet man es an?
Sozialistische Landwirtschaft in Burjatien: ein Bild aus dem Sampilov-Museum von 1956 |