Sonntag, 16. April 2017

Erster Klasse nach Krasnojarsk

Am Morgen des 15. April bestieg ich den Zug «001M Россия» nach Krasnojarsk, um von dort aus nach einem Umstieg weiter nach Abakan zu fahren, wohin mich der dortige Deutsch-Lehrstuhl eingeladen hatte. Die Fahrt von Ulan-Ude nach Krasnojarsk dauert ziemlich genau 24 Stunden. An Bord erwartete mich ein luxuriöses Zweier-Abteil mit bereits bezogenen Betten, einer per Magnetkarte von außen verschließbaren Tür, Zeitungen und Porzellantassen auf dem Tisch, Leselampe, Kleiderbügeln und Steckdosen. Die Zugbegleiterin sprach mich freundlich mit Vornamen an und klappte die in Kopfhöhe angebrachten türkis leuchtenden Polster nach oben, um mir die Fächer mit Handtüchern und einem eingeschweißten Set mit Pantoffeln, Zahn- und Schuhbürste zu zeigen. Kurz nach der Abfahrt wurde meine Bestellung für das im Preis inbegriffene Abendessen aufgenommen.
Der Zug zuckelte in gemütlichem Transsib-Tempo zunächst am Ufer des Baikalsees vorbei nach Irkutsk. Die Wasserfläche ist Mitte April noch immer komplett zugefroren, wenn auch das Eis an der Oberfläche von der Sonne stark angetaut ist, auch an den Rändern unmittelbar am Ufer ist es stellenweise verschwunden. Trotzdem gehen noch immer Eisangler ihrem Handwerk nach. Ich genoss die Landschaft und las nebenbei etwas über den Zug, in dem ich mich befand:

Was sind schon die Exotik tropischer Inseln oder europäische Sehenswürdigkeiten – kleine Fleckchen Erde – gegenüber der russischen Weite? Nur aus dem Fenster des Zuges „Rossija“ kann man die atemberaubenden Maßstäbe Russlands und die Gewalten Sibiriens wirklich schätzen.
Der Zug Nr. 1 „Rossija“ fährt die 9288 Kilometer von Wladiwostok nach Moskau in 145 Stunden und hält zwischendurch auf 59 Stationen. Er verkehrt jeden zweiten Tag. Unterwegs wird 9 Mal die Lokomotive gewechselt...

Ich überlegte gerade, wie viele von den Lokwechseln uns auf dem von mir bereisten kurzen Streckenabschnitt wohl betreffen würden (vielleicht einer?), als nach höflichem Klopfen eine der beiden Zugbegleiterinnen des Wagens zu mir ins Abteil kam, die in Zivil, die gerade keinen Dienst hatte. Ich möchte doch bitte meinen Koffer von dem zweiten Bett herunternehmen, in Irkutsk würde ein weiterer Passagier zu mir ins Abteil kommen. Ich hatte mich schon darauf gefreut, das Coupé für mich allein zu haben und stieß einen Seufzer des Bedauerns aus.
„Natürlich können wir auch eine andere Lösung finden“, meinte die Provodnitsa. „Wenn Sie bereit sind, etwas in unser bescheidenes Unternehmen zu investieren…“
Ich bot ihr 500, sie wollte 2000 Rubel, wir einigten uns auf 1200, die ich ihr zahlte, damit sie den Passagier, der in mein Abteil kommen sollte, nicht zu mir, sondern zu einem anderen Reisenden ins Coupé setzt. In meiner vieljährigen Russland-Karriere war dies der allererste Fall von Schmiergeldzahlung, freilich ein eher harmloser.
In russischen Fernzügen gibt es bis zu vier Wagenklassen. Bisher war ich fast immer in den offenen Großraumwagen der (unklar, warum) Platskart genannten dritten Klasse gefahren, in denen es praktisch keine Privatsphäre gibt, es aber doch erstaunlich rücksichtsvoll und ruhig zugeht. Die Chancen auf interessante Gespräche sind hier groß, die Existenz eines Ausländers imWaggon spricht sich schnell herum, und sollte einem einmal ein unangenehmer Nachbar unterkommen, setzt man sich einen Platz weiter. In der zweiten Klasse ist man in abgeschlossenen Vierer-Abteilen unterwegs – mit Freunden ein Vergnügen, sonst ein gewisses Risiko, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, wenn man sich plötzlich in einem derben Trinkgelage wiederfindet. Erster Klasse war ich vor dieser Reise noch nie unterwegs und würde es auch jetzt nicht sein, wenn ich die 11000 Rubel selbst zahlen müsste. In der vierten Klasse, obschtschji wagon genannt, sitzen die Passagiere im Platskart-Wagen zu dritt statt zu zweit auf einer Bank, nachts gibt es für drei Leute nur zwei Liegeplätze, es sei denn, einer kriecht auf die Gepäckablage.

16. April, morgens: ich stelle meine Uhr um eine Stunde zurück und plaudere am Heißwasser-Kessel ein wenig mit der anderen Provodnitsa. Die Brigade der Zugbegleiter ist aus Moskau und arbeitet immer zusammen in diesem Zug. Ist das nicht ein toller Beruf, was sehen Sie nicht alles! Naja, meint die Dame, man gewöhnt sich, es fliegt alles vor dem Fenster an uns vorbei, länger aussteigen können wir ja nie.
Grünteeschlürfend lese ich das Tagebuch einer Sibirienreise der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann. Morgennebel liegt über Feldern und Steppe, durch den die ersten Sonnenstrahlen brechen. Wir nähern uns Krasnojarsk.

Im Erste-Klasse-Abteil erwarten den Passagier Zeitungen, Porzellantassen und gemachte Betten (oben). Der Baikalsee ist Mitte April noch immer zugefroren, wenn auch an der Oberfläche angetaut und matschig (unten)
Auf einem Waggon des Zuges 001M ist der vom Aussterben bedrohte Amurtiger abgebildet (oben). Ein Techniker klopft in Irkutsk die Radkästen ab und prüft anhand des Klanges, ob sich Risse gebildet haben (unten)


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