Am Morgen des 15. April bestieg ich den Zug «001M Россия» nach Krasnojarsk, um von
dort aus nach einem Umstieg weiter nach Abakan zu fahren, wohin mich der
dortige Deutsch-Lehrstuhl eingeladen hatte. Die Fahrt von Ulan-Ude nach
Krasnojarsk dauert ziemlich genau 24 Stunden. An Bord erwartete mich ein
luxuriöses Zweier-Abteil mit bereits bezogenen Betten, einer per Magnetkarte
von außen verschließbaren Tür, Zeitungen und Porzellantassen auf dem Tisch,
Leselampe, Kleiderbügeln und Steckdosen. Die Zugbegleiterin sprach mich freundlich mit
Vornamen an und klappte die in Kopfhöhe angebrachten türkis leuchtenden Polster
nach oben, um mir die Fächer mit Handtüchern und einem eingeschweißten Set mit
Pantoffeln, Zahn- und Schuhbürste zu zeigen. Kurz nach der Abfahrt wurde meine
Bestellung für das im Preis inbegriffene Abendessen aufgenommen.
Der Zug zuckelte in gemütlichem Transsib-Tempo zunächst am
Ufer des Baikalsees vorbei nach Irkutsk. Die Wasserfläche ist Mitte April noch
immer komplett zugefroren, wenn auch das Eis an der Oberfläche von der Sonne
stark angetaut ist, auch an den Rändern unmittelbar am Ufer ist es stellenweise
verschwunden. Trotzdem gehen noch immer Eisangler ihrem Handwerk nach. Ich
genoss die Landschaft und las nebenbei etwas über den Zug, in dem ich mich
befand:
Was sind schon die
Exotik tropischer Inseln oder europäische Sehenswürdigkeiten – kleine Fleckchen
Erde – gegenüber der russischen Weite? Nur aus dem Fenster des Zuges „Rossija“
kann man die atemberaubenden Maßstäbe Russlands und die Gewalten Sibiriens
wirklich schätzen.
Der Zug Nr. 1
„Rossija“ fährt die 9288 Kilometer von Wladiwostok nach Moskau in 145 Stunden
und hält zwischendurch auf 59 Stationen. Er verkehrt jeden zweiten Tag.
Unterwegs wird 9 Mal die Lokomotive gewechselt...
Ich überlegte gerade, wie viele von den Lokwechseln uns auf
dem von mir bereisten kurzen Streckenabschnitt wohl betreffen würden
(vielleicht einer?), als nach höflichem Klopfen eine der beiden
Zugbegleiterinnen des Wagens zu mir ins Abteil kam, die in Zivil, die gerade
keinen Dienst hatte. Ich möchte doch bitte meinen Koffer von dem zweiten Bett
herunternehmen, in Irkutsk würde ein weiterer Passagier zu mir ins Abteil
kommen. Ich hatte mich schon darauf gefreut, das Coupé für mich allein zu haben
und stieß einen Seufzer des Bedauerns aus.
„Natürlich können wir auch eine andere Lösung finden“,
meinte die Provodnitsa. „Wenn Sie
bereit sind, etwas in unser bescheidenes Unternehmen zu investieren…“
Ich bot ihr 500, sie wollte 2000 Rubel, wir einigten uns auf
1200, die ich ihr zahlte, damit sie den Passagier, der in mein Abteil kommen
sollte, nicht zu mir, sondern zu einem anderen Reisenden ins Coupé setzt. In
meiner vieljährigen Russland-Karriere war dies der allererste Fall von Schmiergeldzahlung,
freilich ein eher harmloser.
In russischen Fernzügen gibt es bis zu vier Wagenklassen.
Bisher war ich fast immer in den offenen Großraumwagen der (unklar, warum) Platskart genannten dritten Klasse
gefahren, in denen es praktisch keine Privatsphäre gibt, es aber doch
erstaunlich rücksichtsvoll und ruhig zugeht. Die Chancen auf interessante
Gespräche sind hier groß, die Existenz eines Ausländers imWaggon spricht sich
schnell herum, und sollte einem einmal ein unangenehmer Nachbar unterkommen,
setzt man sich einen Platz weiter. In der zweiten Klasse ist man in
abgeschlossenen Vierer-Abteilen unterwegs – mit Freunden ein Vergnügen, sonst
ein gewisses Risiko, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt, wenn man sich
plötzlich in einem derben Trinkgelage wiederfindet. Erster Klasse war ich vor
dieser Reise noch nie unterwegs und würde es auch jetzt nicht sein, wenn ich
die 11000 Rubel selbst zahlen müsste. In der vierten Klasse, obschtschji wagon genannt, sitzen die
Passagiere im Platskart-Wagen zu dritt statt zu zweit auf einer Bank, nachts
gibt es für drei Leute nur zwei Liegeplätze, es sei denn, einer kriecht auf die
Gepäckablage.
16. April, morgens: ich stelle meine Uhr um eine Stunde
zurück und plaudere am Heißwasser-Kessel ein wenig mit der anderen Provodnitsa. Die Brigade der
Zugbegleiter ist aus Moskau und arbeitet immer zusammen in diesem Zug. Ist das
nicht ein toller Beruf, was sehen Sie nicht alles! Naja, meint die Dame, man
gewöhnt sich, es fliegt alles vor dem Fenster an uns vorbei, länger aussteigen
können wir ja nie.
Grünteeschlürfend lese ich das Tagebuch einer Sibirienreise
der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann. Morgennebel liegt über Feldern und
Steppe, durch den die ersten Sonnenstrahlen brechen. Wir nähern uns
Krasnojarsk.
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