Montag, 28. November 2016

Eine Nacht in Tschita



Ein Moment aus meiner Potsdamer Studienzeit vor etwa zehn Jahren ist mir gut im Gedächtnis geblieben. Es war im Russischkurs mit Herrn Sultanov, und wir Studenten waren dazu aufgefordert, reihum  - auf Russisch – zu sagen, warum wir uns für das Erlernen dieser Sprache entschieden haben. „Ich träume davon, in Sibirien Deutsch zu unterrichten“, meinte ich, und alle mussten darüber ein wenig lachen einschließlich mir selbst. Damals hätte ich nie gedacht, dass es je möglich sein könnte, irgendwann einmal fließend Russisch zu sprechen und russische Klassiker im Original zu lesen, und dass mein Traum vom Deutschunterrichten in Sibirien so gründlich in Erfüllung gehen würde.

Natürlich bin ich nicht der einzige Deutsche, den es seine Muttersprache unterrichtend nach jenseits des Uralgebirges verschlagen hat. In jeder größeren Stadt gibt es ungefähr einen. Fünfhundert Kilometer westlich von Ulan-Ude – in Irkutsk, fünfhundert Kilometer weiter östlich – in Tschitá, beides Städte entlang der Transsibirischen Eisenbahn. Während eine Besichtigung von Irkutsk zum Standardprogramm für Transsib-Touristen gehört, steigt in Tschita kaum jemand aus dem Zug. Bekannt ist die Stadt in Deutschland wohl nur Sibirien-Fans und Russistik-Studenten, die mit ihrem Namen vor allem ein historisches Ereignis in Verbindung bringen: Zwangsarbeit und Verbannung für eine Gruppe aufständischer Offiziere, der Dekabristen, die im Jahre 1825 das Zarenregime stürzen wollten und dafür hinter den Baikalsee verschickt wurden.
In Begleitung von Niso besuchte ich in Tschita meinen deutschen Kollegen Frithjof, gelernter Luft- und Raumfahrtingenieur, der irgendwann darauf kam, dass ihn soziale Prozesse und das Arbeiten mit Menschen eigentlich mehr interessieren als die Technik. Frithjof ist der einzige westeuropäische Ausländer in der Stadt. Im Akademischen Auslandsamt der Transbaikalischen Staatlichen Universität, wo er arbeitet, kann niemand Englisch, dafür spricht man Chinesisch. Deutschstudenten gibt es wenige, das Niveau ist niedrig. Tschita ist umgeben von nackter, hügeliger Steppe; die nach St. Petersburger Schachbrett-Vorbild angelegten Straßen sind breit und gerade. Da das Sibirische Militärkommando hier seinen Sitz hat, sieht man im Bahnhof viele an- und abreisende Soldaten. In einem Wojentorg genannten Kiosk werden Fanartikel der russischen Armee verkauft: Shampoo, Lippenbalsam, Zahncreme und sogar Mineralwasser mit Etiketten in grüner Tarnfarbe und der Aufschrift „Armee-Standard“. In einer alten Holzkirche aus dicken braunen Balken ist das Dekabristen-Museum untergebracht, wo man eine Kopie des Urteils gegen die Aufständischen studieren kann. Nach dem erfolglosen Aufstand verurteilte Zar Nikolai I. die fünf Haupttäter zum Tode durch Vierteilung. Wenig später wurde die Strafe abgemildert und man erhängte sie lediglich. – Für Niso war der Besuch in Tschita aus ganz persönlichem Grund interessant: hier haben sich nämlich ihre Eltern kennengelernt.

Ich erinnere mich sehr gut an Wowa, einen jungen Moskauer Sprachwissenschaftler, der ein Jahr lang  in Ulan-Ude wohnte und mit dem ich mich anfreundete. Wowa konnte sich in etwa zehn bis zwölf verschiedenen Sprachen verständigen, hat sich an dem als extrem schwer geltenden Georgisch ein halbes Jahr lang vergeblich die Zähne ausgebissen und war hier in Burjatien damit beschäftigt, Chinesisch, Mongolisch und Burjatisch zu lernen. Vor allem Letzteres stellt eine außerordentliche Seltenheit dar für jemanden, der von außerhalb kommt und ist zur Verständigung auch nicht erforderlich, da alle Burjaten Russisch können. Als Wowa erfuhr, dass ich eine Freundin habe, die aus Tadschikistan kommt und Tadschikisch spricht, war er ganz außer sich vor Begeisterung. „Eine tolle Sprache, ganz einfach und logisch“, meinte er, „Verbformen, Satzbau, Aussprache, alles kein Problem!“ Unbedingt wollte er mit Niso bekannt gemacht werden und versuchte, sich mit ihr auf Tadschikisch zu unterhalten. Iсh versuche nun auch selbst ein wenig, die erste Muttersprache meiner Freundin zu erlernen und merke, dass Wowa recht hatte. Als indoeuropäische Sprache, ganz eng mit dem im Iran gesprochenen Persisch verwandt, ist sie für meinen germanischen Sprachverstand gut fassbar. Tadschikisch ist auf Kyrillisch geschriebenes Persisch, die Grammatik erfreut mich durch ihre zivilisierte Logik: die Verben haben Personalendungen, der Akkusativ wird durch eine Silbe markiert, manche Wörter sind leicht zu merken: parodar – Vater, modar – Mutter. Lustig sind die aus zwei Bestandteilen bestehenden Verben, wörtlich übersetzt heißt schlafen, lernen und sprechen Schlaf machen, Gedächtnis nehmen und Wort werfen.

Wie funktioniert das Erlernen einer Fremdsprache? Jedenfalls für die allermeisten Menschen wohl nicht, indem sie Wörter auf kleine Zettel schreibe mit Übersetzung auf der Rückseite und nun versuchen, sich systematisch jeden Tag zehn davon zu merken. Die Sprache muss leben, muss in einem Zusammenhang verwendet werden, ich muss Wörtern wieder und wieder begegnen in ihrer unterschiedlichen Gestalt, ich muss versuchen zu baden in der Sprachwelt, muss innerlich begeistert sein von dem, was mir die Dinge neu offenbaren dadurch, dass sie mit einem für mich bislang unbekannten Klang bezeichnet werden, mich an den Gesetzen des Sprachbaues erfreuen, das Schreiben der Buchstaben genießen und den Wunsch haben, das Land zu besuchen, in dem die Menschen so sprechen. Und wenn man das Sprachpflänzchen in sich geduldig und lange gießt, ohne zwischendurch ungeduldig an den Blättern zu zerren, dann erscheinen auch irgendwann die Blüten und Früchte.  So ähnlich versuche ich meine Deutschstudenten zu motivieren - von denen es in Ulan-Ude zum Glück ein paar mehr gibt als in Tschita.

Zugfahrt vorbei an rauchenden Dörfchen (oben). Längste Eisenbahnstrecke der Welt - auf einem Wagen der Transsib prangt stolz die Kilometerangabe (unten)
Zugzeit ist Lesezeit (oben). Auf dem Bahnhof Chilok (unten)
Der Leninplatz in Tschita (oben).
Noch eher er richtig begann, war er schon wieder zu Ende: ein Bild im Dekabristen-Museum illustriert den erfolglosen Aufstand gegen das Zarenregime 1825 (oben). Todesstrafe durch Vierteilung (unten)
Blick auf Tschita vom Titov-Hügel aus. Die Stadt ist ewas kleiner als Ulan-Ude und umgeben von nackter Steppe