Mit meinen Studentinnen im Kurs „Hauslektüre“ bespreche ich
zurzeit das Buch einer in der Taiga wohnenden Deutschen. Karin Haß, die Autorin
von „Fremde Heimat Sibirien“, hat vor viele Jahren ihr Leben als Hamburger
Programmiererin aufgegeben und ist in ein winziges Dorf gezogen, knapp 2000
Kilometer östlich des Baikals. Eigentlich wollte sie nur 8 Monate bleiben, doch
dann verliebte sie sich in einen ewenkischen Jäger und ist noch heute dort. Im
Sommer empfängt die Aussteigerin deutsche Touristen, ein Reisebüro organisiert
die Anreise. Einmal im Jahr, wenn Karin Haß in Deutschland ist, scheint sie
ihre Internetseite zu aktualisieren; in ihrem Dorf hat sie keinen Anschluss. Mich
beeindrucken ihre genaue Beobachtungen und ihre liebevolle Schilderungen von
Land und Leuten. In einer Email schrieb ich ihr, dass ich das Buch gerade mit
Studenten lese und bedankte mich für ihre tollen Beschreibungen. Als Antwort
kam eine automatische Abwesenheitsnotiz, über die ich herzlich lachen musste: „Leider
kann ich Ihre Mails vor September 2017 nicht beantworten.“ Ja, in Sibirien sind
nicht nur die Entfernungen, sondern auch die Zeitmaßstäbe andere!
Meinen Geburtstag nutzte ich wie üblich dazu, um mir, dabei
aromatischen Darjeeling schlürfend, die Menschen und Ereignisse meines vergangenen
Lebensjahres zu vergegenwärtigen. Noch nie habe ich wohl beruflich mit so
vielen verschiedenen Leuten zu tun gehabt und war in Zusammenhänge eingebunden,
die geografisch und zeitlich so weite Räume umspannen. Auf der einen Seite ist
das sehr spannend und anregend, andererseits bin ich mitunter auch ziemlich am
Ende meiner Kräfte.
Als ein schönes Geschenk empfand ich die gelungene Chorprobe,
18 Leute anwesend, ich verzichtete auf komplizierte mehrstimmige Stücke und
ließ muntere („Heut ist ein Fest bei den Fröschen am See“) oder auch getragene
(„Herr bleibe bei uns“) Kanons singen. Eine der beiden alten Damen bei uns im
Chor, die ehemalige Lehrerin Nelly, überreichte mir feierlich einen
500-Rubel-Schein und eine 10-Kopeken-Münze, „etwas ganz Großes und etwas ganz Kleines“,
wie es der burjatische Brauch wohl verlangt. Ich war sehr gerührt. Vielleicht
hat sie mir damit ein Zehntel ihrer Monatsrente gegeben. Die Studenten des
ersten Kurses schenkten mir einen tollen Bildband vom Baikalsee und eine der
typisch russischen vorgedruckten Geburtstagskarten dazu mit einem Spruch, der
dem ebenfalls typisch russischen Sprach-Pathos entspricht: „Sonnige Lächeln,
freudige Minuten, frische, ungewöhnliche, neue Eindrücke, möglichst oft, also
ob im Fest gute Überraschungen warten, liebliche Geschenke, die das Herz mit
der Wärme der Freunde erfüllen“ und noch ein paar Zeilen lang in dieser Art –
so schmalzig das in der Übersetzung klingt, so selbstverständlich ist es für
russische Ohren. Ich selbst beschenkte mich mit einer neuen Daunenjacke, die
über eine Kapuze verfügt, die man vorne praktisch bis zur Nase hin zuziehen
kann - damit sie mir der Wind bei minus Dreißig nicht vom Kopf reißt.
Am Abend stand in der Philharmonie der Auftritt eines
Petersburger Pianisten auf dem Programm. Bei einem Ticketpreis von umgerechnet
2,80 Euro konnte ich es mir leisten, neben meiner Freundin noch meinen Kollegen
Michael von der Englisch-Abteilung (einer von zwei männlichen Kollegen am
ganzen Institut!) samt Frau und seinen drei Kindern einzuladen. Wladimir
Belomestnych erwies sich als echtes Energiebündel: im Laufschritt auf die Bühne
getreten, setzte er sich nach einer zügigen Verbeugung an den Flügel und
donnerte los, noch ehe der Saaltechniker das Licht im Raum gedimmt hatte. Auf
dem Programm standen Chopin-Präludien und Polonaisen. Am Ende tobte der Saal
vor Begeisterung, man applaudierte stehend. Für Niso war es der erste
Klavierabend im Leben.
Der achte November war nicht nur für mich persönlich ein
besonderer Tag, sondern hatte auch weltpolitische Bedeutung: ein neuer
US-Präsident wurde gewählt. Am übernächsten Morgen beim Frühstück schaute ich
in meinem Smartphone die Tagesschau
vom Vorabend: Donald Trump hat die Wahl überraschend gewonnen. Der Westen ist
geschockt, Putin hingegen hofft auf einen Neubeginn in den
russisch-amerikanischen Beziehungen. „Ich bin enttäuscht von Amerikas Wählern“,
raunte mir unsere ehemalige Institutsleiterin Polina zu, als wir in einer Pause
am Imbiss nebeneinander in der Schlange stehen. „Für alle intelligenten
Menschen auf dem Planeten wohl ein schwarzer Tag. Der ist doch wie unser
Zhirinovskij“, meinte sie, auf den fernsehbekannten Clown anspielend, der die
russischen Liberalen anführt.
Oben: Niso bei mir zu Gast, unten: alles liegt bereit für die nächste Winterwanderung |