Donnerstag, 10. November 2016

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Mit meinen Studentinnen im Kurs „Hauslektüre“ bespreche ich zurzeit das Buch einer in der Taiga wohnenden Deutschen. Karin Haß, die Autorin von „Fremde Heimat Sibirien“, hat vor viele Jahren ihr Leben als Hamburger Programmiererin aufgegeben und ist in ein winziges Dorf gezogen, knapp 2000 Kilometer östlich des Baikals. Eigentlich wollte sie nur 8 Monate bleiben, doch dann verliebte sie sich in einen ewenkischen Jäger und ist noch heute dort. Im Sommer empfängt die Aussteigerin deutsche Touristen, ein Reisebüro organisiert die Anreise. Einmal im Jahr, wenn Karin Haß in Deutschland ist, scheint sie ihre Internetseite zu aktualisieren; in ihrem Dorf hat sie keinen Anschluss. Mich beeindrucken ihre genaue Beobachtungen und ihre liebevolle Schilderungen von Land und Leuten. In einer Email schrieb ich ihr, dass ich das Buch gerade mit Studenten lese und bedankte mich für ihre tollen Beschreibungen. Als Antwort kam eine automatische Abwesenheitsnotiz, über die ich herzlich lachen musste: „Leider kann ich Ihre Mails vor September 2017 nicht beantworten.“ Ja, in Sibirien sind nicht nur die Entfernungen, sondern auch die Zeitmaßstäbe andere!

Meinen Geburtstag nutzte ich wie üblich dazu, um mir, dabei aromatischen Darjeeling schlürfend, die Menschen und Ereignisse meines vergangenen Lebensjahres zu vergegenwärtigen. Noch nie habe ich wohl beruflich mit so vielen verschiedenen Leuten zu tun gehabt und war in Zusammenhänge eingebunden, die geografisch und zeitlich so weite Räume umspannen. Auf der einen Seite ist das sehr spannend und anregend, andererseits bin ich mitunter auch ziemlich am Ende meiner Kräfte.
Als ein schönes Geschenk empfand ich die gelungene Chorprobe, 18 Leute anwesend, ich verzichtete auf komplizierte mehrstimmige Stücke und ließ muntere („Heut ist ein Fest bei den Fröschen am See“) oder auch getragene („Herr bleibe bei uns“) Kanons singen. Eine der beiden alten Damen bei uns im Chor, die ehemalige Lehrerin Nelly, überreichte mir feierlich einen 500-Rubel-Schein und eine 10-Kopeken-Münze, „etwas ganz Großes und etwas ganz Kleines“, wie es der burjatische Brauch wohl verlangt. Ich war sehr gerührt. Vielleicht hat sie mir damit ein Zehntel ihrer Monatsrente gegeben. Die Studenten des ersten Kurses schenkten mir einen tollen Bildband vom Baikalsee und eine der typisch russischen vorgedruckten Geburtstagskarten dazu mit einem Spruch, der dem ebenfalls typisch russischen Sprach-Pathos entspricht: „Sonnige Lächeln, freudige Minuten, frische, ungewöhnliche, neue Eindrücke, möglichst oft, also ob im Fest gute Überraschungen warten, liebliche Geschenke, die das Herz mit der Wärme der Freunde erfüllen“ und noch ein paar Zeilen lang in dieser Art – so schmalzig das in der Übersetzung klingt, so selbstverständlich ist es für russische Ohren. Ich selbst beschenkte mich mit einer neuen Daunenjacke, die über eine Kapuze verfügt, die man vorne praktisch bis zur Nase hin zuziehen kann - damit sie mir der Wind bei minus Dreißig nicht vom Kopf reißt.

Am Abend stand in der Philharmonie der Auftritt eines Petersburger Pianisten auf dem Programm. Bei einem Ticketpreis von umgerechnet 2,80 Euro konnte ich es mir leisten, neben meiner Freundin noch meinen Kollegen Michael von der Englisch-Abteilung (einer von zwei männlichen Kollegen am ganzen Institut!) samt Frau und seinen drei Kindern einzuladen. Wladimir Belomestnych erwies sich als echtes Energiebündel: im Laufschritt auf die Bühne getreten, setzte er sich nach einer zügigen Verbeugung an den Flügel und donnerte los, noch ehe der Saaltechniker das Licht im Raum gedimmt hatte. Auf dem Programm standen Chopin-Präludien und Polonaisen. Am Ende tobte der Saal vor Begeisterung, man applaudierte stehend. Für Niso war es der erste Klavierabend im Leben.

Der achte November war nicht nur für mich persönlich ein besonderer Tag, sondern hatte auch weltpolitische Bedeutung: ein neuer US-Präsident wurde gewählt. Am übernächsten Morgen beim Frühstück schaute ich in meinem Smartphone die Tagesschau vom Vorabend: Donald Trump hat die Wahl überraschend gewonnen. Der Westen ist geschockt, Putin hingegen hofft auf einen Neubeginn in den russisch-amerikanischen Beziehungen. „Ich bin enttäuscht von Amerikas Wählern“, raunte mir unsere ehemalige Institutsleiterin Polina zu, als wir in einer Pause am Imbiss nebeneinander in der Schlange stehen. „Für alle intelligenten Menschen auf dem Planeten wohl ein schwarzer Tag. Der ist doch wie unser Zhirinovskij“, meinte sie, auf den fernsehbekannten Clown anspielend, der die russischen Liberalen anführt.

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