Oben: Das Sretensker Frauenkloster liegt in dem winzigen Dörfchen Baturino. Unten: Bei -15 Grad ist das Lagerfeuer ein Segen |
Oben: Der Priester (ganz links), die Äbtin und die Nonnen versammeln sich am Sonntag nach dem Gottesdienst im Speisesaal. Unten: In der Männerunterkunft wurde mir das Bett links oben zugeteilt. |
Oben: Die Arbeiter wohnen in einem Holzhaus noch aus der Zarenzeit. Unten: In der klostereigenen Schreinerei werden Souvenirs hergestellt. |
Oben: Die hochmoderne computergesteuerte Fräse fertigt die Holzkreuze ganz ohne menschliches Zutun. Unten: Die Kolchosruine im Ort zeugt davon, dass es einmal bessere Zeiten gab. |
Gerade haben Niso und ich die
frische Milch getrunken, die uns Mutter Olga zum Abschied unseres
Klosterbesuches geschenkt hat. „Dick und lecker, man schmeckt, dass die Kuh
erst vor Kurzem gekalbt hat!“, meinte Niso, die auf dem Dorf aufgewachsen ist
und sich in solchen Dingen auskennt.
Als wir am Samstag zeitig am
Morgen nach Baturino aufbrachen, hatten wir alles dabei, um die folgende Nacht
trotz leichter Minusgrade, wie ich dachte, möglichst gemütlich im Zelt zu
verbringen: drei Schlafsäcke, zwei gefüllte Thermoskannen, einen
Propangaskocher und diverse Pullover, lange Unterhosen und Wollsocken. Im Dorf
Nesterovo, ein paar Kilometer hinter Baturino, stiegen wir nach
anderthalbstündiger Fahrt mit dem Kleinbus aus. Es war halb zehn Uhr morgens,
eine eisige Kälte biss uns ins Gesicht. Wir schulterten unsere Rucksäcke, ich
zog meine neue Daunenjackenkapuze mit Waschbär-Pelzkragen tief ins Gesicht und
wir setzen uns in Marsch. Nach wenigen Schritten begann Niso über abgefrorene
Zehen zu klagen. Ich gab ihr ein Paar der legendären, von meiner Mutter
selbstgestrickten Wollsocken, und nach einer Weile hatte sie sich die Füße
tatsächlich warmgelaufen. Die Sonne schaute gerade über einen Hügel am
Horizont, es war blauer Himmel, ringsum die Felder bedeckt mit blendendweißem
Schnee. Ich schätzte die Temperatur auf minus zwanzig und beschloss in diesem
Moment: die nächste Nacht werden wir wer weiß wo verbringen, aber bestimmt
nicht im Zelt.
Baturino, auf halbem Wege
zwischen Ulan-Ude und dem Baikalsee, ist ein Dörfchen aus drei Dutzend Häusern
mit einer mächtigen, weithin sichtbaren Kirche in der Mitte; aus einigen der
Gebäuden steigen dünne Rauchsäulen auf, die zwei Wege durch den Ort sind
menschenleer. Was bewegt die Leute, die in den Häusern hinter den dicken Balken
wohnen, wo arbeiten sie, wer geht in die Kirche? Wir sollten Gelegenheit
bekommen, einen Einblick zu erhalten, doch zunächst gingen wir außen um den Ort
herum, vorbei an den verfallenen Mauerresten einer ehemaligen Kolchose, auf den
von mir so getauften Caspar-David-Friedrich-Hügel mit dem Holzkreuz auf dem
Gipfel. Von oben schauten wir über die in erhabener Stille liegende Landschaft,
von einer einzigen Straße durchzogen, von der hin und wieder das ferne
Motorengeräusch eines Autos zu uns heraufdrang. Wir entzündeten ein Lagerfeuer
und wärmten uns, Niso erzählte mir von ihrer kräutersammelnden und als Heilerin
tätigen Großmutter, die sie eigentlich in ihre Kunst einweihen wollte, doch der
Krieg in Tadschikistan und die Auswanderung nach Russland kamen dazwischen.
Die prächtige, weiß gekalkte
Kirche mit den meterdicken Wänden in Baturino gehört zum Sretensker
Frauenkloster. Mit einem Kloster verbindet man wohl in Westeuropa ein Gebäude
mit einem Säulengang und die Zugehörigkeit zu einem Orden, Johanniter etwa,
Benediktiner oder Dominikaner. Bei den Klöstern der russisch-orthodoxen Kirche
gibt es weder das eine noch das andere. Eine der schwarz gekleideten Nonnen,
die im Vorraum saßen und Kerzen und Souvenirs verkaufen, fragte ich nach
Übernachtungsmöglichkeiten: wir würden gern um 17 Uhr den Gottesdienst
besuchen, müssten dann aber bis morgen bleiben können. Nach einem Telefonat mit
der Äbtin (Iguminja) teilte die Nonne
mit, dass unser Wunsch erfüllt werden kann: die Frau kommt ins Frauen-Gästehaus
und ich in die Arbeiter-Unterkunft. Wir sind eigentlich zusammen, meinte ich
etwas unsicher… Kopfschütteln. Ich verstand: hier ist ein Kloster, da gelten
besondere Regeln.
Um 17 Uhr begann es vom Kirchturm
zu läuten, zunächst rhythmische, einzelne Schläge an einer großen Glocke und
dann ein helles Gebimmel aus vielen kleineren Glocken, wie man es in Westeuropa
nicht kennt. Die Zeremonie dauerte drei Stunden; ich hielt es nicht aus, so
lange zu stehen und setzte mich zwischendurch immer wieder auf die eigentlich
für Alte und Gebrechliche vorgesehene Bank. Auch in einem Frauenkloster ist der
Priester (Batjuschka) natürlich ein
Mann. Die Sprache der Liturgie ist das nicht nur für mich, sondern
wahrscheinlich für die meisten Russen größtenteils unverständliche
Altkirchenslavisch. Im vorderen Teil des Kirchenraumes standen die 15 Nonnen (Inokiny) und Nonnenanwärterinnen (Poslushnitsy), die sozusagen in der
Probezeit sind. Zwischendurch sangen zwei helle Frauenstimmen, eine davon
Mutter Olga, die mich bei meinem letzten Besuch in den Speisesaal eingeladen
hatte. Sie sind getauft?, fragte mich eine der Nonnen, als sich die Schlange
zur Kommunion bildete. Dann kommen Sie! Ich schaute aufmerksam auf die
Gläubigen vor mir, um keine Fehler zu machen, und wiederholte genau, was sie
taten: sich bekreuzigen, die große goldene Bibel küssen und mit der Stirn
berühren, dann zum Priester treten, der mit Öl und einem Pinsel ein Kreuz auf
die Stirn zeichnet, und den Ärmelaufschlag seines mit goldenen Ornamenten verzierten
Gewandes küssen, und schließlich von einem Tablett eine kleine Brotscheibe, die
Hostie, nehmen.
Nach der Kommunion verließ ich
mit den Brüdern den Gottesdienst, um
in der Trapeznaja, dem Speisesaal,
das Abendbrot einzunehmen. Draußen war es schon stockdunkel. Die Brüder sind die beim Kloster arbeitenden
Männer. Dicht zusammengedrängt saßen wir an der langen Tafel vor jeder seinem
Glas Tee und löffelten eine Suppe, eher wortkarge, vom Leben gezeichnete Kerle;
draußen vor dem Fenster schauten Dunkelheit und Minusgrade herein, konnten uns
aber nichts anhaben. Es ist ein Unterschied, ob man in einer deutschen
Großstadt oder in einem sibirischen Dorf einen Teller heiße Suppe löffelt.
Damit die heiße Suppe entsteht und auf den Tisch kommt, ist in letzterem Falle
sehr viel mehr Aufwand erforderlich, und um zu überleben, ist sie in Sibirien
sehr viel notwendiger. Neben mir ein hagerer Mann mit aufmerksamem Blick, der
sich mir als der Traktorist vorstellte. Und dieser Taugenichts da gegenüber,
das ist unser Künstler, der malt die Ikonen, scherzte er. Selber Tagenichts,
entgegnete der Ikonenmaler und lachte. Er hatte einen eleganten Anzug an mit
Krawatte und strömte eine leichte Wodkafahne aus. Er mag es, zu trinken,
erklärte mir der Traktorist. Aber ich mag das manchmal auch. Das ist eben
unsere russische Krankheit.
Das Haus, in dem die Brüder
wohnten, ist bestimmt aus dem vorletzten Jahrhundert, ein Holzhaus aus dicken
Balken mit den klassischen russischen, blau lackierten Fensterläden. Die Tür
muss man kräftig aufstoßen – in einem Dorf, wo jeder jeden kennt, wird nicht
abgeschlossen – dahinter dann einen schweren, von oben herabhängenden Teppich
zur Seite schieben. Ein riesiger, weiß gekalkter Ofen teilt den Raum in zwei
Hälften, der Durchgang rechts neben ihm ist wieder mit Teppichen und Folien
abgehängt. Danach steht man im Schlafraum: 3 Doppelstock- und ein einfaches
Bett dicht zusammengestellt, in den Ecken Ikonenbilder, in der Mitte auf einem
Schrank der Fernseher. Ich fand es bemerkenswert, mit wie wenig Privatraum die
Leute auskommen. Mir wurde ohne große Worte eines der oberen Betten zugewiesen
und Bettwäsche gegeben. Auf engem Raum mit vielen unbekannten Leuten sein ist
eine Erfahrung, die ich schon oft in Russland gemacht habe; jede Fahrt mit dem platskartnyj wagon gehört dazu. Einfach
und authentisch sein hilft mir dabei, mich schnell und unkompliziert ins
Kollektiv einzufügen, nicht zu klug und zu viel reden, ein paar interessierte
Fragen stellen, aber auch nicht zu neugierig nachbohren. Wer weiß, was für eine
Vergangenheit die Leute haben, dachte ich, umsonst entschließt sich wohl keiner
zu einem Leben als Klosterbruder. Abends verschwanden meine Zimmerkollegen zur
Lesung eines Gebetes (pravilo) ins
Nachbarzimmer. Ich sei wohl Katholik wie alle Deutschen, fragte mich der junge
Mann im Bett unter mir. Die Hälfte bei uns sind Lutheraner, meinte ich stark
vereinfachend, aber der Gott ist ja wohl der gleiche bei allen Christen…
Beifälliges Nicken.
Ein wenig ärgerte ich mich beim
Einschlafen über den laufenden Fernseher. Eigentlich stand mir der Sinn nicht
nach den Wahlen in Moldawien, wo es wieder einmal hieß EU oder Russland? oder nach den zwei russische Flugzeugträgern, die
im Mittelmeer vor der syrischen Küste kreuzten. Doch dann machte ich mir
bewusst, dass die Alternative minus
zwanzig Grad im Zelt heißt und genoss die Wärme des russischen Ofens.
Der Fernseher wurde schon am
nächsten Morgen um sieben wieder eingeschaltet. Aufstehen! Um 8 Uhr begann der
sonntägliche Gottesdienst, der jetzt nur zweieinhalb Stunden dauerte. Eine
Zeitlang traten Gläubige einzeln zum Priester vor und flüsterten ihm etwas ins
Ohr, woraufhin dieser etwas sprach und ihnen seine breite Stola über den Kopf
legte – die Beichte (ispoved). Die
Kommunion verlief diesmal anders als am Vortag. Bevor ich mir eine Hostie vom
Tisch nahm, spritzte mir der Priester mit einem Pinsel in einer kreuzförmigen
Bewegung Wasser ins Gesicht, dann küsste ich sein goldenes Kreuz und seine
Hand. Nun gab es auch eine Predigt (propoved),
in welcher der Batjuschka an die
Geschichte der Klöster in Russland erinnerte. Vor der Oktoberrevolution gab es
über 1200, zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges war kein einziges mehr
in Betrieb. 1943 wurden die ersten Klöster wieder eröffnet, heute gibt es schon
wieder über 800.
Um 11 Uhr machten sich die Männer
wieder an die Arbeit, obwohl Sonntag war. Niso und ich durften einen Blick in
die Schreinerwerkstatt werfen, in der mit einer hochmodernen
computergesteuerten Fräse die Holzkreuze und ähnliche Gegenstände hergestellt
werden, die dann in der lavka, dem
Klostershop sozusagen, zum Verkauf stehen. Der Traktorist schrieb mir zum Abschied seine Telefonnummer
auf, ich solle wiederkommen! Und Mutter Olga schenkte uns eine Flasche Milch
von einer der fünf Klosterkühe. Niemand hatte uns während des Besuches nach
Geld gefragt. Ich fragte, wo ich etwas spenden könne; eine Nonne zeigt mir den
Spendenkasten. Zarin Katherina die Zweite war ja auch Deutsche, erzählt sie
mir, und sie hat fünf Jahre in Russland gelebt, bevor sie den orthodoxen
Glauben angenommen hat. Also, beeilen Sie sich nicht, hören Sie darauf, was die
Seele Ihnen sagt.
Eine Weile standen Niso und ich
draußen im Schneetreiben und betrachteten das Dekabristen-Grab neben der Kirche.
Ein gewisser Shimkov war nach dem missglückten Aufstand gegen die Monarchie
1825 hierher verbannt worden. Der Ort Baturino hatte früher wohl mal eine
derartige Bedeutung, dass sogar der deutsche Sibirienforscher Müller auf seiner
Exkursion vor knapp 300 Jahren von ihm berichtete. Dann studierten wir die exakt geometrischen
Eiskristalle, die die landenden Schneeflocken auf unseren Daunenjacken
hinterließen. Wenig später kam der Bus zurück in die Stadt.