Dienstag, 15. November 2016

Eine Nacht im Frauenkloster



Oben: Das Sretensker Frauenkloster liegt in dem winzigen Dörfchen Baturino. Unten: Bei -15 Grad ist das Lagerfeuer ein Segen

Oben: Der Priester (ganz links), die Äbtin und die Nonnen versammeln sich am Sonntag nach dem Gottesdienst im Speisesaal. Unten: In der Männerunterkunft wurde mir das Bett links oben zugeteilt.
Oben: Die Arbeiter wohnen in einem Holzhaus noch aus der Zarenzeit. Unten: In der klostereigenen Schreinerei werden Souvenirs hergestellt.
Oben: Die hochmoderne computergesteuerte Fräse fertigt die Holzkreuze ganz ohne menschliches Zutun. Unten: Die Kolchosruine im Ort zeugt davon, dass es einmal bessere Zeiten gab.

Gerade haben Niso und ich die frische Milch getrunken, die uns Mutter Olga zum Abschied unseres Klosterbesuches geschenkt hat. „Dick und lecker, man schmeckt, dass die Kuh erst vor Kurzem gekalbt hat!“, meinte Niso, die auf dem Dorf aufgewachsen ist und sich in solchen Dingen auskennt.

Als wir am Samstag zeitig am Morgen nach Baturino aufbrachen, hatten wir alles dabei, um die folgende Nacht trotz leichter Minusgrade, wie ich dachte, möglichst gemütlich im Zelt zu verbringen: drei Schlafsäcke, zwei gefüllte Thermoskannen, einen Propangaskocher und diverse Pullover, lange Unterhosen und Wollsocken. Im Dorf Nesterovo, ein paar Kilometer hinter Baturino, stiegen wir nach anderthalbstündiger Fahrt mit dem Kleinbus aus. Es war halb zehn Uhr morgens, eine eisige Kälte biss uns ins Gesicht. Wir schulterten unsere Rucksäcke, ich zog meine neue Daunenjackenkapuze mit Waschbär-Pelzkragen tief ins Gesicht und wir setzen uns in Marsch. Nach wenigen Schritten begann Niso über abgefrorene Zehen zu klagen. Ich gab ihr ein Paar der legendären, von meiner Mutter selbstgestrickten Wollsocken, und nach einer Weile hatte sie sich die Füße tatsächlich warmgelaufen. Die Sonne schaute gerade über einen Hügel am Horizont, es war blauer Himmel, ringsum die Felder bedeckt mit blendendweißem Schnee. Ich schätzte die Temperatur auf minus zwanzig und beschloss in diesem Moment: die nächste Nacht werden wir wer weiß wo verbringen, aber bestimmt nicht im Zelt.

Baturino, auf halbem Wege zwischen Ulan-Ude und dem Baikalsee, ist ein Dörfchen aus drei Dutzend Häusern mit einer mächtigen, weithin sichtbaren Kirche in der Mitte; aus einigen der Gebäuden steigen dünne Rauchsäulen auf, die zwei Wege durch den Ort sind menschenleer. Was bewegt die Leute, die in den Häusern hinter den dicken Balken wohnen, wo arbeiten sie, wer geht in die Kirche? Wir sollten Gelegenheit bekommen, einen Einblick zu erhalten, doch zunächst gingen wir außen um den Ort herum, vorbei an den verfallenen Mauerresten einer ehemaligen Kolchose, auf den von mir so getauften Caspar-David-Friedrich-Hügel mit dem Holzkreuz auf dem Gipfel. Von oben schauten wir über die in erhabener Stille liegende Landschaft, von einer einzigen Straße durchzogen, von der hin und wieder das ferne Motorengeräusch eines Autos zu uns heraufdrang. Wir entzündeten ein Lagerfeuer und wärmten uns, Niso erzählte mir von ihrer kräutersammelnden und als Heilerin tätigen Großmutter, die sie eigentlich in ihre Kunst einweihen wollte, doch der Krieg in Tadschikistan und die Auswanderung nach Russland kamen dazwischen.

Die prächtige, weiß gekalkte Kirche mit den meterdicken Wänden in Baturino gehört zum Sretensker Frauenkloster. Mit einem Kloster verbindet man wohl in Westeuropa ein Gebäude mit einem Säulengang und die Zugehörigkeit zu einem Orden, Johanniter etwa, Benediktiner oder Dominikaner. Bei den Klöstern der russisch-orthodoxen Kirche gibt es weder das eine noch das andere. Eine der schwarz gekleideten Nonnen, die im Vorraum saßen und Kerzen und Souvenirs verkaufen, fragte ich nach Übernachtungsmöglichkeiten: wir würden gern um 17 Uhr den Gottesdienst besuchen, müssten dann aber bis morgen bleiben können. Nach einem Telefonat mit der Äbtin (Iguminja) teilte die Nonne mit, dass unser Wunsch erfüllt werden kann: die Frau kommt ins Frauen-Gästehaus und ich in die Arbeiter-Unterkunft. Wir sind eigentlich zusammen, meinte ich etwas unsicher… Kopfschütteln. Ich verstand: hier ist ein Kloster, da gelten besondere Regeln. 

Um 17 Uhr begann es vom Kirchturm zu läuten, zunächst rhythmische, einzelne Schläge an einer großen Glocke und dann ein helles Gebimmel aus vielen kleineren Glocken, wie man es in Westeuropa nicht kennt. Die Zeremonie dauerte drei Stunden; ich hielt es nicht aus, so lange zu stehen und setzte mich zwischendurch immer wieder auf die eigentlich für Alte und Gebrechliche vorgesehene Bank. Auch in einem Frauenkloster ist der Priester (Batjuschka) natürlich ein Mann. Die Sprache der Liturgie ist das nicht nur für mich, sondern wahrscheinlich für die meisten Russen größtenteils unverständliche Altkirchenslavisch. Im vorderen Teil des Kirchenraumes standen die 15 Nonnen (Inokiny) und Nonnenanwärterinnen (Poslushnitsy), die sozusagen in der Probezeit sind. Zwischendurch sangen zwei helle Frauenstimmen, eine davon Mutter Olga, die mich bei meinem letzten Besuch in den Speisesaal eingeladen hatte. Sie sind getauft?, fragte mich eine der Nonnen, als sich die Schlange zur Kommunion bildete. Dann kommen Sie! Ich schaute aufmerksam auf die Gläubigen vor mir, um keine Fehler zu machen, und wiederholte genau, was sie taten: sich bekreuzigen, die große goldene Bibel küssen und mit der Stirn berühren, dann zum Priester treten, der mit Öl und einem Pinsel ein Kreuz auf die Stirn zeichnet, und den Ärmelaufschlag seines mit goldenen Ornamenten verzierten Gewandes küssen, und schließlich von einem Tablett eine kleine Brotscheibe, die Hostie, nehmen.

Nach der Kommunion verließ ich mit den Brüdern den Gottesdienst, um in der Trapeznaja, dem Speisesaal, das Abendbrot einzunehmen. Draußen war es schon stockdunkel. Die Brüder sind die beim Kloster arbeitenden Männer. Dicht zusammengedrängt saßen wir an der langen Tafel vor jeder seinem Glas Tee und löffelten eine Suppe, eher wortkarge, vom Leben gezeichnete Kerle; draußen vor dem Fenster schauten Dunkelheit und Minusgrade herein, konnten uns aber nichts anhaben. Es ist ein Unterschied, ob man in einer deutschen Großstadt oder in einem sibirischen Dorf einen Teller heiße Suppe löffelt. Damit die heiße Suppe entsteht und auf den Tisch kommt, ist in letzterem Falle sehr viel mehr Aufwand erforderlich, und um zu überleben, ist sie in Sibirien sehr viel notwendiger. Neben mir ein hagerer Mann mit aufmerksamem Blick, der sich mir als der Traktorist vorstellte. Und dieser Taugenichts da gegenüber, das ist unser Künstler, der malt die Ikonen, scherzte er. Selber Tagenichts, entgegnete der Ikonenmaler und lachte. Er hatte einen eleganten Anzug an mit Krawatte und strömte eine leichte Wodkafahne aus. Er mag es, zu trinken, erklärte mir der Traktorist. Aber ich mag das manchmal auch. Das ist eben unsere russische Krankheit.

Das Haus, in dem die Brüder wohnten, ist bestimmt aus dem vorletzten Jahrhundert, ein Holzhaus aus dicken Balken mit den klassischen russischen, blau lackierten Fensterläden. Die Tür muss man kräftig aufstoßen – in einem Dorf, wo jeder jeden kennt, wird nicht abgeschlossen – dahinter dann einen schweren, von oben herabhängenden Teppich zur Seite schieben. Ein riesiger, weiß gekalkter Ofen teilt den Raum in zwei Hälften, der Durchgang rechts neben ihm ist wieder mit Teppichen und Folien abgehängt. Danach steht man im Schlafraum: 3 Doppelstock- und ein einfaches Bett dicht zusammengestellt, in den Ecken Ikonenbilder, in der Mitte auf einem Schrank der Fernseher. Ich fand es bemerkenswert, mit wie wenig Privatraum die Leute auskommen. Mir wurde ohne große Worte eines der oberen Betten zugewiesen und Bettwäsche gegeben. Auf engem Raum mit vielen unbekannten Leuten sein ist eine Erfahrung, die ich schon oft in Russland gemacht habe; jede Fahrt mit dem platskartnyj wagon gehört dazu. Einfach und authentisch sein hilft mir dabei, mich schnell und unkompliziert ins Kollektiv einzufügen, nicht zu klug und zu viel reden, ein paar interessierte Fragen stellen, aber auch nicht zu neugierig nachbohren. Wer weiß, was für eine Vergangenheit die Leute haben, dachte ich, umsonst entschließt sich wohl keiner zu einem Leben als Klosterbruder. Abends verschwanden meine Zimmerkollegen zur Lesung eines Gebetes (pravilo) ins Nachbarzimmer. Ich sei wohl Katholik wie alle Deutschen, fragte mich der junge Mann im Bett unter mir. Die Hälfte bei uns sind Lutheraner, meinte ich stark vereinfachend, aber der Gott ist ja wohl der gleiche bei allen Christen… Beifälliges Nicken.

Ein wenig ärgerte ich mich beim Einschlafen über den laufenden Fernseher. Eigentlich stand mir der Sinn nicht nach den Wahlen in Moldawien, wo es wieder einmal hieß EU oder Russland? oder nach den zwei russische Flugzeugträgern, die im Mittelmeer vor der syrischen Küste kreuzten. Doch dann machte ich mir bewusst, dass die Alternative minus zwanzig Grad im Zelt heißt und genoss die Wärme des russischen Ofens. 

Der Fernseher wurde schon am nächsten Morgen um sieben wieder eingeschaltet. Aufstehen! Um 8 Uhr begann der sonntägliche Gottesdienst, der jetzt nur zweieinhalb Stunden dauerte. Eine Zeitlang traten Gläubige einzeln zum Priester vor und flüsterten ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser etwas sprach und ihnen seine breite Stola über den Kopf legte – die Beichte (ispoved). Die Kommunion verlief diesmal anders als am Vortag. Bevor ich mir eine Hostie vom Tisch nahm, spritzte mir der Priester mit einem Pinsel in einer kreuzförmigen Bewegung Wasser ins Gesicht, dann küsste ich sein goldenes Kreuz und seine Hand. Nun gab es auch eine Predigt (propoved), in welcher der Batjuschka an die Geschichte der Klöster in Russland erinnerte. Vor der Oktoberrevolution gab es über 1200, zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges war kein einziges mehr in Betrieb. 1943 wurden die ersten Klöster wieder eröffnet, heute gibt es schon wieder über 800. 

Um 11 Uhr machten sich die Männer wieder an die Arbeit, obwohl Sonntag war. Niso und ich durften einen Blick in die Schreinerwerkstatt werfen, in der mit einer hochmodernen computergesteuerten Fräse die Holzkreuze und ähnliche Gegenstände hergestellt werden, die dann in der lavka, dem Klostershop sozusagen, zum Verkauf stehen. Der Traktorist  schrieb mir zum Abschied seine Telefonnummer auf, ich solle wiederkommen! Und Mutter Olga schenkte uns eine Flasche Milch von einer der fünf Klosterkühe. Niemand hatte uns während des Besuches nach Geld gefragt. Ich fragte, wo ich etwas spenden könne; eine Nonne zeigt mir den Spendenkasten. Zarin Katherina die Zweite war ja auch Deutsche, erzählt sie mir, und sie hat fünf Jahre in Russland gelebt, bevor sie den orthodoxen Glauben angenommen hat. Also, beeilen Sie sich nicht, hören Sie darauf, was die Seele Ihnen sagt.

Eine Weile standen Niso und ich draußen im Schneetreiben und betrachteten das Dekabristen-Grab neben der Kirche. Ein gewisser Shimkov war nach dem missglückten Aufstand gegen die Monarchie 1825 hierher verbannt worden. Der Ort Baturino hatte früher wohl mal eine derartige Bedeutung, dass sogar der deutsche Sibirienforscher Müller auf seiner Exkursion vor knapp 300 Jahren von ihm berichtete. Dann studierten wir die exakt geometrischen Eiskristalle, die die landenden Schneeflocken auf unseren Daunenjacken hinterließen. Wenig später kam der Bus zurück in die Stadt.