Am letzten Freitag war der „Tag
der Einheit des Volkes“, ein Feiertag, und die Uni geschlossen. Ich begleitete
Niso auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle, dem Einkaufszentrum Za ruljom, „Am Steuer“, wo es
Autoersatzteile, Fahrräder, Werkzeuge und anderes gibt. Unterwegs im Kleinbus
schrieb sie viber-Nachrichten mit
Ruslan, einem ihrer vier Brüder. Ruslan ist Zeitsoldat in der Stadt Kjachta an
der Grenze zur Mongolei und teilte seiner Schwester mit, dass heute eine
Trauerfeier anstehe. Der Bataillons-Kommandant sei in der Ukraine gefallen.
Frag ihn mal, was er dort gesucht
hat, meinte ich zu Niso.
Meine Freundin interessiert sich
kaum für Politik und verstand wahrscheinlich die Brisanz meiner Frage nicht. Was hat er dort gemacht, schrieb sie
ihrem Bruder.
Er saß in seinem Dienstzimmer. Da kam so ein Arsch herein und hat ihn
erschossen.
Wo genau in der Ukraine wohl ein
russischer Soldat sein Dienstzimmer hat? Leider war die Busfahrt zuende, bevor
wir das noch aufklären konnten. –
An diesem Wochenende hatte der Zirkus
Demidov die letzten Vorstellungen seines
Gastspiels in Ulan-Ude. Zum ersten Mal seit fünf Jahren betrat ich wieder ein
Zirkuszelt. Ein russischer Zirkus, der viele südamerikanische Artisten unter
Vertrag hat, die in einer Todesrad
genannten Konstruktion auftraten, eine Art doppeltem Laufrad, oder sechs
Motorradkünstler, die mit ihren knatternden, Benzingestank verbreitenden Fahrzeugen
innerhalb der aus einem Stahlgitter bestehenden Todeskugel von etwa 5 Metern Durchmesser herumrasten – auf dem
Höhepunkt der Nummer alle sechs gleichzeitig. Bei abenteuerlichen Balancierkuststücken in
großer Höhe, natürlich ungesichert, hielt man es nicht einmal für nötig, den
Betonfußboden darunter mit Matten abzudecken. Beeindruckend natürlich auch der
Dompteur, der acht sich gleichzeitig in
der Arena befindliche weißen Tiger und Löwen in Schach hielt. Dramatisch ein in
gespenstischem Schwarz auftretender syrische Messerwerfer, der auf eine
Holzscheibe zielte, vor der sich eine fast entkleidete Frau aufgestellt hatte,
so dass die Klingen knapp neben ihr ins Holz einschlugen. Untermalt von
dämonischen Rammstein-Klängen zog er sich anschließend eine schwarze Kappe über
den Kopf – nachdem die Zuschauer getestet hatten, dass man tatsächlich nichts
hindurch sehen kann – und stellte sich zum Wurf auf. Das Zelt hielt den Atem
an. Die Frau schlug mit der Hand neben sich auf die Holzscheibe, und wenige
Sekunden später schlug genau dort das Messer ein, das der Meister dem Geräusch
nach – blind – geschleudert hatte.
Um am Freitag trotzdem das
Institutsgebäude betreten zu können, musste ich mir eine Sondergenehmigung mit
Unterschrift des Leiters der Abteilung für Sicherheit besorgen, der Chef aller
Wachleute sozusagen, die an den Eingängen sitzen. Obwohl an 7 Tagen die Woche
24 Stunden lang ein Wachmann im Foyer anwesend ist, wird an Sonn- und
Feiertagen normalerweise niemand hereingelassen. Ich musste ins Haus, um mit
einigen Studenten einen Sprachtest durchzuführen, eine Prüfung, bei der die
Teilnehmer an Computern sitzen und 40 Minuten lang Lückentexte ausfüllen. Am
Ende wird sofort das Ergebnis angezeigt. Drei der vier Studentinnen waren
enttäuscht und hatten sich ein besseres Resultat gewünscht. „Sie sind nicht
zufrieden mit dem Ergebnis?“, fasste ich die im Raum liegende Stimmung in
Worte. Heftiges bestätigendes Nicken. Wenn eine Frage eine Verneinung enthält
und man der verneinten Aussage zustimmt, wird in Russland mit „Ja“ geantwortet:
Ja, wir sind nicht zufrieden. Deutsche würden den Kopf schütteln: Nein, wir
sind nicht zufrieden. Ein interessantes Detail, das mich anfangs mitunter
irritiert hat.