Sonntag, 6. November 2016

Zirkus



Am letzten Freitag war der „Tag der Einheit des Volkes“, ein Feiertag, und die Uni geschlossen. Ich begleitete Niso auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle, dem Einkaufszentrum Za ruljom, „Am Steuer“, wo es Autoersatzteile, Fahrräder, Werkzeuge und anderes gibt. Unterwegs im Kleinbus schrieb sie viber-Nachrichten mit Ruslan, einem ihrer vier Brüder. Ruslan ist Zeitsoldat in der Stadt Kjachta an der Grenze zur Mongolei und teilte seiner Schwester mit, dass heute eine Trauerfeier anstehe. Der Bataillons-Kommandant sei in der Ukraine gefallen.

Frag ihn mal, was er dort gesucht hat, meinte ich zu Niso.

Meine Freundin interessiert sich kaum für Politik und verstand wahrscheinlich die Brisanz meiner Frage nicht. Was hat er dort gemacht, schrieb sie ihrem Bruder.

Er saß in seinem Dienstzimmer. Da kam so ein Arsch herein und hat ihn erschossen.

Wo genau in der Ukraine wohl ein russischer Soldat sein Dienstzimmer hat? Leider war die Busfahrt zuende, bevor wir das noch aufklären konnten. – 

An diesem Wochenende hatte der Zirkus Demidov die letzten Vorstellungen seines Gastspiels in Ulan-Ude. Zum ersten Mal seit fünf Jahren betrat ich wieder ein Zirkuszelt. Ein russischer Zirkus, der viele südamerikanische Artisten unter Vertrag hat, die in einer Todesrad genannten Konstruktion auftraten, eine Art doppeltem Laufrad, oder sechs Motorradkünstler, die mit ihren knatternden, Benzingestank verbreitenden Fahrzeugen innerhalb der aus einem Stahlgitter bestehenden Todeskugel von etwa 5 Metern Durchmesser herumrasten – auf dem Höhepunkt der Nummer alle sechs gleichzeitig.  Bei abenteuerlichen Balancierkuststücken in großer Höhe, natürlich ungesichert, hielt man es nicht einmal für nötig, den Betonfußboden darunter mit Matten abzudecken. Beeindruckend natürlich auch der Dompteur, der  acht sich gleichzeitig in der Arena befindliche weißen Tiger und Löwen in Schach hielt. Dramatisch ein in gespenstischem Schwarz auftretender syrische Messerwerfer, der auf eine Holzscheibe zielte, vor der sich eine fast entkleidete Frau aufgestellt hatte, so dass die Klingen knapp neben ihr ins Holz einschlugen. Untermalt von dämonischen Rammstein-Klängen zog er sich anschließend eine schwarze Kappe über den Kopf – nachdem die Zuschauer getestet hatten, dass man tatsächlich nichts hindurch sehen kann – und stellte sich zum Wurf auf. Das Zelt hielt den Atem an. Die Frau schlug mit der Hand neben sich auf die Holzscheibe, und wenige Sekunden später schlug genau dort das Messer ein, das der Meister dem Geräusch nach – blind – geschleudert hatte. 

Um am Freitag trotzdem das Institutsgebäude betreten zu können, musste ich mir eine Sondergenehmigung mit Unterschrift des Leiters der Abteilung für Sicherheit besorgen, der Chef aller Wachleute sozusagen, die an den Eingängen sitzen. Obwohl an 7 Tagen die Woche 24 Stunden lang ein Wachmann im Foyer anwesend ist, wird an Sonn- und Feiertagen normalerweise niemand hereingelassen. Ich musste ins Haus, um mit einigen Studenten einen Sprachtest durchzuführen, eine Prüfung, bei der die Teilnehmer an Computern sitzen und 40 Minuten lang Lückentexte ausfüllen. Am Ende wird sofort das Ergebnis angezeigt. Drei der vier Studentinnen waren enttäuscht und hatten sich ein besseres Resultat gewünscht. „Sie sind nicht zufrieden mit dem Ergebnis?“, fasste ich die im Raum liegende Stimmung in Worte. Heftiges bestätigendes Nicken. Wenn eine Frage eine Verneinung enthält und man der verneinten Aussage zustimmt, wird in Russland mit „Ja“ geantwortet: Ja, wir sind nicht zufrieden. Deutsche würden den Kopf schütteln: Nein, wir sind nicht zufrieden. Ein interessantes Detail, das mich anfangs mitunter irritiert hat.