Dieser sibirische Winter verspricht von anderer Qualität zu
werden als der des Vorjahres. Bereits jetzt ist es so kalt wie damals Ende
Dezember. Da die Flüsse und der Baikal noch nicht komplett zugefroren sind, ist
durch die Feuchtigkeit die Kälte noch etwas mehr zu spüren. Das
Katastrophenschutzministerium schickt Rund-SMS an die Bevölkerung: Auf dem
Territorium der Republik werden niedrige Lufttemperaturen von -25 bis -35 Grad
erwartet. Schützen Sie sich vor Unterkühlungen und Erfrierungen!
In der Siedlung Posolsk direkt am Ufer des Baikals gibt es
ein 2002 wiedereröffnetes orthodoxes Männerkloster. Als ich am Samstag dort
eintreffe, ist der Ort in eisiges Schneetreiben versunken. Die kleinen
Holzhäuser liegen unter einer dicken Neuschneedecke. Am Ufer sind zwei Meter
hohe Berge aus Eis und Schnee aufgetürmt. So weit der Blick reicht, ist der See
schon zugefroren. Ich betrete das hinter einer über 300 Jahre alten Steinmauer
verborgene Klostergelände und frage, ob es für mich hier eine
Übernachtungsmöglichkeit gäbe. Ein junger Mann führt mich zu Vater Jussuf, dem
Priester. In seiner schwarzen Mönchstracht steht er vor mir und streicht sich
nachdenklich den langen schwarzen Bart. Ob ich denn ein gläubiger Mensch sei?
Natürlich, antworte ich wahrheitsgemäß. Protestant. Das
stimmt nicht ganz, erspart mir aber komplizierte Erklärungen.
Ohne weitere Umstände bekomme ich erst einmal Suppe und Tee
im Speisesaal und beantworte einige Fragen zu Deutschland wie zum Beispiel die,
ob es stimme, dass jetzt fünfzig Prozent Moslems dort wohnen? Bruder Sergej,
ein stämmiger Mann mit kaukasischen Gesichtszügen, ehemaliger Berufssoldat,
zeigt mir ein Bett und gibt frische Bettwäsche dazu. Nach meinen Erfahrungen in
Baturino freue ich mich besonders über den nicht vorhandene Fernseher. Vier
Sorten von Leuten gibt es im Kloster, lerne ich: Mönche, Mönchsanwärter,
Arbeiter und Pilger (palómniki); mich
rechnet man wohl zu letzterer Kategorie. Ich teile das Zimmer mit Bruder
Jevgenii, der auf einem Regal über dem Kopfende seines Bettes unzählige Ikonen
aufgestellt hat. Gerade ist er allerdings nicht da, weil er im Heizraum (kotélnaja) seine 24-Stunden-Schicht
ableistet. Dort muss ein riesiger weißgekalkter Ofen ständig mit Kohle
gefüttert werden, der das gesamte Klostergelände versorgt. Wie viel Kohle
braucht man so am Tag? Oh, eine Menge, meint Jevgenii, ein ganzer
Eisenbahnwaggon – 60 Tonnen – reiche nicht mal für einen Winter.
Nach zwei Stunden muss ich den abendlichen Gottesdienst mit
Magenkrämpfen verlassen, wahrscheinlich, weil ich zu lange nichts gegessen habe
und dazu durch das lange Stehen erschöpft bin. Durch den Schneesturm kämpfe ich
mich ein paar hundert Meter zum nächsten Magazín
und kaufe ein Weißbrot und eine Tafel Schokolade, die ich schnell und mit etwas
schlechte Gewissen im Zimmer mit Tee aus meiner Thermoskanne verspeise, um für
das letzte Drittel der Zeremonie gestärkt zu sein.
Später am Abend kommt ein Mann zu mir ins Zimmer gestürmt.
Andrej, stellt er sich vor. Nietzsche, Schopenhauer, Goethe, Bach, sprudelt es
aus ihm heraus, von den Deutschen sei er total begeistert. Er nimmt einen
Hocker und setzt sich zu mir ans Bett. Ob meine Vorfahren auch im Krieg
gekämpft hätten? Er sei ja wirklich beeindruckt von der Sorge der Wehrmacht um
den Menschen! Ich schaue ihn fassungslos an. Der Gegner im Osten galt doch
nicht mal als Mensch…? Ja, aber die
Sorge um die eigenen Leute! Jeder Soldat bekam Fronturlaub. Und beim Bau von
Flughäfen wurde auch an Ruhezonen für die Piloten gedacht. Ich sei Protestant?
Er möchte mir jetzt ein Geheimnis offenbaren, aber das dürfe hier niemand
wissen! Andrej senkt die Stimme und beugt sich zu mir vor.
Er sei früher auch Protestant gewesen! Baptist. Aber dann
habe er begonnen, orthodoxe geistliche Literatur zu lesen. Das habe ihn in ganz
andere Welten versetzt!
Beim Besuch eines orthodoxen Gottesdienstes glaubte sich
meine Schwester auch versetzt, und zwar ins Mittelalter, entgegne ich, nach
zehn Minuten ist sie herausgegangen. Wir beide lachen zusammen. Warum werden
eigentlich die Worte vom Priester so undeutlich gemurmelt, dass man sie beim
besten Willen nicht verstehen kann, selbst wenn man die altkirchenslavische
Sprache gelernt hätte? Ja, da habe ich wohl recht, das sei nicht gut! Allerdings
würde das dreistündige Ritual bei langsamem und deutlichem Zelebrieren noch
einmal um die Hälfte länger dauern, dazu reiche die Geduld bei den modernen
Menschen wohl nicht mehr. Er sei jetzt hier, um sich einen Monat lang seelisch
zu reinigen, dann gehe es zurück nach Tynda – ein Eisenbahn-Knotenpunkt
zwischen Baikal und Pazifik - wo ich ihn auf seine Datsche unbedingt besuchen
solle. Die protestantische Taufe werde von der russisch-orthodoxen Kirche nicht
anerkannt, weil keine Salbung mit Öl erfolgt und kein richtiges Untertauchen
ins Wasser stattfindet. Deshalb müsse, wer den orthodoxen Glauben annehmen wolle,
sich eigentlich noch einmal umtaufen lassen.
Nachdem wir uns schon verabschiedet haben und
ich bereits im Bett liege, kommt Andrej noch einmal hereingelaufen. Mit vor
Enthusiasmus leuchtenden Augen zitiert er auf Russisch Nietzsche, was dich nicht umbringt, macht dich stärker,
ob ich ihm das einmal auf Deutsch aufschreiben könne?
So verbrachte ich eine warme Nacht im Posolsker Männerkloster.
Posól bedeutet Botschafter. Die
Gründung des Klosters hat mit der Geschichte der russischen Erschließung
Sibiriens zu tun. Im Jahre 1650 wurde hier ein russischer Botschafter
überfallen und ermordet, der sich – so die Überlieferung – auf dem Weg in die
Mongolei befand, um dem mongolischen Khan mitzuteilen, dass sein Wunsch, sein
Reich unter die Schutzherrschaft des russische
Zaren zu stellen, erfüllt werde. Dies war Anlass zur Gründung einer
Festung und eines Klosters an dieser Stelle. In der russischen Geschichtsschreibung
ist selten von Eroberungen die Rede, dafür gern von kleinen Völkern, die um Aufnahme in das
schützende, starke Zarenreich bitten. -
In Ulan-Ude auf dem Weg zwischen Bahnhof und meiner Wohnung
komme ich an großen Plakaten vorbei: „Ich bin Bürger Russlands. Ich zahle
Steuern.“ Und hundert Meter weiter: „Zahlen Sie für die Wärme! Eine warme Stadt
– gut. Schulden und Kälte – schlecht.“ In der Straßenbahn gibt es Aushänge:
„Zahlen Sie Ihre Heizrechnung und erhalten Sie einen Bonus!“ In der Welt, aus
der ich komme, ist das Bezahlen von Steuern und Wohnnebenkosten wohl eher die
Regel als die Ausnahme – aber zum Glück gibt es der Welten mehr als nur eine.
"Zahlen Sie für die Wärme!", steht auf einem Plakat, das die Zahlungsmoral der Bevölkerung anheben soll (oben). Das Posolsker Männerkloster war am Wochenende in dichtes Schneetreiben gehüllt (unten). |
Der große Ofen im Heizraum versorgt die Klosteranlage mit kostbarer Wärme (oben). Mein Zimmerkollege hat sich über dem Kopfende seines Bettes Ikonen aufgestellt (unten). |