Sonntag, 20. November 2016

Posolsk. Eine Nacht im Männerkloster

Dieser sibirische Winter verspricht von anderer Qualität zu werden als der des Vorjahres. Bereits jetzt ist es so kalt wie damals Ende Dezember. Da die Flüsse und der Baikal noch nicht komplett zugefroren sind, ist durch die Feuchtigkeit die Kälte noch etwas mehr zu spüren. Das Katastrophenschutzministerium schickt Rund-SMS an die Bevölkerung: Auf dem Territorium der Republik werden niedrige Lufttemperaturen von -25 bis -35 Grad erwartet. Schützen Sie sich vor Unterkühlungen und Erfrierungen!

In der Siedlung Posolsk direkt am Ufer des Baikals gibt es ein 2002 wiedereröffnetes orthodoxes Männerkloster. Als ich am Samstag dort eintreffe, ist der Ort in eisiges Schneetreiben versunken. Die kleinen Holzhäuser liegen unter einer dicken Neuschneedecke. Am Ufer sind zwei Meter hohe Berge aus Eis und Schnee aufgetürmt. So weit der Blick reicht, ist der See schon zugefroren. Ich betrete das hinter einer über 300 Jahre alten Steinmauer verborgene Klostergelände und frage, ob es für mich hier eine Übernachtungsmöglichkeit gäbe. Ein junger Mann führt mich zu Vater Jussuf, dem Priester. In seiner schwarzen Mönchstracht steht er vor mir und streicht sich nachdenklich den langen schwarzen Bart. Ob ich denn ein gläubiger Mensch sei?
Natürlich, antworte ich wahrheitsgemäß. Protestant. Das stimmt nicht ganz, erspart mir aber komplizierte Erklärungen.
Ohne weitere Umstände bekomme ich erst einmal Suppe und Tee im Speisesaal und beantworte einige Fragen zu Deutschland wie zum Beispiel die, ob es stimme, dass jetzt fünfzig Prozent Moslems dort wohnen? Bruder Sergej, ein stämmiger Mann mit kaukasischen Gesichtszügen, ehemaliger Berufssoldat, zeigt mir ein Bett und gibt frische Bettwäsche dazu. Nach meinen Erfahrungen in Baturino freue ich mich besonders über den nicht vorhandene Fernseher. Vier Sorten von Leuten gibt es im Kloster, lerne ich: Mönche, Mönchsanwärter, Arbeiter und Pilger (palómniki); mich rechnet man wohl zu letzterer Kategorie. Ich teile das Zimmer mit Bruder Jevgenii, der auf einem Regal über dem Kopfende seines Bettes unzählige Ikonen aufgestellt hat. Gerade ist er allerdings nicht da, weil er im Heizraum (kotélnaja) seine 24-Stunden-Schicht ableistet. Dort muss ein riesiger weißgekalkter Ofen ständig mit Kohle gefüttert werden, der das gesamte Klostergelände versorgt. Wie viel Kohle braucht man so am Tag? Oh, eine Menge, meint Jevgenii, ein ganzer Eisenbahnwaggon – 60 Tonnen – reiche nicht mal für einen Winter.
Nach zwei Stunden muss ich den abendlichen Gottesdienst mit Magenkrämpfen verlassen, wahrscheinlich, weil ich zu lange nichts gegessen habe und dazu durch das lange Stehen erschöpft bin. Durch den Schneesturm kämpfe ich mich ein paar hundert Meter zum nächsten Magazín und kaufe ein Weißbrot und eine Tafel Schokolade, die ich schnell und mit etwas schlechte Gewissen im Zimmer mit Tee aus meiner Thermoskanne verspeise, um für das letzte Drittel der Zeremonie gestärkt zu sein.
Später am Abend kommt ein Mann zu mir ins Zimmer gestürmt. Andrej, stellt er sich vor. Nietzsche, Schopenhauer, Goethe, Bach, sprudelt es aus ihm heraus, von den Deutschen sei er total begeistert. Er nimmt einen Hocker und setzt sich zu mir ans Bett. Ob meine Vorfahren auch im Krieg gekämpft hätten? Er sei ja wirklich beeindruckt von der Sorge der Wehrmacht um den Menschen! Ich schaue ihn fassungslos an. Der Gegner im Osten galt doch nicht mal als Mensch…?  Ja, aber die Sorge um die eigenen Leute! Jeder Soldat bekam Fronturlaub. Und beim Bau von Flughäfen wurde auch an Ruhezonen für die Piloten gedacht. Ich sei Protestant? Er möchte mir jetzt ein Geheimnis offenbaren, aber das dürfe hier niemand wissen! Andrej senkt die Stimme und beugt sich zu mir vor.
Er sei früher auch Protestant gewesen! Baptist. Aber dann habe er begonnen, orthodoxe geistliche Literatur zu lesen. Das habe ihn in ganz andere Welten versetzt!
Beim Besuch eines orthodoxen Gottesdienstes glaubte sich meine Schwester auch versetzt, und zwar ins Mittelalter, entgegne ich, nach zehn Minuten ist sie herausgegangen. Wir beide lachen zusammen. Warum werden eigentlich die Worte vom Priester so undeutlich gemurmelt, dass man sie beim besten Willen nicht verstehen kann, selbst wenn man die altkirchenslavische Sprache gelernt hätte? Ja, da habe ich wohl recht, das sei nicht gut! Allerdings würde das  dreistündige Ritual bei langsamem und deutlichem Zelebrieren noch einmal um die Hälfte länger dauern, dazu reiche die Geduld bei den modernen Menschen wohl nicht mehr. Er sei jetzt hier, um sich einen Monat lang seelisch zu reinigen, dann gehe es zurück nach Tynda – ein Eisenbahn-Knotenpunkt zwischen Baikal und Pazifik - wo ich ihn auf seine Datsche unbedingt besuchen solle. Die protestantische Taufe werde von der russisch-orthodoxen Kirche nicht anerkannt, weil keine Salbung mit Öl erfolgt und kein richtiges Untertauchen ins Wasser stattfindet. Deshalb müsse, wer den orthodoxen Glauben annehmen wolle, sich eigentlich noch einmal umtaufen lassen.
Nachdem wir uns schon verabschiedet haben und ich bereits im Bett liege, kommt Andrej noch einmal hereingelaufen. Mit vor Enthusiasmus leuchtenden Augen zitiert er auf Russisch Nietzsche, was dich nicht umbringt, macht dich stärker, ob ich ihm das einmal auf Deutsch aufschreiben könne?

So verbrachte ich eine warme Nacht im Posolsker Männerkloster. Posól bedeutet Botschafter. Die Gründung des Klosters hat mit der Geschichte der russischen Erschließung Sibiriens zu tun. Im Jahre 1650 wurde hier ein russischer Botschafter überfallen und ermordet, der sich – so die Überlieferung – auf dem Weg in die Mongolei befand, um dem mongolischen Khan mitzuteilen, dass sein Wunsch, sein Reich unter die Schutzherrschaft des russische  Zaren zu stellen, erfüllt werde. Dies war Anlass zur Gründung einer Festung und eines Klosters an dieser Stelle. In der russischen Geschichtsschreibung ist selten von Eroberungen die Rede, dafür gern von kleinen Völkern, die um Aufnahme in das schützende, starke Zarenreich bitten. -

In Ulan-Ude auf dem Weg zwischen Bahnhof und meiner Wohnung komme ich an großen Plakaten vorbei: „Ich bin Bürger Russlands. Ich zahle Steuern.“ Und hundert Meter weiter: „Zahlen Sie für die Wärme! Eine warme Stadt – gut. Schulden und Kälte – schlecht.“ In der Straßenbahn gibt es Aushänge: „Zahlen Sie Ihre Heizrechnung und erhalten Sie einen Bonus!“ In der Welt, aus der ich komme, ist das Bezahlen von Steuern und Wohnnebenkosten wohl eher die Regel als die Ausnahme – aber zum Glück gibt es der Welten mehr als nur eine.

"Zahlen Sie für die Wärme!", steht auf einem Plakat, das die Zahlungsmoral der Bevölkerung anheben soll (oben). Das Posolsker Männerkloster war am Wochenende in dichtes Schneetreiben gehüllt (unten).


Der große Ofen im Heizraum versorgt die Klosteranlage mit kostbarer Wärme (oben). Mein Zimmerkollege hat sich über dem Kopfende seines Bettes Ikonen aufgestellt (unten).