Sonntag, 24. April 2016

Krieg und Tabak



Die Maifeiertage nahen, der Tag der Arbeit am 1. Mai und, wichtiger noch, der 9. Mai, der Tag des Sieges, der wohl wichtigste Gedenktag in Russland. Das Andenken an das Ende des mittlerweile 71 Jahre zurückliegende Ende des Großen Vaterländischen Krieges, wie der zweite Weltkrieg auf Russisch heißt, wird von offizieller Seite sehr lebendig gehalten und jedes Jahr ausgiebig zelebriert. Die gemeinsame Erinnerung an den gewonnenen Krieg scheint bis heute das Hauptereignis zu sein, das die russische Nation zusammenhält und wird zur Auffrischung des Wir-Gefühls immer wieder hervorgeholt. Glücklicherweise unterscheiden die Russen dabei zwischen Faschisten und den heutigen Deutschen. Ich habe noch nicht ein einziges Mal negative Reaktionen erlebt, weil ich Deutscher bin, noch nicht einen einzigen komischen Kommentar gehört. Die heutige BRD ist nicht Hitlerdeutschland, man bringt ihr Bewunderung und Respekt entgegen, assoziiert Sauberkeit, Ordnung und tolle Autos.
Am letzten Freitag rief mich ein Bekannter an und fragte, ob ich nicht am Casting für den Film „321. Sibirische Division“ teilnehmen möchte, ein Film über die Kämpfe sibirischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg. „Bestimmt brauchen sie dort auch einen echten Deutschen als Darsteller!“ Mit einem etwas mulmigen Gefühl begab ich mich abends gemeinsam mit ihm zum Ort des Geschehens, einem Hinterhof einer Bibliothek im Zentrum von Ulan-Ude. Allerlei junge Leute hatten sich versammelt, es herrschte eine ausgelassene Stimmung. „Brauchen Sie hier einen Deutschen?“, fragte ich unsicher. Die Dame, bei der man sich anmelden und 50 Rubel Teilnahmegebühr zahlen musste, schaute mich kurz an, durch ihre große schwarze Sonnenbrille konnte ich keinerlei Emotionen erkennen. Ich musste sagen, wann ich das letzte Mal in Deutschland war und was ich hier mache. „Vielleicht brauchen wir Sie“, meinte sie und gebot mir zu warten. Ich fragte, wann denn die Dreharbeiten eigentlich wären. „Wenn Sie bereit sind, sich näher mit mir zu unterhalten, verrate ich ihnen das“, war die überraschende Antwort. „Ich liebe Deutsche! Mit wem wohnen Sie eigentlich zusammen? Ach, alleine?“ Ich war erleichtert - Vorbehalte gegenüber Deutschen wegen des Krieges scheinen tatsächlich ganz weit weg zu sein.
Für das Casting wurde mein Gesicht mit Dreck eingeschmiert, ich sollte eine Wehrmachtsuniform anziehen, einen Stahlhelm aufsetzen und bekam eine Maschinenpistole in die Hand, zum ersten Mal in meinem Leben. Keine Ahnung, wie man so ein Ding hält! Bestimmt merkt man, dass ich nie bei der Armee war, dachte ich und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Sie sollten eher ins Kabarett statt ins Kino“, meinte die junge Frau, die mich mit Dreck eingeschmiert hatte. Danach wurden in verschiedenen Posen etwa 50 Fotos von mir geschossen, etwa 10 Minuten lang. Hoffentlich nehmen sie mich nicht, dachte ich, während ich gehorsam mit der MP in die Richtung zielte, die mir der Fotograf anwies, ich habe gar keine Lust, in einem Kriegsfilm mitzuspielen.
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In der letzten Woche fand an meiner Uni eine Art Podiumsdiskussion zweier Sprachwissenschaftler zum Thema „Welche Sprache wird die Menschheit der Zukunft sprechen“ statt. Auf dem Podium war der Burjatisch-Experte Zhargal Badagarov und mein Bekannter Wladimir (=Wowa) Panov, Linguist aus Moskau. Moderiert wurde die Veranstaltung von unserer Institutsdirektorin, die mit ein paar grundsätzlichen Anweisungen begann. „Die Diskussion wird gefilmt, also lächeln Sie bitte und diskutieren Sie fleißig mit, wenn Fragen gestellt werden. Und setzen Sie sich dichter, der Saal muss voll aussehen, wenn die Kamera auf die Zuschauer gerichtet wird.“ Sie bemerkte mein skeptisches Lächeln. „Ja, so läuft das bei uns! Manchmal, wenn es nicht genug Leute gibt bei so einer Veranstaltung, mache ich einfach eine Tür zu einer anderen Vorlesung auf und sage: so, kommt jetzt bitte alle mit. Man muss die Studenten zu ihrem Glück nötigen!“
Das Gespräch der beiden Experten hat mich sehr beeindruckt. Wladimir saß ungelenk auf dem Bühnenrand und hatte nichts als ein bedrucktes graues T-Shirt an. Ich würde mir nicht trauen, in so einer informellen Kleidung auch nur durch die Gänge unseres Institutes zu laufen, aber Wowa war die Verkörperung des Gelehrten schlechthin, der aufgrund seines Wissens völlig über solchen Äußerlichkeiten steht und dem man das auch völlig nachsieht. Erste Frage an ihn: Wie haben Sie es geschafft, über zehn Sprachen zu lernen? Eine Sprache lernt man nur, indem man sie benutzt, und es ist beständige Arbeit nötig, um sie lebendig zu erhalten – seine Antwort fand ich sehr schön, ich muss das unbedingt meinen Studenten erzählen, die denken, sie können bald Deutsch, indem sie zweimal pro Woche 90 Minuten lang zum Kurs kommen und sich ansonsten gar nicht für ihr Fach interessieren. – In der Russischen Föderation gibt es neben Russisch noch knapp hundert weitere Sprachen, gesprochen von den vielen größeren und kleineren Völkern, die außer den Russen (als ethnischer Volksgruppe) noch hier leben. Die meisten von ihnen sind auf lange Sicht vom Aussterben bedroht. Manche burjatische Eltern sprechen mit ihren Kindern Russisch statt Burjatisch, weil sie denken, dass die Kinder sonst schlechter Russisch lernen und dadurch später im Leben Nachteile haben – totaler Unsinn, inzwischen gilt als erwiesen, dass eine zweisprachige Erziehung nur Vorteile hat. Wenn Eltern eine zweite Muttersprache an ihre Kinder weitergeben können, dann sollten sie das unbedingt tun. „So viele Sprachen wie man kann, so viele Male ist man Mensch“, sagt ein Sprichwort.
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Neulich habe ich auf meinem verglasten Balkon gemeinsam mit meiner Kollegin eine Zigarette geraucht, nicht, weil ich Raucher wäre, sondern eher aus wissenschaftlichem Interesse: ein ovales, filterloses Exemplar der Marke CCCP (= UdSSR). Das ist meine kleine Sammlung an Nostalgie-Rauchwaren: außerdem die Marke Belamorkanal, deren auch Papyrosy genannte Zigaretten zu zwei Dritteln aus einem hohlen Pappstück bestehen, das seitlich zusammengedrückt eine Art Filter-Ersatz ergibt – die Volkszigarette der UdSSR schlechthin, von 1932 an bis heute produziert. Und einige Pakete Machorka, Bauern-Tabak zum Selbstdrehen mit äußerst hohem Nikotinanteil, deshalb in der EU verboten, unter russischen Soldaten im Krieg weit verbreitet.

Tabakwaren aus Sowjetzeiten, heute noch produziert. Zweimaliges seitliches Zusammendrücken der hohlen Papphülse ergibt bei Belamorkanal den Filter (unten)
Vielleicht brauchen Sie einen echten Deutschen? In Wehrmachtsuniform beim Casting für einen russischen Kriegsfilm (Foto: Natalia)