Die Maifeiertage nahen, der Tag
der Arbeit am 1. Mai und, wichtiger noch, der 9. Mai, der Tag des Sieges, der wohl
wichtigste Gedenktag in Russland. Das Andenken an das Ende des mittlerweile 71
Jahre zurückliegende Ende des Großen Vaterländischen Krieges, wie der zweite
Weltkrieg auf Russisch heißt, wird von offizieller Seite sehr lebendig gehalten
und jedes Jahr ausgiebig zelebriert. Die gemeinsame Erinnerung an den gewonnenen
Krieg scheint bis heute das Hauptereignis zu sein, das die russische Nation
zusammenhält und wird zur Auffrischung des Wir-Gefühls immer wieder
hervorgeholt. Glücklicherweise unterscheiden die Russen dabei zwischen
Faschisten und den heutigen Deutschen. Ich habe noch nicht ein einziges Mal
negative Reaktionen erlebt, weil ich Deutscher bin, noch nicht einen einzigen
komischen Kommentar gehört. Die heutige BRD ist nicht Hitlerdeutschland, man
bringt ihr Bewunderung und Respekt entgegen, assoziiert Sauberkeit, Ordnung und
tolle Autos.
Am letzten Freitag rief mich ein
Bekannter an und fragte, ob ich nicht am Casting für den Film „321. Sibirische
Division“ teilnehmen möchte, ein Film über die Kämpfe sibirischer Soldaten im Zweiten
Weltkrieg. „Bestimmt brauchen sie dort auch einen echten Deutschen als
Darsteller!“ Mit einem etwas mulmigen Gefühl begab ich mich abends gemeinsam
mit ihm zum Ort des Geschehens, einem Hinterhof einer Bibliothek im Zentrum von
Ulan-Ude. Allerlei junge Leute hatten sich versammelt, es herrschte eine
ausgelassene Stimmung. „Brauchen Sie hier einen Deutschen?“, fragte ich
unsicher. Die Dame, bei der man sich anmelden und 50 Rubel Teilnahmegebühr
zahlen musste, schaute mich kurz an, durch ihre große schwarze Sonnenbrille
konnte ich keinerlei Emotionen erkennen. Ich musste sagen, wann ich das letzte
Mal in Deutschland war und was ich hier mache. „Vielleicht brauchen wir Sie“,
meinte sie und gebot mir zu warten. Ich fragte, wann denn die Dreharbeiten
eigentlich wären. „Wenn Sie bereit sind, sich näher mit mir zu unterhalten,
verrate ich ihnen das“, war die überraschende Antwort. „Ich liebe Deutsche! Mit
wem wohnen Sie eigentlich zusammen? Ach, alleine?“ Ich war erleichtert - Vorbehalte
gegenüber Deutschen wegen des Krieges scheinen tatsächlich ganz weit weg zu
sein.
Für das Casting wurde mein Gesicht
mit Dreck eingeschmiert, ich sollte eine Wehrmachtsuniform anziehen, einen
Stahlhelm aufsetzen und bekam eine Maschinenpistole in die Hand, zum ersten Mal
in meinem Leben. Keine Ahnung, wie man so ein Ding hält! Bestimmt merkt man,
dass ich nie bei der Armee war, dachte ich und konnte ein Grinsen nicht
unterdrücken. „Sie sollten eher ins Kabarett statt ins Kino“, meinte die junge
Frau, die mich mit Dreck eingeschmiert hatte. Danach wurden in verschiedenen
Posen etwa 50 Fotos von mir geschossen, etwa 10 Minuten lang. Hoffentlich
nehmen sie mich nicht, dachte ich, während ich gehorsam mit der MP in die
Richtung zielte, die mir der Fotograf anwies, ich habe gar keine Lust, in einem
Kriegsfilm mitzuspielen.
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In der letzten Woche fand an
meiner Uni eine Art Podiumsdiskussion zweier Sprachwissenschaftler zum Thema „Welche
Sprache wird die Menschheit der Zukunft sprechen“ statt. Auf dem Podium war der
Burjatisch-Experte Zhargal Badagarov und mein Bekannter Wladimir (=Wowa) Panov,
Linguist aus Moskau. Moderiert wurde die Veranstaltung von unserer Institutsdirektorin,
die mit ein paar grundsätzlichen Anweisungen begann. „Die Diskussion wird
gefilmt, also lächeln Sie bitte und diskutieren Sie fleißig mit, wenn Fragen
gestellt werden. Und setzen Sie sich dichter, der Saal muss voll aussehen, wenn
die Kamera auf die Zuschauer gerichtet wird.“ Sie bemerkte mein skeptisches
Lächeln. „Ja, so läuft das bei uns! Manchmal, wenn es nicht genug Leute gibt
bei so einer Veranstaltung, mache ich einfach eine Tür zu einer anderen Vorlesung
auf und sage: so, kommt jetzt bitte alle mit. Man muss die Studenten zu ihrem
Glück nötigen!“
Das Gespräch der beiden Experten
hat mich sehr beeindruckt. Wladimir saß ungelenk auf dem Bühnenrand und hatte
nichts als ein bedrucktes graues T-Shirt an. Ich würde mir nicht trauen, in so
einer informellen Kleidung auch nur durch die Gänge unseres Institutes zu laufen,
aber Wowa war die Verkörperung des Gelehrten schlechthin, der aufgrund seines
Wissens völlig über solchen Äußerlichkeiten steht und dem man das auch völlig
nachsieht. Erste Frage an ihn: Wie haben Sie es geschafft, über zehn Sprachen
zu lernen? Eine Sprache lernt man nur, indem man sie benutzt, und es ist
beständige Arbeit nötig, um sie lebendig zu erhalten – seine Antwort fand ich
sehr schön, ich muss das unbedingt meinen Studenten erzählen, die denken, sie
können bald Deutsch, indem sie zweimal pro Woche 90 Minuten lang zum Kurs
kommen und sich ansonsten gar nicht für ihr Fach interessieren. – In der
Russischen Föderation gibt es neben Russisch noch knapp hundert weitere
Sprachen, gesprochen von den vielen größeren und kleineren Völkern, die außer
den Russen (als ethnischer Volksgruppe) noch hier leben. Die meisten von ihnen
sind auf lange Sicht vom Aussterben bedroht. Manche burjatische Eltern sprechen
mit ihren Kindern Russisch statt Burjatisch, weil sie denken, dass die Kinder
sonst schlechter Russisch lernen und dadurch später im Leben Nachteile haben –
totaler Unsinn, inzwischen gilt als erwiesen, dass eine zweisprachige Erziehung
nur Vorteile hat. Wenn Eltern eine zweite Muttersprache an ihre Kinder
weitergeben können, dann sollten sie das unbedingt tun. „So viele Sprachen wie
man kann, so viele Male ist man Mensch“, sagt ein Sprichwort.
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Neulich habe ich auf meinem verglasten
Balkon gemeinsam mit meiner Kollegin eine Zigarette geraucht, nicht, weil ich
Raucher wäre, sondern eher aus wissenschaftlichem Interesse: ein ovales,
filterloses Exemplar der Marke CCCP (= UdSSR). Das ist meine kleine Sammlung
an Nostalgie-Rauchwaren: außerdem die Marke Belamorkanal, deren auch Papyrosy genannte Zigaretten zu zwei
Dritteln aus einem hohlen Pappstück bestehen, das seitlich zusammengedrückt
eine Art Filter-Ersatz ergibt – die Volkszigarette der UdSSR schlechthin, von
1932 an bis heute produziert. Und einige Pakete Machorka, Bauern-Tabak zum Selbstdrehen mit äußerst hohem
Nikotinanteil, deshalb in der EU verboten, unter russischen Soldaten im Krieg
weit verbreitet.
Tabakwaren aus Sowjetzeiten, heute noch produziert. Zweimaliges seitliches Zusammendrücken der hohlen Papphülse ergibt bei Belamorkanal den Filter (unten) |
Vielleicht brauchen Sie einen echten Deutschen? In Wehrmachtsuniform beim Casting für einen russischen Kriegsfilm (Foto: Natalia) |