Samstag, 9. April 2016

Musik, Politik und Menschen



Am letzten Dienstag hatte ich einen Auftritt mit meinem Chor, mit dem „Chor IFMK“, wobei die Buchstaben für„Institut für Philologie und Massenkommunikation“ stehen. Wir sangen im großen Ballsaal des Uni-Hauptgebäudes zur Eröffnung eines Festkonzertes namens „Studentischer Frühling“, 10 Minuten lang: den hebräischen Kanon „Hine ma tow u ma naim“, das deutsche, die Schönheit Schwedens besingende Lied „Zug der Schwäne“, den indianischen Kanon „Evening rise“ und den Spiritual „Go down, Moses“. Die Akustik war ganz anders als im Probenraum, wir empfanden uns als viel zu leise und die Sänger hörten sich gegenseitig kaum. 23 Leute standen vor mir, Studenten und vier Dozentinnen, wie auch bei unserem letzten Auftritt schick gekleidet im Schwarz mit lasurblauem Tuch um den Hals, dazu harmonierend ein Notenblatt im genau gleichen Blauton.
Am nächsten Tag bat mich unsere Institutsdirektorin zum Gespräch. „Die Etappe der Chorgründung ist abgeschlossen, jetzt ist es Zeit, zur zweiten Etappe überzugehen“, meinte die auf mich sanft und freundlich wirkende Burjatin. Ich schaute sie fragend an. „Der Chor ist wichtig für das Image unseres Institutes, jetzt muss sich das Niveau steigern. Sie müssen strenger sein, Thomas. Die westliche Pädagogik ist es, ständig alle verbal zu streicheln. Das funktioniert hier nicht. Greifen Sie bei den Proben durch. Wer nicht ordentlich singen kann, fliegt raus. In Zukunft machen Sie ein Probe-Vorsingen, wenn jemand neu in den Chor will. Dann werden Sie burjatienweit auf Tournee gehen, das ist eine gute Werbung für uns!“ Probesingen veranstalten, ich? Wo ich doch selbst nicht weiß, ob man mich nehmen würde, wenn ich in Deutschland irgendwo probesingen müsste! Nun gut, die Maßstäbe sind hier andere – jedenfalls freue ich mich, dass mein Chorprojekt auf Unterstützung stößt und sich mein Kindheitstraum vom Dirigent sein doch noch verwirklicht. Nicht nur mit den Sängern, sondern auch an mir gibt es noch eine Menge zu arbeiten, ich habe die Neigung, den Takt ziemlich zackig zu schlagen und alle Stücke in etwa dem gleichen Marschtempo anzugehen – hier fehlt es noch an Feingefühl und Variation im Ausdruck. „Und das nächste Mal beginnen Sie bitte nicht ausgerechnet mit einem hebräischen Stück“, meinte die Direktorin am Ende noch, „und nehmen Sie auch ein russisches Lied ins Programm.“ Ja, Kunst, Sprache und Politik liegen manchmal eng beieinander.

Außer über meine musikalischen Erfolge zu berichten, über den Unterrichtsalltag zu sprechen und die Schönheit der sibirischen Natur zu preisen, möchte ich gern noch ein wenig über die Menschen erzählen, mit denen ich ansonsten zu tun habe.

Da wären Anfisa und Ruslan, ein reisefreudiges junges Paar, die von Wladiwostok bis zur Krim bereits ganz Russland durchquert haben, und zwar per Anhalter. Anfisa hat früher an meinem Lehrstuhl Deutsch studiert. Drei Monate vor dem Ende des vierjährigen Studiums hat sie die Ausbildung abgebrochen, weil ihr der psychische Druck zu viel wurde. Bereut sie es? Keineswegs! Anfisa bastelt und verkauft kleine Filztiere, jongliert und bringt anderen das Jonglieren bei, die beiden führen ein interessantes, alternatives Leben abseits der Leistungsgesellschaft mit einem Minimum an Geld und materiellen Bedürfnissen, dafür einem Maximum an Begegnungen und Lebensfreude. Bei meinem letzten Besuch luden sie mich ein, mich auf ein Nagelbrett zu stellen, mit richtig spitzen Nägeln im Abstand von einem Zentimeter. Fünf Sekunden lang hielt ich es aus – eine gute Übung, um vom Kopf in den Körper zu kommen.

Manchmal bin ich zu Gast bei Kristina und Wowa (=Vladimir). Kristina ist eine Lettin, die ihre Doktorarbeit zum Thema Buddhismus schreibt und dafür die hiesigen (wie sie sagt, nicht besonders offenen und auskunftswilligen) Burjaten zu ihrer Religion befragt. Wowa ist ein Moskauer Sprachwissenschaftler, ein auf seine Weise genialer Typ, der ungefähr 12 Fremdsprachen spricht, im Moment Chinesisch und Burjatisch lernt und im Chor allen die Bedeutung des hebräischen Textes erklärte. Wowa schwärmt vom Kaukasusland Georgien und hat mir Noten geschickt von georgischen Liedern, die wir künftig ins Programm aufnehmen könnten. 

Im Tangokurs habe ich Niso und Olga kennengelernt. Die beiden lustigen jungen Frauen bewohnen eine eher spartanisch und ordentlich eingerichtete Zwei-Zimmer-Wohnung und scheinen ein Herz und eine Seele zu sein, wie ich es in Deutschland bei Freundinnen nur selten gefunden habe. Niso ist in Tadschikistan geboren und aufgewachsen, ist eigentlich gelernte Kindergärtnerin, arbeitet im Moment aber im Lager eines Autoersatzteileverkäufers. Sie hat eine 5jährige Tochter, die aber interessanterweise bei der Oma auf dem Dorf wohnt und ihre Mutter nur an Wochenenden sieht. Olga hat Schichtdienst bei Burjatchlebprom, dem halbstaatlichen regionalen Brotproduzenten (chleb = Brot), mal tagsüber, mal nachts. Die beiden gehen mindestens dreimal pro Woche tanzen – das Geheimnis lang währender Jugend: ich hätte sie auf 25 geschätzt und war erstaunt, zu erfahren, dass sie nur zwei Jahre jünger als ich sind.

Carolyn und Natalia sind meine beiden „westlichen“ Kolleginnen. Carolyn, eine alte, sehr kultivierte und feinfühlige Lady, kommt eigentlich aus dem Osten, aus Alaska, wo sie als Schriftstellerin tätig war und Bücher über die Eskimos geschrieben hat. Ein Jahr lang unterrichtet sie nun für Englisch-Studenten zeitgenössische amerikanische Literatur. Natalia aus Österreich ist fast täglich bei mir im Büro zu Gast und bereitet ihre Unterrichtsstunden vor. Davon, dass sie Praktikantin ist, merkt man nicht viel, sie hat einen ähnlich umfangreichen Stundenplan wie ich und unterrichtet ganz eigenverantwortlich. Mir gefällt es sehr, mich mit jemandem über einige Rätsel der hiesigen Kultur austauschen zu können, zum Beispiel über das Geheimnis der burjatischen Zurückhaltung. Neulich luden uns die Studenten des 1. Studienjahres zu einem informellen Teetrinken ein. Der Tisch war schön gedeckt, viele hatten etwas Leckeres gebacken – und dann saßen wir da, und niemand von denen, die uns eingeladen hatten, sagte auch nur einen einzigen Ton. Von gelegentlichem flüsterndem Tuscheln mit dem Nachbarn abgesehen, herrschte Stille. Trauten sie sich nicht? Gab es keinen Gesprächsbedarf? Aber warum sollten wir dann auf Besuch kommen?

Vor einigen Tagen stand plötzlich Spartak vor meiner Tür, ein junger Mann aus Chabarowsk, Schweißer und Kernenergie-Fan, mit dem ich mich während meines einjährigen Aufenthaltes dort angefreundet hatte. Er hatte die 3000 Kilometer vom Fernen Osten bis nach Ulan-Ude in einer fast dreitägigen Zugfahrt zurückgelegt, um mich mal eben zu besuchen – meistens erfreut mich die russische Spontanität, in unserem Falle aber stellte sich heraus, dass ich trotz aller Mühe kaum noch etwas mit ihm anfangen konnte. Zwischen uns gab es keinen Austausch mehr, seine Monologe fand ich derartig ermüdend, dass ich ihn am Morgen nach seiner Ankunft bat, meine Wohnung wieder zu verlassen, woraufhin er sich achselzuckend und ohne großes Murren Richtung Bahnhof begab, um 3000 Kilometer nachhause zurückzufahren.

Ruslan und Anfisa

Wowa und Natalia

Olga und Niso