Am letzten Dienstag
hatte ich einen Auftritt mit meinem Chor, mit dem „Chor IFMK“, wobei die
Buchstaben für„Institut für Philologie und Massenkommunikation“ stehen. Wir
sangen im großen Ballsaal des Uni-Hauptgebäudes zur Eröffnung eines
Festkonzertes namens „Studentischer Frühling“, 10 Minuten lang: den hebräischen
Kanon „Hine ma tow u ma naim“, das deutsche, die Schönheit Schwedens besingende
Lied „Zug der Schwäne“, den indianischen Kanon „Evening rise“ und den Spiritual
„Go down, Moses“. Die Akustik war ganz anders als im Probenraum, wir empfanden
uns als viel zu leise und die Sänger hörten sich gegenseitig kaum. 23 Leute
standen vor mir, Studenten und vier Dozentinnen, wie auch bei unserem letzten
Auftritt schick gekleidet im Schwarz mit lasurblauem Tuch um den Hals, dazu
harmonierend ein Notenblatt im genau gleichen Blauton.
Am nächsten Tag bat
mich unsere Institutsdirektorin zum Gespräch. „Die Etappe der Chorgründung ist
abgeschlossen, jetzt ist es Zeit, zur zweiten Etappe überzugehen“, meinte die
auf mich sanft und freundlich wirkende Burjatin. Ich schaute sie fragend an.
„Der Chor ist wichtig für das Image unseres Institutes, jetzt muss sich das
Niveau steigern. Sie müssen strenger sein, Thomas. Die westliche Pädagogik ist
es, ständig alle verbal zu streicheln. Das funktioniert hier nicht. Greifen Sie
bei den Proben durch. Wer nicht ordentlich singen kann, fliegt raus. In Zukunft
machen Sie ein Probe-Vorsingen, wenn jemand neu in den Chor will. Dann werden
Sie burjatienweit auf Tournee gehen, das ist eine gute Werbung für uns!“
Probesingen veranstalten, ich? Wo ich doch selbst nicht weiß, ob man mich
nehmen würde, wenn ich in Deutschland irgendwo probesingen müsste! Nun gut, die
Maßstäbe sind hier andere – jedenfalls freue ich mich, dass mein Chorprojekt
auf Unterstützung stößt und sich mein Kindheitstraum vom Dirigent sein doch
noch verwirklicht. Nicht nur mit den Sängern, sondern auch an mir gibt es noch
eine Menge zu arbeiten, ich habe die Neigung, den Takt ziemlich zackig zu
schlagen und alle Stücke in etwa dem gleichen Marschtempo anzugehen – hier
fehlt es noch an Feingefühl und Variation im Ausdruck. „Und das nächste Mal
beginnen Sie bitte nicht ausgerechnet mit einem hebräischen Stück“, meinte die
Direktorin am Ende noch, „und nehmen Sie auch ein russisches Lied ins
Programm.“ Ja, Kunst, Sprache und Politik liegen manchmal eng beieinander.
Außer über meine
musikalischen Erfolge zu berichten, über den Unterrichtsalltag zu sprechen und
die Schönheit der sibirischen Natur zu preisen, möchte ich gern noch ein wenig
über die Menschen erzählen, mit denen ich ansonsten zu tun habe.
Da wären Anfisa und
Ruslan, ein reisefreudiges junges Paar, die von Wladiwostok bis zur Krim
bereits ganz Russland durchquert haben, und zwar per Anhalter. Anfisa hat
früher an meinem Lehrstuhl Deutsch studiert. Drei Monate vor dem Ende des
vierjährigen Studiums hat sie die Ausbildung abgebrochen, weil ihr der
psychische Druck zu viel wurde. Bereut sie es? Keineswegs! Anfisa bastelt und
verkauft kleine Filztiere, jongliert und bringt anderen das Jonglieren bei, die
beiden führen ein interessantes, alternatives Leben abseits der
Leistungsgesellschaft mit einem Minimum an Geld und materiellen Bedürfnissen,
dafür einem Maximum an Begegnungen und Lebensfreude. Bei meinem letzten Besuch
luden sie mich ein, mich auf ein Nagelbrett zu stellen, mit richtig spitzen
Nägeln im Abstand von einem Zentimeter. Fünf Sekunden lang hielt ich es aus –
eine gute Übung, um vom Kopf in den Körper zu kommen.
Manchmal bin ich zu
Gast bei Kristina und Wowa (=Vladimir). Kristina ist eine Lettin, die ihre
Doktorarbeit zum Thema Buddhismus schreibt und dafür die hiesigen (wie sie
sagt, nicht besonders offenen und auskunftswilligen) Burjaten zu ihrer Religion
befragt. Wowa ist ein Moskauer Sprachwissenschaftler, ein auf seine Weise
genialer Typ, der ungefähr 12 Fremdsprachen spricht, im Moment Chinesisch und
Burjatisch lernt und im Chor allen die Bedeutung des hebräischen Textes
erklärte. Wowa schwärmt vom Kaukasusland Georgien und hat mir Noten geschickt
von georgischen Liedern, die wir künftig ins Programm aufnehmen könnten.
Im Tangokurs habe
ich Niso und Olga kennengelernt. Die beiden lustigen jungen Frauen bewohnen
eine eher spartanisch und ordentlich eingerichtete Zwei-Zimmer-Wohnung und
scheinen ein Herz und eine Seele zu sein, wie ich es in Deutschland bei
Freundinnen nur selten gefunden habe. Niso ist in Tadschikistan geboren und
aufgewachsen, ist eigentlich gelernte Kindergärtnerin, arbeitet im Moment aber
im Lager eines Autoersatzteileverkäufers. Sie hat eine 5jährige Tochter, die
aber interessanterweise bei der Oma auf dem Dorf wohnt und ihre Mutter nur an
Wochenenden sieht. Olga hat Schichtdienst bei Burjatchlebprom, dem halbstaatlichen regionalen Brotproduzenten (chleb = Brot), mal tagsüber, mal nachts.
Die beiden gehen mindestens dreimal pro Woche tanzen – das Geheimnis lang
währender Jugend: ich hätte sie auf 25 geschätzt und war erstaunt, zu erfahren,
dass sie nur zwei Jahre jünger als ich sind.
Carolyn und Natalia
sind meine beiden „westlichen“ Kolleginnen. Carolyn, eine alte, sehr
kultivierte und feinfühlige Lady, kommt eigentlich aus dem Osten, aus Alaska,
wo sie als Schriftstellerin tätig war und Bücher über die Eskimos geschrieben
hat. Ein Jahr lang unterrichtet sie nun für Englisch-Studenten zeitgenössische
amerikanische Literatur. Natalia aus Österreich ist fast täglich bei mir im
Büro zu Gast und bereitet ihre Unterrichtsstunden vor. Davon, dass sie Praktikantin
ist, merkt man nicht viel, sie hat einen ähnlich umfangreichen Stundenplan wie
ich und unterrichtet ganz eigenverantwortlich. Mir gefällt es sehr, mich mit
jemandem über einige Rätsel der hiesigen Kultur austauschen zu können, zum
Beispiel über das Geheimnis der burjatischen Zurückhaltung. Neulich luden uns
die Studenten des 1. Studienjahres zu einem informellen Teetrinken ein. Der
Tisch war schön gedeckt, viele hatten etwas Leckeres gebacken – und dann saßen
wir da, und niemand von denen, die uns eingeladen hatten, sagte auch nur einen
einzigen Ton. Von gelegentlichem flüsterndem Tuscheln mit dem Nachbarn
abgesehen, herrschte Stille. Trauten sie sich nicht? Gab es keinen
Gesprächsbedarf? Aber warum sollten wir dann auf Besuch kommen?
Vor einigen Tagen stand
plötzlich Spartak vor meiner Tür, ein junger Mann aus Chabarowsk, Schweißer und
Kernenergie-Fan, mit dem ich mich während meines einjährigen Aufenthaltes dort
angefreundet hatte. Er hatte die 3000 Kilometer vom Fernen Osten bis nach
Ulan-Ude in einer fast dreitägigen Zugfahrt zurückgelegt, um mich mal eben zu
besuchen – meistens erfreut mich die russische Spontanität, in unserem Falle
aber stellte sich heraus, dass ich trotz aller Mühe kaum noch etwas mit ihm
anfangen konnte. Zwischen uns gab es keinen Austausch mehr, seine Monologe fand ich derartig ermüdend, dass ich ihn am
Morgen nach seiner Ankunft bat, meine Wohnung wieder zu verlassen, woraufhin er
sich achselzuckend und ohne großes Murren Richtung Bahnhof begab, um 3000
Kilometer nachhause zurückzufahren.
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