Donnerstag, 14. April 2016

Grenzerfahrungen



Neulich habe ich bei meinen Studierenden eine Umfrage in Auftrag gegeben. Sie sollten nicht deutsch sprechende Freunde nach den ersten deutschen Worten fragen, die ihnen in den Sinn kommen, ganz spontan, ohne nachzudenken. „Das Ergebnis könnte Ihnen nicht gefallen“, meinte eine Studentin zu mir, nachdem ich die Aufgabe gestellt hatte. „Jaja, ich weiß schon: Hände hoch und Hitler kaputt“, gab ich zurück, „stört mich nicht, schreiben Sie das auch mit auf!“

Und das scheinen die bekanntesten deutschen Worte unter nicht deutsch-sprechenden Russen zu sein:

- Ja, natürlich, Hände hoch, eins zwei drei, hallo, kaputt
- ich liebe dich, Schweine, auf Wiedersehen
- du hast mich, fantastisch, sehr gut, Deutschland
- schneller, Frau, Sieg, nein

Welche russischen Wörter kommen russisch-unkundigen Deutschen zuerst in den Sinn? Babuschka, Wodka, Perestroika? Im Sommer werde ich meine Bekannten fragen.

Während in Deutschland die Uhren um eine Stunde vorgestellt wurden, bleibt Russland auf der Winterzeit stehen. Der Zeitunterschied zwischen Ulan-Ude und meiner Heimat hat sich damit von 7 auf 6 Stunden verringert – ein unbequemer Unterschied, um mit jemandem zu skypen: Abends, wenn die Leute Zeit haben, bin ich schon im Bett. Und wenn ich morgens um 7 Uhr aufstehe, schlafen meine deutschen Gesprächspartner schon. Als ich im russischen Fernen Osten wohnte, in Chabarowsk, war die Zeitdifferenz mit 9 Stunden bequemer zu handhaben: in bester Morgenlaune konnte ich mit meinen abendaktiven Freunden sprechen.

Hohe Berge haben oft die Eigenschaft, sich ausgerechnet dort zu befinden, wo Staatsgrenzen verlaufen, oder umgekehrt: Staatsgrenzen ziehen sich gern an Bergrücken entlang. Als Bergliebhaber habe ich deshalb schon einige Male ganz besondere Grenzerfahrungen gesammelt. Das erste Mal war im Jahre 2001, als ich die israelischen Golan-Höhen erstieg, um einen Blick von oben auf das damals noch friedliche Syrien zu werfen. Dass es sich um ein umkämpftes Grenzgebiet handelt, hatte ich dabei vergessen. Während meiner Übernachtung im Schlafsack auf Felsen unter freiem Himmel wunderte ich mich über das Krachen einiger in nicht allzu weiter Entfernung explodierender Geschosse. Am nächsten Morgen wurde ich von einer Militäreskorte aufgegriffen und nach unten begleitet. Das zweite Mal war 2011 im russisch-chinesischen Grenzgebiet bei Chabarowsk. Damals hatte ich noch nicht begriffen, dass Russland nicht Europa ist: es gibt nicht nur keine „grünen Grenzen“ (einzige Ausnahme ist der sich unmerklich vollziehende Übergang zum befreundeten Weißrussland), sondern auch eine pogranitshnaja zona bis weit vor der eigentlichen Grenze, deren Betreten nur mit besonderer Erlaubnis möglich ist. Mit einem einheimischen Bekannten lief ich den Amur flussabwärts, um einen Blick auf das am anderen Ufer beginnende China zu werfen. Bewusst ignorierten wir den sich fast bis ans Wasser ziehenden Stacheldraht und liefen einem Militärposten direkt in die Arme. Mit verbundenen Augen wurden wir abgeführt, höfliche junge FSB-Mitarbeiter verhörten uns anschließend – natürlich getrennt – etwa 4 Stunden lang, überprüften die Kontakte in meinem Handy und wollten wissen, welche Beziehungen ich zur Bundeswehr habe. Meine dritte Grenzerfahrung hatte ich 2013 im Altai-Gebirge, zum Fuße des russisch-kasachischen Grenzberges Belucha vordringen wollend. Statt dessen landete ich in einer Waldlichtung bei einem Grenz-Vorposten, der mich nach dem langwierigen Ausfüllen einiger Formulare auf der Motorhaube des Dienst-Jeeps zum Bezahlen einer Geldstrafe zur Sparkasse des nächsten Ortes zurückschickte, weil ich ohne propusk, ohne Genehmigung, die pogranitshnaja zona betreten hatte.

Der höchste Berg Burjatiens, genannt Munku-Sardyk, befindet sich, wie sollte es anders sein, auch wieder an einer Grenze, diesmal an der russisch-mongolischen. Um diesmal nichts zu riskieren - die Stimmung ist im Zeichen der politischen Krise rauer geworden, und Kollegen berichten, dass an manchen Orten die Migrationsbehörde nur auf einen Vorwand wartet, um westliche Ausländer herausschmeißen zu können – begab ich mich brav zur Grenzabteilung des FSB, um einen Propusk für den Munku-Sardyk zu beantragen. Der populärste Zeitraum für die Besteigung ist Anfang Mai, wenn die Bergflüsse noch zugefroren sind. Keine Chance, musste ich leider erfahren: Ausländern wird die Genehmigung erst nach 2 Monaten erteilt. In die Mongolei kann ich ohne Visum fahren, in den angrenzenden Landstreifen Russlands zu kommen erweist sich als schwieriger. Also stellte ich den Antrag für August – um meine nächste Grenzerfahrung diesmal ganz offiziell abzusichern.

Ich habe die ersten Frühlingsblumen entdeckt, auf einen Ausflug zum Schlafenden Löwen, einem wunderschönen Aussichtshügel am Fluss Selenga eine halbe Fahrtstunde südlich von Ulan-Ude. Keine Schneeglöckchen, Märzenbecher oder Krokusse, sondern kleine lila Küchenschellen, die den braunen, kahlen Steppenboden verschönern.


(Foto: Natalia)