An einigen Tagen in
der letzten Zeit mutete das Wetter fast schon frühlingshaft an, die Sonne
erwärmte die Dächer, geschmolzener Schnee tropfte herunter und es waren nur
wenige Grad unter Null. Jetzt sind es wieder minus zehn Grad, das Eis auf dem
Baikalsee wird auch noch im April so dick sein, dass man sicher darauf
spazieren kann – danach habe ich mich mehrfach erkundigt, denn eine
Eiswanderung auf dem Baikal steht unbedingt noch auf dem Plan für diesen
Winter.
Mein Kumpel Maxim
wollte mich am Sonntag zu seinem Geburtstag einladen. Schöne Idee, aber wollten
wir da nicht eigentlich zu einer anderen Bekannten gehen? Ach, alles kein
Problem! Da wollte ich sowieso nicht hin. Und, sag mal, hast du nicht am Montag
Geburtstag? Ist doch völlig egal! Oder vielleicht treffen wir uns spät am
Sonntag Abend und feiern dann bis Montag, meinst Du es so? Ja, möglicherweise!
Kein Problem, alles egal und möglicherweise – diese Worte höre ich von Maxim recht oft, und sie
scheinen mir kennzeichnend für eine typisch russische Lebenshaltung zu sein.
Kein Problem heißt: keine Ahnung, wie man das lösen könnte, aber es wird sich
ein Weg finden. Alles egal heißt: ist ja schön, sich vorher etwas auszudenken,
aber wenn es ganz anders wird, ist es doch auch gut. Und möglicherweise bedeutet:
es ist zwecklos, sich vorher festzulegen, alles ist immer im Fluss, kann sich
von heute auf morgen ändern.
Maxim und ich haben
eine grandiose Idee: wir wollen ein Konzert veranstalten, Maxim als
Bass-Sänger, ich als Cellist und meine amerikanische Kollegin Carolyn als
Pianistin, ein richtiges klassisches Kammerkonzert. Nur wo? In der Oper gibt es
einen kleineren Raum, man könnte ihn mieten. Möglicherweise. Wahrscheinlich
klappt es, wir können ja schonmal ein Datum festlegen und Leute einladen. Wie
viele Plätze gibt es dort fürs Publikum? Naja, es gibt ein Sofa und zwei
Stühle. Maxim, ist das nicht etwas wenig? Thomas, das ist egal, die Leute können ja
stehen! Nein, ich finde nicht, dass Leute stehen können, die wir zu einem
Konzert einladen. Gibt es nicht noch einen anderen Raum?
Einen Tag später
besucht mich Maxim und zeigt mir fröhlich eine leere, soeben ausgetrunkene
Kognac-Flasche. Ich habe gerade mit meinem Kollegen im College für Kunst eine Runde getrunken, meinte er. Wir können unser
Konzert in seinem Kammermusiksaal dort machen, der Raum ist den ganzen Samstag frei.
Großartig! Lass uns um 15 Uhr beginnen! Und um 13 Uhr kommen wir, spielen uns
ein und machen alles schön. Nein, das geht nicht, meint Maxim, um 13 Uhr ist
der Raum wahrscheinlich noch belegt. Hast du nicht eben gesagt, er sei den
ganzen Tag frei? Ja, möglicherweise. Aber wahrscheinlich erst ab 14 Uhr, man
weiß es nicht, es ist viel Betrieb im College, viele Leute suchen einen Raum
zum üben. Ich bin verzweifelt. Maxim, ab wann hast du den Raum denn nun genau
reserviert? Ach, ist doch egal! Ich werde wütend. Nein, das ist nicht egal,
wenn ich Kollegen und Bekannte einlade, möchte ich auch, dass es klappt und nicht, dass sie möglicherweise vor einem belegten Raum stehen!
Wir verabreden uns
also, um – zu dritt mit Carolyn – im Kammermusiksaal des Tschaikovskij-College für Kunst zu proben, wo Maxim als
Gesangslehrer arbeitet und wo unser Konzert stattfinden soll. Morgen Abend
haben wir alle Zeit und der Raum ist frei. Wann treffen wir uns, 19 Uhr?
Vielleicht. Oder geht auch schon 18 Uhr? Möglicherweise. Wir können auch 20 Uhr
vereinbaren, um sicher zu gehen, dass der Saal nicht belegt ist. Ja, kann sein,
Thomas, ich rufe Dich morgen an. Wann rufst Du an, am Nachmittag? Ja,
wahrscheinlich.
Maxim wird Ende
nächster Woche seine Heimatstadt Ulan-Ude verlassen und nach St. Petersburg
fahren, von wo aus er mit einem Chor eine Tournee durch Frankreich machen
möchte. Außerdem will er an drei deutschen Musikhochschulen vorsingen und im
Herbst in Deutschland ein Master-Gesangsstudium beginnen. Ich habe ihm bei der
Bewerbung geholfen und die Bewerbunsgebühr für ihn ausgelegt – der Eurokurs ist
zurzeit für Russen eine Katastrophe, der Rubel ist gegenüber dem Euro auf 1:85
abgerutscht. Sein Weggang macht mich etwas traurig, verliere ich doch damit
meinen besten Kumpel hier in der Stadt, aber ich kann ihn auch verstehen: in
einer Oper, deren Orchester kaum die Qualität einer deutschen Liebhaber-Kapelle
hat, sind die Möglichkeiten zur künstlerischen Weiterentwicklung für ihn sehr
beschränkt. Bezeichnenderweise hat Maxim bisher weder an der Oper noch am
College seine Stellen gekündigt. Das macht er erst wenige Tage vorher. Man weiß
ja nie – plötzlich klappt es mit der Reise dann doch nicht. Keine Transparenz
und null Planungssicherheit, das ist so typisch russisch und erinnert mich an
die Geschichte des Verschwindens unserer ehemaligen
Lehrstuhlleiterin, die mir erzählt wurde: eines Morgens lag eine Schachtel
Pralinen auf dem Tisch im Lehrerzimmer und ein Zettel dazu: Liebe Kollegen, ich
bin für die nächsten Jahre in Deutschland, viele Dank für die Zusammenarbeit,
eure Natalja. Das war eine Weile vor meiner Ankunft hier, ich habe die Frau nie
kennengelernt.
Am 23. Februar wird
russlandweit der „Tag der Verteidiger des Vaterlandes“ gefeiert. Der Feiertag
fällt auf einen Dienstag, und um mehrere freie Tage am Stück zu erhalten, hat
der Gesetzgeber auch den Montag zum freien Tag erklärt. Damit keine Arbeitstage
ausfallen, wird der Montag am Samstag nachgeholt. Nun gibt es aber
Einrichtungen wie Schulen oder auch Teile der Uni, die am Samstag arbeiten. In
diesen wird der Montag entweder am Sonntag vorgearbeitet oder für den Montag
wird am Samstag gearbeitet und der Samstag wiederum auf den Sonntag geschoben.
Wann genau wer arbeiten muss, erfuhr man bei uns an der Uni drei Tage vorher
durch einen Prikaz, eine Anweisung
des Rektors. Ein einziges Chaos, die Kollegen müssen sich immer bereithalten.
Wenn auf diese Weise der Stundenplan von Wochentagen am Wochenende
stattzufinden hat, kann es schonmal vorkommen, dass kurz jemand die Tür
aufmacht und in den Unterrichtsraum schaut, dann weiß man – das war jetzt eine
Kontrolle von oben, nicht dass Dozenten und Studenten schwänzen!
Wenige Tage vor
unserem geplanten Konzert ist mir mein Cello aus der Hand gerutscht, auf der
Straße vor der Haustür. Es knallte aus 20 Zentimetern Höhe aufs Eis. In einer
gefütterten Instrumentenhülle, wie sie in Deutschland üblich sind, hätte das
keinerlei Folgen. Hier ist das Cello aber nur in eine Art dünnen Stofflappen
eingewickelt. Das Ergebnis meiner Unachtsamkeit: Ein klaffender Riss über die
halbe Decke (die Vorderseite) und von der Decke abgelöste Zargen (die Seite).
Eine Katastrophe! Wie durch ein Wunder schaffte es Sergej
Georgiewitsch Okladnikov, der Instrumentenbauer meines Vertrauens und einziger
Meister seines Faches hier in Ulan-Ude und im Radius von 500 Kilometern, den
Schaden innerhalb von 2 Tagen zu reparieren, ganz ohne möglicherweise und egal.
Er verleimte den Riss, ohne den Korpus zu öffnen. Damit ist unser Konzert
gerettet. Längerfristig kann sich der Riss wieder öffnen. Eine richtige
Behandlung mit kompletter Öffnung und Abdichtung des Schadens von innen
(Dagegenkleben kleiner Hölzchen zur Stabilisierung) werde ich später machen
lassen.
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Probenpause |