Samstag, 20. Februar 2016

Kein Problem, egal und möglicherweise



An einigen Tagen in der letzten Zeit mutete das Wetter fast schon frühlingshaft an, die Sonne erwärmte die Dächer, geschmolzener Schnee tropfte herunter und es waren nur wenige Grad unter Null. Jetzt sind es wieder minus zehn Grad, das Eis auf dem Baikalsee wird auch noch im April so dick sein, dass man sicher darauf spazieren kann – danach habe ich mich mehrfach erkundigt, denn eine Eiswanderung auf dem Baikal steht unbedingt noch auf dem Plan für diesen Winter.
Mein Kumpel Maxim wollte mich am Sonntag zu seinem Geburtstag einladen. Schöne Idee, aber wollten wir da nicht eigentlich zu einer anderen Bekannten gehen? Ach, alles kein Problem! Da wollte ich sowieso nicht hin. Und, sag mal, hast du nicht am Montag Geburtstag? Ist doch völlig egal! Oder vielleicht treffen wir uns spät am Sonntag Abend und feiern dann bis Montag, meinst Du es so? Ja, möglicherweise!
Kein Problem, alles egal und möglicherweise – diese Worte höre ich von Maxim recht oft, und sie scheinen mir kennzeichnend für eine typisch russische Lebenshaltung zu sein. Kein Problem heißt: keine Ahnung, wie man das lösen könnte, aber es wird sich ein Weg finden. Alles egal heißt: ist ja schön, sich vorher etwas auszudenken, aber wenn es ganz anders wird, ist es doch auch gut. Und möglicherweise bedeutet: es ist zwecklos, sich vorher festzulegen, alles ist immer im Fluss, kann sich von heute auf morgen ändern.
Maxim und ich haben eine grandiose Idee: wir wollen ein Konzert veranstalten, Maxim als Bass-Sänger, ich als Cellist und meine amerikanische Kollegin Carolyn als Pianistin, ein richtiges klassisches Kammerkonzert. Nur wo? In der Oper gibt es einen kleineren Raum, man könnte ihn mieten. Möglicherweise. Wahrscheinlich klappt es, wir können ja schonmal ein Datum festlegen und Leute einladen. Wie viele Plätze gibt es dort fürs Publikum? Naja, es gibt ein Sofa und zwei Stühle. Maxim, ist das nicht etwas wenig? Thomas, das ist egal, die Leute können ja stehen! Nein, ich finde nicht, dass Leute stehen können, die wir zu einem Konzert einladen. Gibt es nicht noch einen anderen Raum?
Einen Tag später besucht mich Maxim und zeigt mir fröhlich eine leere, soeben ausgetrunkene Kognac-Flasche. Ich habe gerade mit meinem Kollegen im College für Kunst eine Runde getrunken, meinte er. Wir können unser Konzert in seinem Kammermusiksaal dort machen, der Raum ist den ganzen Samstag frei. Großartig! Lass uns um 15 Uhr beginnen! Und um 13 Uhr kommen wir, spielen uns ein und machen alles schön. Nein, das geht nicht, meint Maxim, um 13 Uhr ist der Raum wahrscheinlich noch belegt. Hast du nicht eben gesagt, er sei den ganzen Tag frei? Ja, möglicherweise. Aber wahrscheinlich erst ab 14 Uhr, man weiß es nicht, es ist viel Betrieb im College, viele Leute suchen einen Raum zum üben. Ich bin verzweifelt. Maxim, ab wann hast du den Raum denn nun genau reserviert? Ach, ist doch egal! Ich werde wütend. Nein, das ist nicht egal, wenn ich Kollegen und Bekannte einlade, möchte ich auch, dass es klappt und nicht, dass sie möglicherweise vor einem belegten Raum stehen!
Wir verabreden uns also, um – zu dritt mit Carolyn – im Kammermusiksaal des Tschaikovskij-College für Kunst zu proben, wo Maxim als Gesangslehrer arbeitet und wo unser Konzert stattfinden soll. Morgen Abend haben wir alle Zeit und der Raum ist frei. Wann treffen wir uns, 19 Uhr? Vielleicht. Oder geht auch schon 18 Uhr? Möglicherweise. Wir können auch 20 Uhr vereinbaren, um sicher zu gehen, dass der Saal nicht belegt ist. Ja, kann sein, Thomas, ich rufe Dich morgen an. Wann rufst Du an, am Nachmittag? Ja, wahrscheinlich.

Maxim wird Ende nächster Woche seine Heimatstadt Ulan-Ude verlassen und nach St. Petersburg fahren, von wo aus er mit einem Chor eine Tournee durch Frankreich machen möchte. Außerdem will er an drei deutschen Musikhochschulen vorsingen und im Herbst in Deutschland ein Master-Gesangsstudium beginnen. Ich habe ihm bei der Bewerbung geholfen und die Bewerbunsgebühr für ihn ausgelegt – der Eurokurs ist zurzeit für Russen eine Katastrophe, der Rubel ist gegenüber dem Euro auf 1:85 abgerutscht. Sein Weggang macht mich etwas traurig, verliere ich doch damit meinen besten Kumpel hier in der Stadt, aber ich kann ihn auch verstehen: in einer Oper, deren Orchester kaum die Qualität einer deutschen Liebhaber-Kapelle hat, sind die Möglichkeiten zur künstlerischen Weiterentwicklung für ihn sehr beschränkt. Bezeichnenderweise hat Maxim bisher weder an der Oper noch am College seine Stellen gekündigt. Das macht er erst wenige Tage vorher. Man weiß ja nie – plötzlich klappt es mit der Reise dann doch nicht. Keine Transparenz und null Planungssicherheit, das ist so typisch russisch und erinnert mich an die Geschichte des Verschwindens unserer ehemaligen Lehrstuhlleiterin, die mir erzählt wurde: eines Morgens lag eine Schachtel Pralinen auf dem Tisch im Lehrerzimmer und ein Zettel dazu: Liebe Kollegen, ich bin für die nächsten Jahre in Deutschland, viele Dank für die Zusammenarbeit, eure Natalja. Das war eine Weile vor meiner Ankunft hier, ich habe die Frau nie kennengelernt.

Am 23. Februar wird russlandweit der „Tag der Verteidiger des Vaterlandes“ gefeiert. Der Feiertag fällt auf einen Dienstag, und um mehrere freie Tage am Stück zu erhalten, hat der Gesetzgeber auch den Montag zum freien Tag erklärt. Damit keine Arbeitstage ausfallen, wird der Montag am Samstag nachgeholt. Nun gibt es aber Einrichtungen wie Schulen oder auch Teile der Uni, die am Samstag arbeiten. In diesen wird der Montag entweder am Sonntag vorgearbeitet oder für den Montag wird am Samstag gearbeitet und der Samstag wiederum auf den Sonntag geschoben. Wann genau wer arbeiten muss, erfuhr man bei uns an der Uni drei Tage vorher durch einen Prikaz, eine Anweisung des Rektors. Ein einziges Chaos, die Kollegen müssen sich immer bereithalten. Wenn auf diese Weise der Stundenplan von Wochentagen am Wochenende stattzufinden hat, kann es schonmal vorkommen, dass kurz jemand die Tür aufmacht und in den Unterrichtsraum schaut, dann weiß man – das war jetzt eine Kontrolle von oben, nicht dass Dozenten und Studenten schwänzen!

Wenige Tage vor unserem geplanten Konzert ist mir mein Cello aus der Hand gerutscht, auf der Straße vor der Haustür. Es knallte aus 20 Zentimetern Höhe aufs Eis. In einer gefütterten Instrumentenhülle, wie sie in Deutschland üblich sind, hätte das keinerlei Folgen. Hier ist das Cello aber nur in eine Art dünnen Stofflappen eingewickelt. Das Ergebnis meiner Unachtsamkeit: Ein klaffender Riss über die halbe Decke (die Vorderseite) und von der Decke abgelöste Zargen (die Seite). Eine Katastrophe! Wie durch ein Wunder schaffte es Sergej Georgiewitsch Okladnikov, der Instrumentenbauer meines Vertrauens und einziger Meister seines Faches hier in Ulan-Ude und im Radius von 500 Kilometern, den Schaden innerhalb von 2 Tagen zu reparieren, ganz ohne möglicherweise und egal. Er verleimte den Riss, ohne den Korpus zu öffnen. Damit ist unser Konzert gerettet. Längerfristig kann sich der Riss wieder öffnen. Eine richtige Behandlung mit kompletter Öffnung und Abdichtung des Schadens von innen (Dagegenkleben kleiner Hölzchen zur Stabilisierung) werde ich später machen lassen.

Probenpause