Wenn man von
Ulan-Ude aus einen halben Tag lang nach Westen fährt, kommt man – nachdem der
Zug das Südende des Baikals umrundet hat – nach Irkutsk, die wohl bekannteste
Stadt der Region. Fährt man etwa die gleiche Zeit nach Osten, landet man in
kahler Steppenumgebung in Tschitá, bekannt als Verbannungsort vieler
Dekabristen. Nach 12stündiger Busfahrt Richtung Süden ist man in Ulan-Bator,
der mongolischen Hauptstadt. Wenn man nach Norden der Bargusin-Trakt genannten Straße folgt, trifft man auf einige
äußerst schöne und malerische Ortschaften entlang des Baikal-Ufers, bevor sich
der Weg vom See entfernt und in das von Bergketten
eingeschlossene Bargusin-Tal hineinführt. Am Eingang zu diesem, in 300
Kilometern Entfernung von Ulan-Ude, liegt der Ort Bargusin – Ziel meines
Ausfluges am letzten Wochenende.
Auf der Hinfahrt
mit dem Bus ranzte mich der Fahrer an, als ich mir mit dem Fingernagel ein
Sichtfenster in der eisbeschlagenen Scheibe freischaben wollte, ich solle sein
Fenster nicht zerkratzen. So konnte ich nur durch die Vorderscheibe etwas von
der schneebedeckten Landschaft erspähen. Nach der Ankunft nach knapp fünf
Stunden Fahrt suchte ich mir als erstes eine Unterkunft – das einzige kleine
Hotel im Ort machte einen recht offiziellen Charakter, ich musste bei der
Registrierung sogar meinen Pass vorlegen und mir wurde ohne jede zusätzliche
menschliche Regung nur kurz das Zimmer gezeigt ohne weiteres Interesse an
meiner Herkunft.
Bargusin liegt
wunderschön zwischen den waldbedeckten Hängen des Bargusin-Bergrückens, der
sich auf bis über 2000 Meter Höhe erstreckt, und dem jetzt im Winter vereisten,
weißen Band des Bargusin-Flusses. Einige Steingebäude im Zentrum, ein großer
Friedhof mit vielen jüdischen Gräbern und das Denkmal an die Dekabristen-Gebrüder
Küchelbecker lassen erahnen, dass die Siedlung eine reiche Geschichte hat und
sogar eine Zeitlang das Stadtrecht besaß. Bargusin wurde schon 1648 gegründet,
ist damit älter als Ulan-Ude und war einst der östlichste befestigte Vorposten
des russischen Zarenreiches. Das kleine Heimatkundemuseum neben der Schule wird
nur auf Nachfrage geöffnet. Mein Anruf war leider erfolglos – es war ein
Sonntag, und an dem wollte die verantwortliche Dame nicht arbeiten, da half
auch das wie zufällig eingestreute „ich komme aus Deutschland“ nichts.
5000 Einwohner hat
der Ort heute, Industrie gibt es keine, man betreibt Land- oder Forstwirtschaft
oder lebt vom Fischfang. Außer dem üblichen Hundegebell lag Stille über dem
Ort, die schneebedeckten Häuschen mit den oft kunstvoll geschnitzten
Fensterläden und den rauchenden Schornsteinen gaben ein sehr stimmungsvolles
Bild. Am Sonntag Vormittag überlegte ich, ob ich in die große, weiße orthodoxe
Kirche am Flussufer gehe oder in das kleine Gebetshaus für „Christen
Evangelischen Glaubens“ – nach kurzem Überlegen entschied ich mich für
letzteres.
Unversehens fand
ich mich in einem Gottesdienst der Pfingstbewegung wieder. Es wurden viele
poppige Lieder zu elektronischer Begleitung gesungen, ein kerniger Pfarrer im
Anzug hielt eine lange, begeisterte Predigt. Vom Vaterunser abgesehen, hatten
die Gebete keine feste Form, sondern wurden von allen Gemeindemitgliedern in
freien Worten gleichzeitig murmelnd oder rufend vorgetragen. Einige kamen nach
vorn und berichteten vom Wirken des Heiligen Geistes in ihren Leben – auch drei
zerknirschte Jugendliche, die sich bekehren wollten, hatten ihren Auftritt und
beteten gemeinsam mit dem Pfarrer. Mit meinen Sitznachbarn kam ich ins Gespräch
und eine Oma gab mir ihre Telefonnummer – das nächste Mal solle ich nicht im
Hotel übernachten, sondern mich lieber von ihr bewirten lassen.
Den Rückweg legte
ich per Anhalter in drei Stationen zurück. Die ersten 50 Kilometer fuhr ich im
Jeep mit einem Mann, der bei der Fischereiaufsicht arbeitet. Er war auf dem Weg
hinaus auf den Baikal, um Wilderern das Handwerk zu legen: man darf nur mit der
Angel fischen, für Netze bedarf es einer gesonderten Lizenz. Das nächste Stück
nahm mich ein Fernfahrer in seinem LKW mit, ein leerer Holztransporter. Zur
Begrüßung gab er mir die Hand und nannte seinen Namen, hatte aber dann doch
kein Interesse an einem Gespräch und drehte seine Musik auf Discolautstärke.
Die dritte Etappe fuhr ich in einem flotten Toyota.
„Skolko?“, fragte mich der junge Mann am
Steuer sofort. Es war für mich das erste Mal, dass jemand gleich wissen wollte,
wie viel Geld ich zu geben bereit war. Bisher hatte ich am Ende der Fahrten oft
freiwillig etwas gegeben, ohne dass es vorher ausgehandelt worden wäre. Für
eine Summe, die etwas unter dem Preis liegt, den man für die gleiche Strecke
mit dem Bus nach Ulan-Ude zahlt, nahm er mich die restlichen 200 Kilometer mit.
Ich kam gerade rechtzeitig in der Stadt an, um – wie verabredet – mit Maxim zu
dessen Datsche zu fahren. Dort luden wir die bereits in Säcke gefüllten vier
Kubikmeter Müll auf einen bestellten Lkw und schlossen damit unsere
Aufräumaktion ab, jetzt herrscht njemetskij
porjadok dort, deutsche Ordnung.
Beim Ausräumen der
vermüllten Garage war uns ein altes Familienalbum in die Hände gefallen mit dem
Foto eines Universitäts-Abschlussjahrgangs von 1932. Die ärmliche Kleidung und
die ernsten, fast grimmigen Gesichter lassen erahnen, dass es keine leichte
Zeit gewesen sein muss in der jungen Sowjetunion, wenige Jahre nach dem Ende
des Bürgerkrieges.
 |
7 Uhr morgens - Bargusin wacht auf |
 |
Das Gebetshaus der "Christen Evangelischen Glaubens" |
 |
Ein Bankgebäude aus dem 19. Jahrhundert |
 |
Vor 145 Jahren wurde Lenin geboren - ein Plakat am Sitz der Kommunistischen Partei erinnert an das wichtige historische Datum |
 |
Ein Rudel herrenloser Hunde vor der Poliklinik |
 |
Bargusin als Verbannungsort polnischer Juden - heute erinnern daran nur noch einige im Schnee versunkene Gräber |
 |
Sowjetstern statt Kreuz - ein Grab aus UdSSR-Zeiten |
 |
Bargusin - malerisch gelegen zwischen vereistem Fluss und Bergketten |
 |
20 Uhr - der Tag in Bargusin geht zu Ende |