Mittwoch, 10. Februar 2016

Bargusin



Wenn man von Ulan-Ude aus einen halben Tag lang nach Westen fährt, kommt man – nachdem der Zug das Südende des Baikals umrundet hat – nach Irkutsk, die wohl bekannteste Stadt der Region. Fährt man etwa die gleiche Zeit nach Osten, landet man in kahler Steppenumgebung in Tschitá, bekannt als Verbannungsort vieler Dekabristen. Nach 12stündiger Busfahrt Richtung Süden ist man in Ulan-Bator, der mongolischen Hauptstadt. Wenn man nach Norden der Bargusin-Trakt genannten Straße folgt, trifft man auf einige äußerst schöne und malerische Ortschaften entlang des Baikal-Ufers, bevor sich der Weg vom See entfernt und in das von Bergketten eingeschlossene Bargusin-Tal hineinführt. Am Eingang zu diesem, in 300 Kilometern Entfernung von Ulan-Ude, liegt der Ort Bargusin – Ziel meines Ausfluges am letzten Wochenende.
Auf der Hinfahrt mit dem Bus ranzte mich der Fahrer an, als ich mir mit dem Fingernagel ein Sichtfenster in der eisbeschlagenen Scheibe freischaben wollte, ich solle sein Fenster nicht zerkratzen. So konnte ich nur durch die Vorderscheibe etwas von der schneebedeckten Landschaft erspähen. Nach der Ankunft nach knapp fünf Stunden Fahrt suchte ich mir als erstes eine Unterkunft – das einzige kleine Hotel im Ort machte einen recht offiziellen Charakter, ich musste bei der Registrierung sogar meinen Pass vorlegen und mir wurde ohne jede zusätzliche menschliche Regung nur kurz das Zimmer gezeigt ohne weiteres Interesse an meiner Herkunft.
Bargusin liegt wunderschön zwischen den waldbedeckten Hängen des Bargusin-Bergrückens, der sich auf bis über 2000 Meter Höhe erstreckt, und dem jetzt im Winter vereisten, weißen Band des Bargusin-Flusses. Einige Steingebäude im Zentrum, ein großer Friedhof mit vielen jüdischen Gräbern und das Denkmal an die Dekabristen-Gebrüder Küchelbecker lassen erahnen, dass die Siedlung eine reiche Geschichte hat und sogar eine Zeitlang das Stadtrecht besaß. Bargusin wurde schon 1648 gegründet, ist damit älter als Ulan-Ude und war einst der östlichste befestigte Vorposten des russischen Zarenreiches. Das kleine Heimatkundemuseum neben der Schule wird nur auf Nachfrage geöffnet. Mein Anruf war leider erfolglos – es war ein Sonntag, und an dem wollte die verantwortliche Dame nicht arbeiten, da half auch das wie zufällig eingestreute „ich komme aus Deutschland“ nichts.
5000 Einwohner hat der Ort heute, Industrie gibt es keine, man betreibt Land- oder Forstwirtschaft oder lebt vom Fischfang. Außer dem üblichen Hundegebell lag Stille über dem Ort, die schneebedeckten Häuschen mit den oft kunstvoll geschnitzten Fensterläden und den rauchenden Schornsteinen gaben ein sehr stimmungsvolles Bild. Am Sonntag Vormittag überlegte ich, ob ich in die große, weiße orthodoxe Kirche am Flussufer gehe oder in das kleine Gebetshaus für „Christen Evangelischen Glaubens“ – nach kurzem Überlegen entschied ich mich für letzteres.
Unversehens fand ich mich in einem Gottesdienst der Pfingstbewegung wieder. Es wurden viele poppige Lieder zu elektronischer Begleitung gesungen, ein kerniger Pfarrer im Anzug hielt eine lange, begeisterte Predigt. Vom Vaterunser abgesehen, hatten die Gebete keine feste Form, sondern wurden von allen Gemeindemitgliedern in freien Worten gleichzeitig murmelnd oder rufend vorgetragen. Einige kamen nach vorn und berichteten vom Wirken des Heiligen Geistes in ihren Leben – auch drei zerknirschte Jugendliche, die sich bekehren wollten, hatten ihren Auftritt und beteten gemeinsam mit dem Pfarrer. Mit meinen Sitznachbarn kam ich ins Gespräch und eine Oma gab mir ihre Telefonnummer – das nächste Mal solle ich nicht im Hotel übernachten, sondern mich lieber von ihr bewirten lassen.
Den Rückweg legte ich per Anhalter in drei Stationen zurück. Die ersten 50 Kilometer fuhr ich im Jeep mit einem Mann, der bei der Fischereiaufsicht arbeitet. Er war auf dem Weg hinaus auf den Baikal, um Wilderern das Handwerk zu legen: man darf nur mit der Angel fischen, für Netze bedarf es einer gesonderten Lizenz. Das nächste Stück nahm mich ein Fernfahrer in seinem LKW mit, ein leerer Holztransporter. Zur Begrüßung gab er mir die Hand und nannte seinen Namen, hatte aber dann doch kein Interesse an einem Gespräch und drehte seine Musik auf Discolautstärke. Die dritte Etappe fuhr ich in einem flotten Toyota.
Skolko?“, fragte mich der junge Mann am Steuer sofort. Es war für mich das erste Mal, dass jemand gleich wissen wollte, wie viel Geld ich zu geben bereit war. Bisher hatte ich am Ende der Fahrten oft freiwillig etwas gegeben, ohne dass es vorher ausgehandelt worden wäre. Für eine Summe, die etwas unter dem Preis liegt, den man für die gleiche Strecke mit dem Bus nach Ulan-Ude zahlt, nahm er mich die restlichen 200 Kilometer mit. Ich kam gerade rechtzeitig in der Stadt an, um – wie verabredet – mit Maxim zu dessen Datsche zu fahren. Dort luden wir die bereits in Säcke gefüllten vier Kubikmeter Müll auf einen bestellten Lkw und schlossen damit unsere Aufräumaktion ab, jetzt herrscht njemetskij porjadok dort, deutsche Ordnung.
Beim Ausräumen der vermüllten Garage war uns ein altes Familienalbum in die Hände gefallen mit dem Foto eines Universitäts-Abschlussjahrgangs von 1932. Die ärmliche Kleidung und die ernsten, fast grimmigen Gesichter lassen erahnen, dass es keine leichte Zeit gewesen sein muss in der jungen Sowjetunion, wenige Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges.

7 Uhr morgens - Bargusin wacht auf
Das Gebetshaus der "Christen Evangelischen Glaubens"
Ein Bankgebäude aus dem 19. Jahrhundert
Vor 145 Jahren wurde Lenin geboren - ein Plakat am Sitz der Kommunistischen Partei erinnert an das wichtige historische Datum
Ein Rudel herrenloser Hunde vor der Poliklinik
Bargusin als Verbannungsort polnischer Juden - heute erinnern daran nur noch einige im Schnee versunkene Gräber
Sowjetstern statt Kreuz - ein Grab aus UdSSR-Zeiten
Bargusin - malerisch gelegen zwischen vereistem Fluss und Bergketten
20 Uhr - der Tag in Bargusin geht zu Ende