Samstag, 6. Februar 2016

Ein Eisspaziergang



Mittwoch 9 Uhr: Ich verlasse die warme Wohnung und mache mich auf den Weg zum Fluss Selenga. Mein Ziel ist, seinem vereisten Lauf ein paar Stunden lang nach Norden zu folgen. Es sind minus fünfundzwanzig Grad, in dem kleinen grünen Armeerucksack, den mir Maxim geschenkt hat, sind Thermoskanne, Propangaskocher, Schnellkochnudeln und Lebkuchen.
Unweit des Stadtzentrums betrete ich die Selenga. Das Eis muss meterdick sein: einige Autos stehen auf der Flussmitte, daneben Zelte, Fischer sitzen geduldig daneben vor ihren Eislöchern. „Gibt’s hier irgendwo gefährliche Stellen weiter Richtung Norden“, frage ich einen jungen Mann. „Nein“, antwortet er knapp, ohne von seiner Angel aufzuschauen. Ich setze mich in Bewegung und genieße das Knirschen des Schnees, charakteristisch für einen ordentlichen knackigen Winter. Manchmal sinke ich schuhtief ein, doch meistens finde ich eine Skispur, auf der ich zügig vorankomme. Zu bizarren Formen aufgeworfene Schollen säumen meinen Weg, eine freigeräumte quadratische Fläche zeugt davon, dass hier Hockey gespielt wurde.
Das Stadtzentrum liegt längst hinter mir, links säumen kleine Holzhütten das Ufer, rechts das kahle Gestrüpp einer Insel. Der Fluss ist nur einen halben Kilometer breit, für russische Verhältnisse wenig. Die kalte Luft schneidet ins Gesicht, ich setze meine Sturmmaske auf und meine Brille ab, da diese sofort beschlägt, wenn ich durch die Maske atme. Vor mir in einiger Ferne sehe ich geheimnisvollen grauen Nebel aufsteigen. Ich gehe weiter und traue meinen Augen nicht: der Beginn einer offenen Stelle, der Nebel ist verdunstendes Wasser! Ab wann wird das Eis dünn, bin ich schon in Gefahr? Doch ich befinde mich auf einer kürzlich ausgetretenen Spur, und etwa 20 Meter vor dem Wasser machen sich Einheimische mit ihrem Eisbohrer zu schaffen. Also gehe ich weiter und finde auch eine Erklärung für die Lücke im Eis: am Ufer führt ein dickes braunes Warmwasserrohr in den Fluss hinein! Ich beschließe, meinen Weg auf dem rechten Ufer fortzusetzen.
Nach einer halben Stunde Gang durch lichtes Gestrüpp bin ich erschöpft: halb eins, Zeit für die Mittagspause. Ich finde sogar eine Bank und beschließe, dass hier End- und Umkehrpunkt meiner heutigen Tour sein soll. Als ich den Brenner auf meine Propangaskartusche schraube, spritzt mir kurz das flüssige Gas entgegen. Warum das? Richtig – das System ist nur bis minus zwanzig Grad gedacht, darunter tut sich das Propan schwer, in den gasförmigen Zustand überzugehen. Doch der einmal aufgeschraubte Brenner funktioniert trotzdem. Ich schmelze Schnee, um Wasser zum Kochen der Nudeln zu gewinnen, und bin enttäuscht über das Ergebnis, eine recht dreckige Brühe. Egal, die Nudeln werden gekocht und das Wasser dann weggeschüttet. Den Tee habe ich zum Glück in der Thermoskanne.
In der Nähe meiner Raststelle gibt es viel trockenes Holz. Ich mache ein kleines Feuer und finde, das ist der Höhepunkt des Tages. Eine wichtige Erfahrung für mich ist, dass trotz dreier Paare dickster und bester Mutter-Wollsocken meine Zehen in den Bergschuhen frieren! Wahrscheinlich helfen bei diesen Temperaturen nur noch Walenki, die berühmten sibirischen Filzstiefel. Die Füße brauchen Bewegung – nach einer Weile mache ich mich auf den Rückweg, entlang meiner eigenen Spur, am rauchenden Schlot einer Fabrik vorbei, eskortiert von ein paar friedlichen herrenlosen Hunden. Auf Höhe des Stadtzentrums angekommen, sehe ich die gleichen Angler vom Morgen noch immer vor ihren Eislöchern sitzen, bevor ich ans Ufer und nachhause gehe. -
Seit gestern habe ich auf der Arbeit eine neue deutsch-muttersprachliche Kollegin. Sie heißt Natalia, kommt aus Wien und hat polnische Vorfahren (deshalb der slavische Name). Natalia wird bis zum Sommer bei uns am Lehrstuhl als Praktikantin arbeiten und auch unterrichten. Am Mittwoch in der nächsten Woche kommen die Studenten, mein zweites Semester beginnt.

Immer bereit zum Aufbruch: meine Expeditionsausrüstung vor der Baikalsee-Karte
Eine Hockeybahn auf dem vereisten Fluss
Das wieder zugefrorene Loch eines Eisfischers. Im Hintergrund die Stelle mit offenem Wasser
Höhepunkt des Tages: ein Feuer am Rastplatz
Spuren des Sibirischen Schneeaffen (Orangutus ulanudensis). Er ernährt sich von Eisbären, greift aber Menschen in der Regel nicht an