Mittwoch 9 Uhr: Ich verlasse die
warme Wohnung und mache mich auf den Weg zum Fluss Selenga. Mein Ziel ist,
seinem vereisten Lauf ein paar Stunden lang nach Norden zu folgen. Es sind
minus fünfundzwanzig Grad, in dem kleinen grünen Armeerucksack, den mir
Maxim geschenkt hat, sind Thermoskanne, Propangaskocher, Schnellkochnudeln und
Lebkuchen.
Unweit des Stadtzentrums betrete
ich die Selenga. Das Eis muss meterdick sein: einige Autos stehen auf der
Flussmitte, daneben Zelte, Fischer sitzen geduldig daneben vor ihren
Eislöchern. „Gibt’s hier irgendwo gefährliche Stellen weiter Richtung Norden“,
frage ich einen jungen Mann. „Nein“, antwortet er knapp, ohne von seiner Angel
aufzuschauen. Ich setze mich in Bewegung und genieße das Knirschen des Schnees,
charakteristisch für einen ordentlichen knackigen Winter. Manchmal sinke ich
schuhtief ein, doch meistens finde ich eine Skispur, auf der ich zügig
vorankomme. Zu bizarren Formen aufgeworfene Schollen säumen meinen Weg, eine
freigeräumte quadratische Fläche zeugt davon, dass hier Hockey gespielt wurde.
Das Stadtzentrum liegt längst
hinter mir, links säumen kleine Holzhütten das Ufer, rechts das kahle Gestrüpp
einer Insel. Der Fluss ist nur einen halben Kilometer breit, für russische
Verhältnisse wenig. Die kalte Luft schneidet ins Gesicht, ich setze meine
Sturmmaske auf und meine Brille ab, da diese sofort beschlägt, wenn ich durch
die Maske atme. Vor mir in einiger Ferne sehe ich geheimnisvollen grauen Nebel
aufsteigen. Ich gehe weiter und traue meinen Augen nicht: der Beginn einer
offenen Stelle, der Nebel ist verdunstendes Wasser! Ab wann wird das Eis dünn,
bin ich schon in Gefahr? Doch ich befinde mich auf einer kürzlich ausgetretenen
Spur, und etwa 20 Meter vor dem Wasser machen sich Einheimische mit ihrem
Eisbohrer zu schaffen. Also gehe ich weiter und finde auch eine Erklärung für
die Lücke im Eis: am Ufer führt ein dickes braunes Warmwasserrohr in den Fluss
hinein! Ich beschließe, meinen Weg auf dem rechten Ufer fortzusetzen.
Nach einer halben Stunde Gang
durch lichtes Gestrüpp bin ich erschöpft: halb eins, Zeit für die Mittagspause.
Ich finde sogar eine Bank und beschließe, dass hier End- und Umkehrpunkt meiner
heutigen Tour sein soll. Als ich den Brenner auf meine Propangaskartusche
schraube, spritzt mir kurz das flüssige Gas entgegen. Warum das? Richtig – das
System ist nur bis minus zwanzig Grad gedacht, darunter tut sich das Propan
schwer, in den gasförmigen Zustand überzugehen. Doch der einmal aufgeschraubte
Brenner funktioniert trotzdem. Ich schmelze Schnee, um Wasser zum Kochen der
Nudeln zu gewinnen, und bin enttäuscht über das Ergebnis, eine recht dreckige
Brühe. Egal, die Nudeln werden gekocht und das Wasser dann weggeschüttet. Den
Tee habe ich zum Glück in der Thermoskanne.
In der Nähe meiner Raststelle
gibt es viel trockenes Holz. Ich mache ein kleines Feuer und finde, das ist der
Höhepunkt des Tages. Eine wichtige Erfahrung für mich ist, dass trotz dreier
Paare dickster und bester Mutter-Wollsocken meine Zehen in den Bergschuhen
frieren! Wahrscheinlich helfen bei diesen Temperaturen nur noch Walenki, die berühmten sibirischen
Filzstiefel. Die Füße brauchen Bewegung – nach einer Weile mache ich mich auf
den Rückweg, entlang meiner eigenen Spur, am rauchenden Schlot einer Fabrik
vorbei, eskortiert von ein paar friedlichen herrenlosen Hunden. Auf Höhe des
Stadtzentrums angekommen, sehe ich die gleichen Angler vom Morgen noch immer
vor ihren Eislöchern sitzen, bevor ich ans Ufer und nachhause gehe. -
Seit gestern habe ich auf der
Arbeit eine neue deutsch-muttersprachliche Kollegin. Sie heißt Natalia, kommt
aus Wien und hat polnische Vorfahren (deshalb der slavische Name). Natalia wird
bis zum Sommer bei uns am Lehrstuhl als Praktikantin arbeiten und auch
unterrichten. Am Mittwoch in der nächsten Woche kommen die Studenten, mein
zweites Semester beginnt.
Immer bereit zum Aufbruch: meine Expeditionsausrüstung vor der Baikalsee-Karte |
Eine Hockeybahn auf dem vereisten Fluss |
Das wieder zugefrorene Loch eines Eisfischers. Im Hintergrund die Stelle mit offenem Wasser |
Höhepunkt des Tages: ein Feuer am Rastplatz |
Spuren des Sibirischen Schneeaffen (Orangutus ulanudensis). Er ernährt sich von Eisbären, greift aber Menschen in der Regel nicht an |