Freitag, 31. Januar 2020

Auf der Georgischen Heerstraße

Die Gergetier Dreifaltigkeitskirche an der Georgischen Heerstraße (oben). Der Kasbek, ein Fünftausender an der Grenze zu Russland (unten)
Das Denkmal der russisch-georgischen Freundschaft von 1983. Zweihundert Jahre zuvor hatte der georgische König sein Land freiwillig unter den Schutz des russischen Zaren gestellt


На холмах Грузии лежит ночного мгла / Шумит Арагва предо мною…
Александр Пушкин (1829)

Auf Georgiens Hügeln liegt nächtliches Dunkel / Vor mir braust die Aragwa…
Alexander Puschkin (1829)

Georgien rühmt sich seiner wilden, schönen Bergwelt. Um außer den grauen, dunstigen Hügeln um Tbilisi herum auch etwas vom vielbesungenen Kaukasus zu sehen, schließe ich mich einer touristischen Exkursion nach Kasbeki an, entlang der bereits seit der Antike bekannten Georgischen Heerstraße Richtung Norden. Schon Alexander Puschkin und Alexandre Dumas waren hier unterwegs und russische Heere marschierten nach Süden gegen die Türken; bis heute ist die Straße eine der wenigen gut ausgebauten Verkehrswege, um den Hauptkamm des Großen Kaukasus zu überwinden.
Ich finde mich in einem Kleinbus in einer Gruppe mit drei Pakistani und vier Frauen aus Saudi-Arabien wieder. Unser Guide ist ein junger Georgier, der in coolem Englisch mit lockerem Smalltalk eine kumpelhafte Atmosphäre schaffen möchte. An einem Stausee zwischen dutzenden Souvenirständen machen wir Halt, dann an der mittelalterlichen Festung Ananuri und an einem kleinen Stand zum Honigverkosten und –kaufen, schließlich zur Mittagspause im Skiort Gudauta. Inzwischen umgeben uns eine geschlossene Schneedecke und beeindruckende Gipfel; die Karte verrät mir, dass hinter dem Grat zur Linken Südossetien liegt, neben Abchasien eines der zwei georgischen Gebiete, die nicht unter der Kontrolle der Zentralregierung stehen – je nach Standpunkt unabhängige Länder oder von Russland okkupierte Regionen.
Das Restaurant, wohinein uns unser Guide führt, verlasse ich nach einigen Minuten wieder, da es  weder Tee noch Kaffee gibt. Wenig später folgen mir die Pakistani, da für sie nicht herauszubekommen war, ob das angebotene Fleisch halal ist. Im kalten Wind stehend erzählen mir die drei von der warmen pakistanischen Gastfreundschaft. Auch ihr Land könne man seit neuestem als Tourist besuchen, erfahre ich später von den Saudis, die gerade zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee sehen, ich sei herzlich willkommen. Gedanklich sehe ich mich für einen Augenblick schon durch den saudi-arabischen Wüstensand schreiten. Irgendwie ist die Welt doch klein geworden.
Aber wir sind ja hier auf der Georgischen Heerstraße, nähern uns Russland, und der nächste Stopp ist eine große runde Steinwand, in deren Mitte die Besucher hineingehen, den Kopf in den Nacken legen und ein Bild aus großen Mosaiksteinen bewundern können: das Denkmal der russisch-georgischen Freundschaft. Zu sehen ist die Jahreszahl 1783, das Jahr, in dem der georgische König den „Vertrag von Georgiewsk“ unterzeichnete und damit sein Land freiwillig unter die Oberhoheit und den Schutz der Zarenmacht stellte. Denkt niemand daran, das Denkmal abzureißen, möchte ich wissen; unser junger Guide verneint, es wäre ein wichtiges Zeugnis modernerer georgischer Kunst, ausgeführt 1983 vom berühmten Bildhauer Surab Zereteli, zweihundert Jahre nach dem folgenschweren Vertragsabschluss. Ein Denkmal für Frieden und Freundschaft, erfahren wir knapp, wohinter sich eigentlich eine komplizierte politische Debatte verbirgt: je nach Blickwinkel war der Anschluss an Russland der Beginn von Kolonisation und Russifizierung oder die Rettung der georgischen kulturellen Eigenständigkeit, weil das mächtige nördliche Imperium verhinderte, dass das kleine Land zwischen den Nachbarn vom Westen und Süden, zwischen Türken und Persern aufgerieben wurde.
Zwanzig Meter weiter ein steiler Felsabbruch, in der Ferne ganz unten im Tal der von Puschkin besungene Fluss Aragva – schon der große russische Nationaldichter ist 1829 hier entlanggereist zum Kriegsschauplatz seiner Landsleute gegen die Türken. Unser junger Reiseführer zieht sich nach dem Herunterspulen der Pflichtinformationen in den Bus zurück und macht fortan einen irgendwie lustlosen Eindruck, die amerikanische Lässigkeit weicht östlichem Schweigen. Vermutlich ist er beleidigt, weil wir die georgische Gastfreundschaft im Restaurant nicht ausreichend gewürdigt haben.
Umkehrpunkt unserer Fahrt ist die Gergetier Dreifaltigkeitskirche auf einem kleinen Berg unweit der Siedlung Kasbeki, die heute wieder Stepantsminda heißt. Das Bild der braungelben Steinkirche vor dem Hintergrund einer Wand von felsigen, schneebedeckten Viertausendern ist eines der bekanntesten Fotomotive aus Georgien. Ich mag keine Orte, an denen sich wie hier zu viele Touristen tummeln, und muss doch zugeben: es ist einfach wunderschön, das unergründliche Geheimnis des sechshundert Jahre alten steinernen Sakralbaues und die ewige Ästhetik der Berge, gekrönt vom majestätisch herausragenden Kegel des Kasbek. Knapp über fünftausend Höhenmeter, sagt meine Karte. Auch über das Kloster am Kasbek gibt es ein Gedicht des unsterblichen Puschkin.
Georgien ist nach Armenien das zweite Land, in dem das Christentum im vierten Jahrhundert zur Staatsreligion wurde. Die Kuppeln der georgisch-orthodoxen Kirche sind keine Zwiebeltürme wie in die der russischen, sondern von konischer Form, der Glockenturm stets ein separater Bau. Ich gehe gern in orthodoxe Kirchen, ich mag den Gesang, den Weihrauchduft und die geheimnisvolle Atmosphäre; als Tourist in der Gruppe mit um den Hals hängendem Fotoapparat habe ich jedoch das Gefühl, den Bau mit meinem Betreten zu entweihen und mache lieber ein kleines Video vom Panorama mit dem Kasbek. Für Alpinisten im Kaukasus muss der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Katastrophe sein. Ausgerechnet dort, wo die höchsten Berge sind, ist heute eine Staatsgrenze.
Ich muss gestehen, dass mich die Georgische Heerstraße weniger beeindruckt, als ich mir von den Beschreibungen erhofft hatte. Zum einen sind die Entfernungen für meine sibirischen Maßstäbe winzig. Ganz Georgien ist so groß wie Bayern, nach zweieinhalb Fahrtstunden von Tbilisi sind wir schon fast an der russischen Grenze. Zum anderen fehlt der Reiz des Wilden, den vielleicht noch Puschkin und Dumas empfunden haben mögen, als sie auf Pferdekutschen den damals gefahrvollen Weg zurücklegten. Heute gibt es überall guten Asphalt, an steilen Abbrüchen ist der Fahrbahnrand mit Betonblöcken, Pfeilern oder Stahlseilen gesichert. An manchen Hängen gibt es unbeleuchtete Tunnel, die allerdings nur bei Lawinengefahr benutzt werden; wir fahren außen an ihnen vorbei.
Nach Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Hauptstadt. Genug des Reisens, morgen Heimkehr zu Frau und Kind!
Was gibt es Neues in Russland? Über den Check-in-Schaltern im Flughafen Vnukovo eine riesige digitale Infotafel: „75 Jahre Sieg!“ In regelmäßigen Abständen die Durchsage, dass das Jahr 2020 zum „Jahr des Andenkens und des Ruhmes“ erklärt wurde. Und dass Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges außerhalb der Reihe bedient werden. Je weiter der Zweite Weltkrieg zurückliegt, umso näher scheint er zu rücken. Zumindest hier.