Mittwoch, 29. Januar 2020

Baku


Adolf Hitler hatte recht. „Wenn wir Baku nicht bekommen, werden wir den Krieg verlieren“, soll er gesagt haben. Die Stadt am Kaspischen Meer mit ihren Erdöl- und Gasvorkommen, heute Hauptstadt Aserbaidschans und mit rund zwei Millionen Einwohnern größte Stadt im Kaukasus, wurde von der Wehrmacht nie eingenommen.
In Baku besuche ich Zejnab, die Frau des Früchtehändlers, in dessen kleinem Laden in Ulan-Ude wir die Zutaten für unseren täglichen Obstsalat kaufen. Obwohl ich zu einer unmöglichen Zeit um halb vier Uhr morgens lande, holt die ältere Dame mich gemeinsam mit ihrer Tochter Teravet vom Flughafen ab. In der großen, geräumigen Wohnung im vierzehnten Stock eines Neubaus bekomme ich das Sofa in einem eigenen Zimmer und schlafe für die nächsten fünf Stunden erst einmal wieder ein, bevor wir zum Sightseeing aufbrechen.
Mit seinen Wolkenkratzern, der ewig langen, schicken Uferpromenade und einem Meer an hohen, sandsteinfarbenen neuen Wohnblöcken macht Baku den Eindruck einer reichen, modernen Stadt. Von fast überall sind drei geschwungene, gläserne Bauten zu sehen, die Flame Towers, deren nächtliche, auf- und abzuckende Beleuchtung lodernde Flammen imitiert. Der Boden hier am Kaspischen Meer ist angefüllt mit Erdgas und Erdöl. Zum ersten Mal sehe ich aus der Nähe ein Feld mit hunderten Erdölpumpen, durch deren rot-blau-gelben Lack der Rost schimmert, wie in Metall vewandelte Riesenvögel, die ihre dünnen schwarzen Schnäbel im immer gleichen Rhythmus in den schlammigen braunen Boden heben und senken. Ich glaube unserem Taxifahrer nicht, der meint, man dürfe sie nicht fotografieren, und mache fasziniert ein paar Aufnahmen. Ich solle mir mein Staunen lieber aufsparen für Yanardag, den Brennenden Berg, meint er, und tatsächlich: an einem Hügel ein wenig stadtauswärts wartet ein Spektakel sondergleichen. An einer felsigen Stelle der Hangunterseite brennt es. Es brennt, einfach so aus der nackten Erde, über eine Länge von mehreren Metern hinweg, immer an der gleichen Stelle und ohne aufzuhören. Eine Traube Menschen steht darum versammelt und schaut sich das Naturschauspiel ungläubig an. „It‘s amazing, isn’t it?“, sage ich zu einem alleine herumstehenden jungen Mann, der kurz zuvor auf Italienisch in sein Telefon gesprochen hatte, und, wohl dankbar für den Gesprächsanlass, erzählt er, dass er bei der staatlichen Ölbehörde SOCAR arbeitet, länger in Aserbaidschan wohnen wird und in der Freizeit mit Englisch nicht richtig weiter komme, da die meisten, wenn eine Fremdsprache, dann nur Russisch sprächen. Wie lange es dauern würde, es zu lernen? Auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion hat  die Sprache als Lingua franca, die von allen fünfzig Völkern im Kaukasus mehr oder weniger verstanden wird, noch eine gewisse Verbreitung. „In Georgien wird niemand Russisch mit dir sprechen“, versichert mir unser Taxifahrer auf dem Rückweg, nachdem ich ihm mein nächstes Reiseziel verraten habe, „dort sind alle gegen Russland gestimmt.“
Die typische Biografie eines Sowjetmenschen umfasst Lebensorte, die außerordentlich weit auseinanderliegen. Zejnab und ihr Mann Tariel, der als Sowjetsoldat in der DDR gedient und von dort nur gute Erinnerungen mitgebracht hat, sind in aserbaidschanischen Dörfern unweit der georgischen Grenze aufgewachsen, haben in Baku gelebt und sind 1995, als es dort keine Arbeit mehr gab, nach Murmansk gegangen, in die Tundra an die norwegische Grenze; nach zehn Jahren dann wieder zurück nach Aserbaidschan und 2010 nach Ulan-Ude. Zejnab gefällt es in Sibirien nicht, ihr südliches Temperament passt nicht zur burjatischen Zurückhaltung. Auch die Arbeit als Obsthändlerin gemeinsam mit ihrem Mann erfüllt die gelernte Hochschul-Mathematikdozentin nicht. Im Moment ist sie für einige Monate in Baku, um ihre Zähne behandeln zu lassen: Komplettsanierung des Gebisses mit Implantaten. Wenn ich Zejnab beim Teetrinken zusehe, verstehe ich den Grund. Bevor sie den ersten Schluck trinkt, steckt sie sich ein Stück Würfelzucker in die Backe, der dann, vom Tee umspült, sich nach und nach auflöst.
Trotz ihrer fünfundsechzig Jahre ist Zejnab noch gut zu Fuß. Fast ohne Ermüdungserscheinungen läuft sie mit mir den ganze Tag durch die Stadt. In der sanierten oder wieder aufgebauten Altstadt aus hellem Sandstein ist die Atmosphäre richtig orientalisch: überall Kuppeln von großen und kleinen Moscheen, Teppiche liegen auf Treppen oder hängen von Balkonen, Männer stehen oder sitzen in kleinen Gruppen und spielen Nardy (Backgammon), auf Basaren werden metallene Tee- und Wasserkannen aller Formen und Größen feilgeboten. Die Exotik endet allerdings bei den ganz westeuropäisch gekleideten Frauen; fast nie sieht man jemanden mit Kopftuch. Baku ist nicht Duschanbe, Aserbaidschan liegt näher an Europa als Tadschikistan.
In dem großen, ultramodern ausgestatteten und fast menschenleeren Bahnhofsgebäude erwerbe ich ein Ticket für die Weiterfahrt nach Tbilisi. Wer will, kann eine lange Wartezeit in einer rundherum abgeschlossenen Sleeping box verbringen. Weiter geht es zu einem Denkmal für Richard Sorge, dem in Baku geborenen Deutschen, der für den russischen Geheimdienst arbeitete und Stalin den Ausbruch der Operation Barbarossa auf den Tag genau vorhersagte, welcher die Information, wie wir wissen, ignorierte. Wenig später irren Zeynab und ich etwas verloren durch die Hallen des Heydar Alijev-Kulturzentrums: ein nach dem ersten Präsidenten des postsowjetischen Aserbaidschan benanntes futuristisches Gebäude, dessen große weiße Kacheln sich zu abenteuerlichen Wellungen und Wölbungen zusammenfügen. Von außen wie von innen ist der Bau eine Ausgeburt an Architektenphantasie, wie man sie sich verrückter kaum vorstellen kann: plötzlich wird der Boden zur Wand oder die Decke zur Treppe. Die wenigen Besucher werden von den labyrinthischen, hohen Hallungen und Stallungen förmlich verschluckt. In einer mit allerlei digitalen Effekten angereicherten Geschichtsausstellung erfahren wir mehr über die Vergangenheit Aserbaischans und natürlich auch das bis in die Gegenwart schmerzhafteste Kapitel, den Berg-Karabach-Konflikt. Das Nachbarland Armenien hält seit einem Krieg Anfang der Neunziger rund zwanzig Prozent des Territoriums besetzt und hat von dort alle Aserbaidschaner vertrieben. Beim Ausfüllen des Online-Visumantrags gibt es dazu eine Frage zu beantworten: „Haben Sie Berg-Karabach und die anderen Gebiete der Republik Aserbaidschan besucht, die von der Republik Armenien seit 1991 besetzt wurden?“ Wer ankreuzt „ja“, bekommt kein Visum. Der Besuch Berg-Karabachs, aus Richtung Armenien kommend durchaus möglich, gilt als illegaler Grenzübertritt in aserbaidschanisches Hoheitsgebiet.
Eigentlich, so erzählen uns die Landkarten und Texte, gibt es gar kein Armenien. Selbst Jerewan war aserbaidschanisches Khanat, ein Teil des Landes also, die christlichen Bewohner selbst nur von irgendwoher Zugezogene. Ich erinnere mich an meinen Besuch dort vor drei Jahren, wo ich in den Museen die Geschichte genau umgekehrt erzählt fand, nicht minder überzeugend durch Fotos und historische Karten belegt.
In einem Bäckerei-Café mit der Aufschrift „Brothaus – deutsche qualität“ lade ich Zeynab zu Milchkaffee und Pfannkuchen ein. Stolze fünfzehn Manat zahle ich dafür, acht Euro, und verstehe deshalb, warum alle Nachbartische frei sind. Der Durchschnittslohn hier wäre nicht viel höher als im armen Burjatien, erzählt sie mir; obwohl sich der Staat durch das Ölgeschäft tolle Bahnhöfe und extravagante Museen leisten kann, kommt vom Reichtum kaum etwas bei den meisten Menschen an; viele arbeiten deshalb in Russland und schicken das Geld nach Hause. Die Scheine der aserbaidschanischen Währung erinnern verblüffend an den Euro: sie wurden von ein und demselben österreichischen Designer entworfen.
Meine Gastgeberin ist eine resolute Mutter. Zufrieden ist sie nur mit dem ältesten ihrer drei Kinder, dem in Kasachstan bei einer Erdölfirma arbeitenden Sohn. Tochter Teravet, eine hübsche, dunkelhaarige Frau, hat weder Arbeit noch eigene Familie; der jüngste Sohn Tural ist bei den Wasserwerken in Ulan-Ude angestellt, womit er gerade sich selbst versorgen kann, aber nicht zum Unterhalt der Familie beiträgt. Englisch oder Deutsch soll er lernen und ins Ausland gehen, sagt Zejnab mit sowjetischer Strenge: konkrete Erwartungen an den Nachwuchs hat sie und Vorstellungen von den Lebenswegen der Kinder.
Die Macht in Aserbaidschan ist seit Jahrzehnten in den Händen der gleichen Familie: Präsident Ilham Alijev hat das Amt von seinem 2003 verstorbenen Vater Heydar übernommen und seine Frau Mehriban vor zwei Jahren zur Vizepräsidentin gemacht. Nach außen hin gibt sich das Land weltoffen und möchte Touristen anlocken; ab dem nächsten Jahr soll die Visapflicht für EU-Bürger abgeschafft werden, schon jetzt ist die Beantragung eines e-Visums per Internet nur noch eine unkomplizierte Formalie. Ein Hochglanzbüchlein verrät zehn Gründe, Aserbaidshan zu besuchen; der zehnte, die Schlammvulkane, klingt so interessant, dass ich meine Gastgeberin und ihre Tochter überzeugen kann, am dritten und letzten Tag meines Aufenthaltes mit mir nach Qobustan aufzubrechen, eine knappe Fahrtstunde südwestlich von Baku, wo in der Halbwüste die wunderlichen Erscheinnungen zu finden sind. Der Fahrer unseres Mercedes-Taxis – das Land ist voller unterschiedlich alter und auch neuer Mercedesse – weigert sich, die letzten nicht asphaltierten Kilometer zu fahren und lässt uns in einen Lada Niva zu einem Kollegen umsteigen. Dem jungen Mann am Steuer, der wie so viele seiner Generation schon kein Russisch mehr spricht, gebe ich zu verstehen, dass ich in Sibirien auch einen Niva fahre, und zeige meine Anerkennung über die elektrischen Fensterheber und per Knopfdruck verstellbaren Seitenspiegel, mit denen er seinen Wagen nachgerüstet hat, was ich nie könnte. Was allerdings er wohl nicht fertigbringen würde, sage ich ein wenig angeberisch und bitte Zejnab um Übersetzung – was ich dafür kann, ist den Motor meines Niva bei minus fünfunddreißig Grad zum Anspringen zu bringen! Diese Probleme hat hier niemand, Winter am Kaspischen Meer, das sind fünf oder zehn Plusgrade, Schnee gibt es in und um Baku praktisch nie.
Inzwischen sind wir angekommen. Von einer Anhöhe der Blick in die Ferne auf die stille blaue Wasserfläche, vor uns eine beeindruckende Ansammlung glucksender und gurgelnder, mannshoher Hügel. Von den Hängen der kegelförmigen Erhebungen laufen Ströme einer zähen braunen Flüssigkeit, die vom aufsteigenden Erdgas in Abständen von einigen Sekunden oder Minuten an die Oberfläche gedrückt wird. Ich stecke einen Finger in den Schlamm: er ist kalt. Es sind eben doch keine echten Vulkane und ihr Auswurf keine Lava. Zejnab spaziert angstfrei zwischen den blubbernden Kegeln umher und füllt sich eine Flasche Schlamm ab. Er soll Heilwirkung haben.
Ich fühle mich auch deshalb wohl, weil in der Wohnung kein Fernseher läuft. Am letzten Abend, bevor ich in den Nachtzug nach Tbilisi steige, gibt es Reis mit Bohnen und kuragá, getrockneten Aprikosen. Was wäre, wenn ein Armenier in ihren Obstladen kommen würde, frage ich und komme damit noch einmal auf die ewige Feindschaft zurück. „Wir haben keine Probleme mit den Armeniern als Menschen“, sagt Zejnab, „die Feindschaft wird von der großen Politik geschürt.“ Dann könnte sie also auch einmal nach Armenien fahren, wenn sie möchte, über Georgien, wo die Grenzen offen sind? „Was will ich denn dort? Damit sie mich erschlagen? So etwas macht niemand. Das sind ganz hinterlistige Menschen. Wo ein Armenier ist, gibt es selbst für einen Juden nichts mehr zu tun!“ Nun finde ich doch, dass sich meine Gastgeberin selbst widersprochen hat, schweige aber.
Mich interessiert noch, warum in Ulan-Ude viele Armenier und Aserbaidshaner arbeiten, aber es dort kaum Georgier gibt. „Sie mögen ihr eigenes Land und bleiben am liebsten in der Heimat. Wein trinken und singen sind ihre Lieblingsbeschäftigungen“, sagt Zejnab. Ich bin gespannt.

Die drei Glastürme der "Flame Towers" überragen unübersehbar die Altstadt von Baku (oben) mit ihrem orientalischen Flair (unten)

Ein alltäglicher Anblick: Backgammon spielende Männer (oben). Baku hat sich in den letzten Jahren in rasantem Tempo zu einer modernen Großstadt mit Wolkenkratzern entwickelt (unten)
Die Scheine der Landeswährung Manat erinnern an den Euro, da sie vom gleichen Designer entworfen wurden (oben).  Auf der Karte ähnelt Aserbaidschan einem ins Kaspische Meer fliegenden Vogel mit ausgebreiteten Schwingen (unten)
Eine Erdölpumpe bei Baku (oben). Am "Brennenden Berg" tritt Erdgas aus dem Felsen (unten)
Die "Flame Towers" sind nachts eindrucksvoll beleuchtet (oben). Mit einem Lada Niva an den Schlammvulkanen (unten)

Meine Gastgeberin Zejnab, furchtlos einen Schlammvulkan aus der Nähe fotografierend (oben) und in ihrer Wohnung (unten), wo außer ihr noch Tochter Teravet wohnt (ganz unten)