Adolf Hitler hatte recht. „Wenn wir Baku nicht
bekommen, werden wir den Krieg verlieren“, soll er gesagt haben. Die Stadt am
Kaspischen Meer mit ihren Erdöl- und Gasvorkommen, heute Hauptstadt
Aserbaidschans und mit rund zwei Millionen Einwohnern größte Stadt im Kaukasus,
wurde von der Wehrmacht nie eingenommen.
In Baku besuche ich Zejnab, die Frau des
Früchtehändlers, in dessen kleinem Laden in Ulan-Ude wir die Zutaten für
unseren täglichen Obstsalat kaufen. Obwohl ich zu einer unmöglichen Zeit um
halb vier Uhr morgens lande, holt die ältere Dame mich gemeinsam mit ihrer
Tochter Teravet vom Flughafen ab. In der großen,
geräumigen Wohnung im vierzehnten Stock eines Neubaus bekomme ich das Sofa in
einem eigenen Zimmer und schlafe für die nächsten fünf Stunden erst einmal
wieder ein, bevor wir zum Sightseeing aufbrechen.
Mit seinen Wolkenkratzern, der ewig langen,
schicken Uferpromenade und einem Meer an hohen, sandsteinfarbenen neuen
Wohnblöcken macht Baku den Eindruck einer reichen, modernen Stadt. Von fast
überall sind drei geschwungene, gläserne Bauten zu sehen, die Flame Towers, deren nächtliche, auf- und
abzuckende Beleuchtung lodernde Flammen imitiert. Der Boden hier am Kaspischen
Meer ist angefüllt mit Erdgas und Erdöl. Zum ersten Mal sehe ich aus der Nähe
ein Feld mit hunderten Erdölpumpen, durch deren rot-blau-gelben Lack der Rost
schimmert, wie in Metall vewandelte Riesenvögel, die ihre dünnen schwarzen
Schnäbel im immer gleichen Rhythmus in den schlammigen braunen Boden heben und
senken. Ich glaube unserem Taxifahrer nicht, der meint, man dürfe sie nicht
fotografieren, und mache fasziniert ein paar Aufnahmen. Ich solle mir mein
Staunen lieber aufsparen für Yanardag,
den Brennenden Berg, meint er, und tatsächlich: an einem Hügel ein wenig
stadtauswärts wartet ein Spektakel sondergleichen. An einer felsigen Stelle der
Hangunterseite brennt es. Es brennt, einfach so aus der nackten Erde, über eine
Länge von mehreren Metern hinweg, immer an der gleichen Stelle und ohne
aufzuhören. Eine Traube Menschen steht darum versammelt und schaut sich das
Naturschauspiel ungläubig an. „It‘s amazing, isn’t it?“, sage ich zu einem
alleine herumstehenden jungen Mann, der kurz zuvor auf Italienisch in sein
Telefon gesprochen hatte, und, wohl dankbar für den Gesprächsanlass, erzählt
er, dass er bei der staatlichen Ölbehörde SOCAR arbeitet, länger in
Aserbaidschan wohnen wird und in der Freizeit mit Englisch nicht richtig weiter
komme, da die meisten, wenn eine Fremdsprache, dann nur Russisch sprächen. Wie
lange es dauern würde, es zu lernen? Auch dreißig Jahre nach dem Ende der
Sowjetunion hat die Sprache als Lingua franca, die von allen fünfzig Völkern
im Kaukasus mehr oder weniger verstanden wird, noch eine gewisse Verbreitung. „In
Georgien wird niemand Russisch mit dir sprechen“, versichert mir unser
Taxifahrer auf dem Rückweg, nachdem ich ihm mein nächstes Reiseziel verraten
habe, „dort sind alle gegen Russland gestimmt.“
Die typische Biografie eines Sowjetmenschen umfasst
Lebensorte, die außerordentlich weit auseinanderliegen. Zejnab und ihr Mann
Tariel, der als Sowjetsoldat in der DDR gedient und von dort nur gute
Erinnerungen mitgebracht hat, sind in aserbaidschanischen Dörfern unweit der
georgischen Grenze aufgewachsen, haben in Baku gelebt und sind 1995, als es dort
keine Arbeit mehr gab, nach Murmansk gegangen, in die Tundra an die norwegische
Grenze; nach zehn Jahren dann wieder zurück nach Aserbaidschan und 2010 nach
Ulan-Ude. Zejnab gefällt es in Sibirien nicht, ihr südliches Temperament passt
nicht zur burjatischen Zurückhaltung. Auch die Arbeit als Obsthändlerin
gemeinsam mit ihrem Mann erfüllt die gelernte Hochschul-Mathematikdozentin
nicht. Im Moment ist sie für einige Monate in Baku, um ihre Zähne behandeln zu
lassen: Komplettsanierung des Gebisses mit Implantaten. Wenn ich Zejnab beim
Teetrinken zusehe, verstehe ich den Grund. Bevor sie den ersten Schluck trinkt,
steckt sie sich ein Stück Würfelzucker in die Backe, der dann, vom Tee umspült,
sich nach und nach auflöst.
Trotz ihrer fünfundsechzig Jahre ist Zejnab noch
gut zu Fuß. Fast ohne Ermüdungserscheinungen läuft sie mit mir den ganze Tag
durch die Stadt. In der sanierten oder wieder aufgebauten Altstadt aus hellem
Sandstein ist die Atmosphäre richtig orientalisch: überall Kuppeln von großen
und kleinen Moscheen, Teppiche liegen auf Treppen oder hängen von Balkonen,
Männer stehen oder sitzen in kleinen Gruppen und spielen Nardy (Backgammon), auf Basaren werden metallene Tee- und
Wasserkannen aller Formen und Größen feilgeboten. Die Exotik endet allerdings
bei den ganz westeuropäisch gekleideten Frauen; fast nie sieht man jemanden mit
Kopftuch. Baku ist nicht Duschanbe, Aserbaidschan liegt näher an Europa als
Tadschikistan.
In dem großen, ultramodern ausgestatteten und fast
menschenleeren Bahnhofsgebäude erwerbe ich ein Ticket für die Weiterfahrt nach
Tbilisi. Wer will, kann eine lange Wartezeit in einer rundherum abgeschlossenen
Sleeping box verbringen. Weiter geht
es zu einem Denkmal für Richard Sorge, dem in Baku geborenen Deutschen, der für
den russischen Geheimdienst arbeitete und Stalin den Ausbruch der Operation Barbarossa auf den Tag genau vorhersagte,
welcher die Information, wie wir wissen, ignorierte. Wenig später irren Zeynab und
ich etwas verloren durch die Hallen des Heydar
Alijev-Kulturzentrums: ein nach dem ersten Präsidenten des postsowjetischen
Aserbaidschan benanntes futuristisches Gebäude, dessen große weiße Kacheln sich
zu abenteuerlichen Wellungen und Wölbungen zusammenfügen. Von außen wie von
innen ist der Bau eine Ausgeburt an Architektenphantasie, wie man sie sich
verrückter kaum vorstellen kann: plötzlich wird der Boden zur Wand oder die
Decke zur Treppe. Die wenigen Besucher werden von den labyrinthischen, hohen
Hallungen und Stallungen förmlich verschluckt. In einer mit allerlei digitalen
Effekten angereicherten Geschichtsausstellung erfahren wir mehr über die
Vergangenheit Aserbaischans und natürlich auch das bis in die Gegenwart
schmerzhafteste Kapitel, den Berg-Karabach-Konflikt. Das Nachbarland Armenien
hält seit einem Krieg Anfang der Neunziger rund zwanzig Prozent des
Territoriums besetzt und hat von dort alle Aserbaidschaner vertrieben. Beim
Ausfüllen des Online-Visumantrags gibt es dazu eine Frage zu beantworten: „Haben
Sie Berg-Karabach und die anderen Gebiete der Republik Aserbaidschan besucht,
die von der Republik Armenien seit 1991 besetzt wurden?“ Wer ankreuzt „ja“, bekommt kein Visum. Der
Besuch Berg-Karabachs, aus Richtung Armenien kommend durchaus möglich, gilt als
illegaler Grenzübertritt in aserbaidschanisches Hoheitsgebiet.
Eigentlich, so erzählen uns die Landkarten und
Texte, gibt es gar kein Armenien. Selbst Jerewan war aserbaidschanisches
Khanat, ein Teil des Landes also, die christlichen Bewohner selbst nur von
irgendwoher Zugezogene. Ich erinnere mich an meinen Besuch dort vor drei Jahren,
wo ich in den Museen die Geschichte genau umgekehrt erzählt fand, nicht minder
überzeugend durch Fotos und historische Karten belegt.
In einem Bäckerei-Café mit der Aufschrift „Brothaus
– deutsche qualität“ lade ich Zeynab zu Milchkaffee und Pfannkuchen ein. Stolze
fünfzehn Manat zahle ich dafür, acht Euro, und verstehe deshalb, warum alle
Nachbartische frei sind. Der Durchschnittslohn hier wäre nicht viel höher als
im armen Burjatien, erzählt sie mir; obwohl sich der Staat durch das Ölgeschäft
tolle Bahnhöfe und extravagante Museen leisten kann, kommt vom Reichtum kaum
etwas bei den meisten Menschen an; viele arbeiten deshalb in Russland und
schicken das Geld nach Hause. Die Scheine der aserbaidschanischen Währung
erinnern verblüffend an den Euro: sie wurden von ein und demselben
österreichischen Designer entworfen.
Meine Gastgeberin ist eine resolute Mutter.
Zufrieden ist sie nur mit dem ältesten ihrer drei Kinder, dem in Kasachstan bei
einer Erdölfirma arbeitenden Sohn. Tochter Teravet, eine hübsche, dunkelhaarige
Frau, hat weder Arbeit noch eigene Familie; der jüngste Sohn Tural ist bei den
Wasserwerken in Ulan-Ude angestellt, womit er gerade sich selbst versorgen
kann, aber nicht zum Unterhalt der Familie beiträgt. Englisch oder Deutsch soll
er lernen und ins Ausland gehen, sagt Zejnab mit sowjetischer Strenge: konkrete
Erwartungen an den Nachwuchs hat sie und Vorstellungen von den Lebenswegen der
Kinder.
Die Macht in Aserbaidschan ist seit Jahrzehnten in
den Händen der gleichen Familie: Präsident Ilham Alijev hat das Amt von seinem
2003 verstorbenen Vater Heydar übernommen und seine Frau Mehriban vor zwei
Jahren zur Vizepräsidentin gemacht. Nach außen hin gibt sich das Land weltoffen
und möchte Touristen anlocken; ab dem nächsten Jahr soll die Visapflicht für
EU-Bürger abgeschafft werden, schon jetzt ist die Beantragung eines e-Visums per Internet nur noch eine
unkomplizierte Formalie. Ein Hochglanzbüchlein verrät zehn Gründe, Aserbaidshan
zu besuchen; der zehnte, die Schlammvulkane, klingt so interessant, dass ich
meine Gastgeberin und ihre Tochter überzeugen kann, am dritten und letzten Tag
meines Aufenthaltes mit mir nach Qobustan aufzubrechen, eine knappe Fahrtstunde
südwestlich von Baku, wo in der Halbwüste die wunderlichen Erscheinnungen zu
finden sind. Der Fahrer unseres Mercedes-Taxis – das Land ist voller
unterschiedlich alter und auch neuer Mercedesse – weigert sich, die letzten
nicht asphaltierten Kilometer zu fahren und lässt uns in einen Lada Niva zu
einem Kollegen umsteigen. Dem jungen Mann am Steuer, der wie so viele seiner
Generation schon kein Russisch mehr spricht, gebe ich zu verstehen, dass ich in
Sibirien auch einen Niva fahre, und zeige meine Anerkennung über die
elektrischen Fensterheber und per Knopfdruck verstellbaren Seitenspiegel, mit
denen er seinen Wagen nachgerüstet hat, was ich nie könnte. Was allerdings er
wohl nicht fertigbringen würde, sage ich ein wenig angeberisch und bitte Zejnab
um Übersetzung – was ich dafür kann, ist den Motor meines Niva bei minus
fünfunddreißig Grad zum Anspringen zu bringen! Diese Probleme hat hier niemand,
Winter am Kaspischen Meer, das sind fünf oder zehn Plusgrade, Schnee gibt es in
und um Baku praktisch nie.
Inzwischen sind wir angekommen. Von einer Anhöhe
der Blick in die Ferne auf die stille blaue Wasserfläche, vor uns eine
beeindruckende Ansammlung glucksender und gurgelnder, mannshoher Hügel. Von den
Hängen der kegelförmigen Erhebungen laufen Ströme einer zähen braunen
Flüssigkeit, die vom aufsteigenden Erdgas in Abständen von einigen Sekunden
oder Minuten an die Oberfläche gedrückt wird. Ich stecke einen Finger in den
Schlamm: er ist kalt. Es sind eben doch keine echten Vulkane und ihr Auswurf
keine Lava. Zejnab spaziert angstfrei zwischen den blubbernden Kegeln umher
und füllt sich eine Flasche Schlamm ab. Er soll Heilwirkung haben.
Ich fühle mich auch deshalb wohl, weil in der
Wohnung kein Fernseher läuft. Am letzten Abend, bevor ich in den Nachtzug nach
Tbilisi steige, gibt es Reis mit Bohnen und kuragá,
getrockneten Aprikosen. Was wäre, wenn ein Armenier in ihren Obstladen kommen
würde, frage ich und komme damit noch einmal auf die ewige Feindschaft zurück.
„Wir haben keine Probleme mit den Armeniern als Menschen“, sagt Zejnab, „die
Feindschaft wird von der großen Politik geschürt.“ Dann könnte sie also auch
einmal nach Armenien fahren, wenn sie möchte, über Georgien, wo die Grenzen
offen sind? „Was will ich denn dort? Damit sie mich erschlagen? So etwas macht
niemand. Das sind ganz hinterlistige Menschen. Wo ein Armenier ist, gibt es
selbst für einen Juden nichts mehr zu tun!“ Nun finde ich doch, dass sich meine
Gastgeberin selbst widersprochen hat, schweige aber.
Mich interessiert noch, warum in Ulan-Ude viele
Armenier und Aserbaidshaner arbeiten, aber es dort kaum Georgier gibt. „Sie
mögen ihr eigenes Land und bleiben am liebsten in der Heimat. Wein trinken und
singen sind ihre Lieblingsbeschäftigungen“, sagt Zejnab. Ich bin gespannt.
Die drei Glastürme der "Flame Towers" überragen unübersehbar die Altstadt von Baku (oben) mit ihrem orientalischen Flair (unten) |
Ein alltäglicher Anblick: Backgammon spielende Männer (oben). Baku hat sich in den letzten Jahren in rasantem Tempo zu einer modernen Großstadt mit Wolkenkratzern entwickelt (unten) |
Eine Erdölpumpe bei Baku (oben). Am "Brennenden Berg" tritt Erdgas aus dem Felsen (unten) |
Die "Flame Towers" sind nachts eindrucksvoll beleuchtet (oben). Mit einem Lada Niva an den Schlammvulkanen (unten) |
Meine Gastgeberin Zejnab, furchtlos einen Schlammvulkan aus der Nähe fotografierend (oben) und in ihrer Wohnung (unten), wo außer ihr noch Tochter Teravet wohnt (ganz unten) |