Wer in Wikivoyage
den Artikel über Georgien öffnet, bekommt als erstes die Information „Land in Osteuropa“.
Je nach zugrundegelegter Definition endet Europa entweder in der Tiefebene
nördlich des Kaukasus oder auf dem Hauptkamm des Gebirges. Südlich dieser
Linie, dort, wo Georgien liegt, ist in beiden Fällen Asien. Offensichtlich haben
die Wikivoyage-Autoren wenig Ahnung
von Geografie. Oder sie haben sich anstecken lassen vom Wunschdenken vieler
georgischer Politiker, die das Land schon lieber heute als morgen in der EU und
der NATO sähen. Im Zentrum der Hauptstadt Tbilisi, auf dem Freiheitsplatz direkt unterhalb der golden glänzenden Statue des Heiligen Georg auf seinem Pferd – früher
stand dort Lenin – gibt es ein Information
Center on NATO and EU, drei große Flaggen von Georgien, NATO und EU hängen
dort einträchtig nebeneinander. Das Informationszentrum macht einen dauerhaft
geschlossenen Eindruck. So schnell scheint es mit der europäischen Integration
dann doch nicht zu gehen, aktuell steht die Mitgliedschaft Georgiens in den
beiden westlichen Bündnissen nicht auf der Tagesordnung.
Die Zugfahrt von Baku nach Tbilisi dauert eine
Nacht und kostet in der günstigsten Klasse vierundzwanzig Manat (dreizehn
Euro). Die Plazkart-Schlafwagen der
aserbaidschanischen Eisenbahn sind russischen Typs, allerdings mit kleinen
Leselampen an den unteren und oberen Plätzen, und im Bettwäschepaket, das der
Zugbegleiter austeilt, findet sich ein echter Bettbezug und nicht nur ein
zweites Laken. Ein junger, souveränes Englisch sprechender Mann ein paar Plätze
vor mir lädt mich am Morgen auf einen Nescafé ein. Wir lernen uns kennen, how are you, what are you doing, Baikalsee, Ulan-Ude, Deutschlehrer und so
weiter, dann möchte er ein elaboriertes Gespräch über die neuen
gesellschaftspolitischen Tendenzen in Deutschland anknüpfen. Bevor er merkt,
dass ich dem Thema sprachlich nicht ganz gewachsen bin, schaltet sich ein alter
Mann auf der anderen Seite des Ganges ein. Baikalsee? Dort habe er gedient, und
auch in der Mongolei an der chinesischen Grenze, ob ich nicht mit ihm einen Tee
trinken wolle? Ich verabschiede mich von meinem souveränen jungen Kaffeepartner
und wechsle den Tisch, erleichtert, dass ich nun wieder Russisch sprechen kann.
Das Zuhören hilft meinem Gegenüber, seine Militärzeit Revue passieren zu lassen,
und ehe noch das Teeglas geleert ist, überqueren wir die georgische Grenze.
Pass- und Zollkontrollen finden im stehenden Zug statt, ein georgischer Beamter
fragt mich, ob ich in der letzten Zeit in China gewesen sei und drückt mir, da
ich bejahe, einen Zettel mit der Nummer des Notarztes in die Hand. Ich verstehe,
die aktuelle Virusepidemie. Beim kleinsten Unwohlsein sofort anrufen. Gute
Reise.
Da ich in Tbilisi keine Bekannten habe und meine Internet-Suche
nach einem Couchsurfing-Gastgeber
nicht erfolgreich war, quartiere ich mich in einem Hostel ein und durchstreife
die Stadt zunächst allein. Tbilisi macht einen etwas chaotischen und
schmuddeligen Eindruck, viel hässliches Graffiti, im Zentrum überall traurige Bettlergestalten
und friedlich-lethargische Straßenhunde, von denen aber fast alle eine Ohrmarke
tragen – wie ich später erfahren werde, ein Zeichen dafür, dass sie Impfung und
Gesundheitskontrolle durchlaufen haben. Immerhin. An den Absperrzaun vor dem
mächtigen, kantigen Parlamentsgebäude, vor dem die georgische und die EU-Flagge
wehen, hat jemand „Fuck Russia“ und „Ruhm der Ukraine“ hingeschmiert. Bis in
den späten Abend hinein herrscht ein südländisch anmutendes reges Treiben; in
meiner sibirischen Daunenjacke komme ich hoffnungslos ins Schwitzen, bestimmt
sind zweistellige Plusgrade, trotz Januar. Die historische Altstadt in leichter
Hanglage über dem Fluss ist tatsächlich alt, ich kann mich nicht erinnern,
irgendwo anders ein solches Gewirr an verschlungenen, engen Gassen mit
heruntergekommenen, rissigen Fassaden, halb verfaulten Holzbalkonen,
Schutthaufen mit herumschnurrenden Katzen und in die enge Straßen hineingequetschten
erstaunlich dicken Autos gesehen zu haben. Trotzdem hat die morbide
Vergänglichkeit für mich mehr Atmosphäre als das schicke historische Zentrum in
Baku. Zwischendurch selten ein renoviertes Gebäude, häufiger noch ein Neubau;
ich vermute, in ein paar Jahrzehnten wird die gesamte Altstadt verschwunden
sein, verschlungen vom Verfall.
Ärmliche Mütterchen und alte Männer warten an den
Fußgängerunterführungen auf Kunden für ihre kleine Ware, Blumensträuße etwa
oder einzelne Zigaretten; auf den breiten steinernen Brüstungen an den Ausgängen
liegen meterweise Bücher zum Verkauf aus, Literatur aus der Sowjetzeit in
russischer und georgischer Sprache. Neugierig betrete ich ein Antiquariat und
frage nach vorrevolutionärer Literatur,
also vor 1917 erschienenen Büchern aus der Zarenzeit, der Zeit des Russischen Imperiums, zu dem Georgien
auch gehörte. Viele der abgegriffenen, zerfledderten Bücher in dem
Durcheinander auf den Regalen und Tischen sind über hundert Jahre alt. Was
genau ich suche, will der Inhaber wissen; ich lege mich fest auf die großen
Klassiker, und da der hagere, etwas nervöse Mann auch nicht mehr Ahnung hat als
ich, wo sich was befindet, machen wir uns gemeinsam in seinem Laden auf die
Suche. Nach einer Weile fallen uns eine moosgrüne Ausgabe von Tolstojs Kreutzersonate von 1911 in die Hand und
ein völlig auseinanderfallender, braun-speckiger Band mit weiteren seiner
Erzählungen von 1913. Als diese Bücher das Licht der Welt erblickten, noch in der
alten Orthographie mit vielen Härtezeichen an den Wortenden und einem zweiten,
inzwischen abgeschafften Buchstaben für den Laut „e“, gab es noch nicht einmal
die Sowjetunion. Mein nostalgisches Herz erwacht; mit Mühe verberge ich meine
Begeisterung, um den Preis nicht in die Höhe zu treiben, zahle ein paar Lari
und verabschiede mich mit einem georgischen Nachwamdis.
Die Georgier sind stolz auf ihr Land und, wie es
scheint, auch auf ihr Alphabet. An der Touristeninformation erklärt ein Plakat
die dreiunddreißig Buchstaben, deren runde Form mir den Vergleich mit kunstvoll
ausgelegten Spaghettistückchen aufdrängt; es gibt sie als Kühlschrankmagneten
und in Holz geschnitzt. Die Zeit, um es zu lernen, ist überschaubar. Etwas
schwieriger schon wird es mit der Aussprache: allein achtundzwanzig der
Buchstaben sind Konsonanten, die sich in Worten zu abenteuerlich langen Ketten
aneinanderreihen können – davon sechs sogenannte Ejektivlaute, deren Erzeugung kleinen Explosionen im Mund
gleichkommt, ohne dass man dabei ausatmen darf. Nahezu unmöglich für den
Ausländer scheint auf den ersten Blick die Aneignung der Sprache an sich, deren
mit nichts sonst auf der Welt vergleichbaren Kompliziertheit eine harte Nuss
für den an indoeuropäische Logik gewöhnten Sprachverstand darstellt. Ich habe
es gar nicht erst versucht. Wider Erwarten kommt man mit Russisch fast überall
zurecht.
Georgien ist bekannt für seine hervorragenden Weine
und die leckere Küche. Alkohol trinke ich nicht, und da ich allein unterwegs
bin, steht mir nicht der Sinn nach dem Ausprobieren neuartiger exotischer
Speisen. Ich möchte essen, was ich kenne. Im Dönerladen bedient man mich mit
phänomenaler sowjetischer Umständlichkeit. Eine Frau notiert meine Bestellung
auf einen kleinen Zettel, gibt sie mündlich an den Dönerzubereiter hinter dem
Tresen weiter und verweist mich mit dem Papier an eine alte Babuschka hinter einem kleinen Tischchen
zum Bezahlen. Acht Lari war der Preis, auf meinen Zehnerschein bekomme ich nur
eins zwanzig Wechselgeld. Achtzig Tetri für den Service, stellt sich heraus.
Am zweiten Tag lasse ich mich mit einer kleinen
Gruppe von einer jungen Russin durch die Stadt führen, eine Free City Tour, Teilnahme kostenlos,
freiwilliges Bezahlen am Ende. Maria lebt seit fünfzehn Jahren in Tblisi und
hat einen Georgier geheiratet. Als erstes erklärt sie uns, wie wir die Straßen
überqueren sollen: einfach drauflos laufen und dabei dem Fahrer herausfordernd
direkt in die Augen schauen. Wer schüchtern am Rande stehenbleibe, komme nie
auf die andere Seite, unabhängig von Fußgängerüberweg oder Ampelfarbe.
In manchen Straßen entsteht der Eindruck, die
Anzahl der Souvenirstände übertrifft die der Touristen, Tschurtsch`chela-Verkäufer warten auf Kunden für ihre von
eingedicktem Fruchtsaft umschlossenen, auf einen dünnen Faden gefädelten
Nuss-Stangen, junge Frauen wollen einem
exotische Papageien auf den Arm setzen, Popcorn gibt es, frisch gepressten
Granatapfelsaft und zwischendurch immer wieder Bettler. Das Geschäft gehe schlecht,
sagt Maria, auch deshalb, weil die meisten russischen Touristen ausgeblieben
sind. Seit letztem Sommer hat Russland seinen Fluggesellschaften Direktflüge
nach und von Georgien untersagt. Zuvor hatte es gegen den großen Nachbarn
gerichtete Kundgebungen gegeben, Anlass für Putin, zu verkünden, die Sicherheit
seiner Landsleute sei in dem Kaukasusland nicht mehr gewährleistet. Unsinn,
findet die junge Frau, als Russin hatte sie hier nie Probleme, das Flugverbot
wäre nur ein Schachzug, um den von den Tourismuseinnahmen stark abhängigen
Georgiern eins auszuwischen.
Nach dem Überqueren der futuristischen, aber an
einer völlig nutzlosen, weil zwischen bereits zwei bestehenden Brücken von
einem italienischen Architekten errichteten „Brücke des Friedens“ weist unsere
Führerin uns auf eine Glaskuppel oben am Hang hin, die entfernt an den Berliner
Reichstag erinnert: die Residenz des ehemaligen Präsidenten Saakaschwili. Sie
steht leer. Bis 2012 war er Staatschef, heute will mit ihm heute kein Politiker
mehr etwas zu tun haben. Aber, meint Maria, seine Verdienste seien
unbestreitbar: er habe mit der Korruption Schluss gemacht, die Polizei komplett
ausgewechselt und alle Gangster ins Gefängnis gesteckt. Bevor er selbst einer
wurde.
Tbilisi sei eine Stadt der europäischen und orientalischen
Gerüche, sagt unsere Stadtführerin; ich habe Schnupfen, und nur zweimal dringt
etwas davon zu mir: das an einem kleinen Stand erstandene Swanetische Kräutersalz, eine Gewürzmischung aus der höchsten
besiedelten Region des Kaukasus, durftet durchdringend durch drei hermetisch
verschlossene Plastiktüten hindurch. Im Bäderviertel mit seinen markanten
steinernen Kuppeln riecht es nach faulen Eiern von den Schwefelquellen, die
dort seit hunderten Jahren genutzt werden.
Die jungen Leute an der Rezeption im Hostel, wo ich
drei Nächte im Einzelzimmer für je unschlagbar günstige dreiundzwanzig Lari –
sieben Euro – verbrachte, sprechen selbstverständlich Russisch und Englisch.
Der Taxifahrer, etwa mein Jahrgang, der mich um sechs Uhr morgens zum Flughafen
bringt, kann nur Russisch. Auch seine Kinder würden die Sprache in der Schule
lernen, sagt er, und natürlich verstünden und sprächen es die meisten, erst
recht, wer in der Sowjetunion aufwuchs. Niemand habe etwas gegen die Russen
hier, es sei nur die große Politik, die Hass schüre und die Menschen entzweie.
Zurück nach Ulan-Ude möchte ich über Moskau reisen.
Das Flugzeug von Georgien Airways
wird nicht direkt in die russische Hauptstadt fliegen, sondern zunächst in die
Gegenrichtung, nach Jerewan. Dort gibt es eine kurze Zwischenlandung, bei der
einige Passagiere aus- und andere einsteigen, und die Reise wird umbenannt: von
nun an heißt die Fluggesellschaft Armenien Airlines. Die darf in Moskau
landen. Eine elegante Weise also, das Direktflugverbot auszutricksen.
Sind wir nun hier in Europa oder Asien, will ich
zum Abschied vom Taxifahrer noch wissen.
Als Antwort ein Achselzucken. Keine Ahnung, sowohl
als auch. Das Beste aus beiden Welten vielleicht.
Täglich fährt ein Nachtzug von Baku nach Tbilisi (oben). Ikosaeder als Fußwegbegrenzung in der Nähe der Technischen Universität (unten) |
Wilde Verfallsromantik in der Altstadt |
In einem Antiquariat finde ich russische Bücher noch aus den Zeiten des letzten Zaren |
Überall wird Tschurtsch'chela verkauft, aufgefädelte Nüsse in Fruchtgelee |
Die meisten Straßenhunde sind geimpft und tragen eine Ohrmarke. Im Hintergrund die leerstehende Residenz des ehemaligen Präsidenten Saakaschwili (oben). Unter den Kuppeln sind Schwäfelbäder (unten) |
Vor dem Parlamentsgebäude |