Freitag, 31. Januar 2020

Tbilisi


Wer in Wikivoyage den Artikel über Georgien öffnet, bekommt als erstes die Information „Land in Osteuropa“. Je nach zugrundegelegter Definition endet Europa entweder in der Tiefebene nördlich des Kaukasus oder auf dem Hauptkamm des Gebirges. Südlich dieser Linie, dort, wo Georgien liegt, ist in beiden Fällen Asien. Offensichtlich haben die Wikivoyage-Autoren wenig Ahnung von Geografie. Oder sie haben sich anstecken lassen vom Wunschdenken vieler georgischer Politiker, die das Land schon lieber heute als morgen in der EU und der NATO sähen. Im Zentrum der Hauptstadt Tbilisi, auf dem Freiheitsplatz direkt unterhalb der golden glänzenden Statue des Heiligen Georg auf seinem Pferd – früher stand dort Lenin – gibt es ein Information Center on NATO and EU, drei große Flaggen von Georgien, NATO und EU hängen dort einträchtig nebeneinander. Das Informationszentrum macht einen dauerhaft geschlossenen Eindruck. So schnell scheint es mit der europäischen Integration dann doch nicht zu gehen, aktuell steht die Mitgliedschaft Georgiens in den beiden westlichen Bündnissen nicht auf der Tagesordnung.
Die Zugfahrt von Baku nach Tbilisi dauert eine Nacht und kostet in der günstigsten Klasse vierundzwanzig Manat (dreizehn Euro). Die Plazkart-Schlafwagen der aserbaidschanischen Eisenbahn sind russischen Typs, allerdings mit kleinen Leselampen an den unteren und oberen Plätzen, und im Bettwäschepaket, das der Zugbegleiter austeilt, findet sich ein echter Bettbezug und nicht nur ein zweites Laken. Ein junger, souveränes Englisch sprechender Mann ein paar Plätze vor mir lädt mich am Morgen auf einen Nescafé ein. Wir lernen uns kennen, how are you, what are you doing, Baikalsee, Ulan-Ude, Deutschlehrer und so weiter, dann möchte er ein elaboriertes Gespräch über die neuen gesellschaftspolitischen Tendenzen in Deutschland anknüpfen. Bevor er merkt, dass ich dem Thema sprachlich nicht ganz gewachsen bin, schaltet sich ein alter Mann auf der anderen Seite des Ganges ein. Baikalsee? Dort habe er gedient, und auch in der Mongolei an der chinesischen Grenze, ob ich nicht mit ihm einen Tee trinken wolle? Ich verabschiede mich von meinem souveränen jungen Kaffeepartner und wechsle den Tisch, erleichtert, dass ich nun wieder Russisch sprechen kann. Das Zuhören hilft meinem Gegenüber, seine Militärzeit Revue passieren zu lassen, und ehe noch das Teeglas geleert ist, überqueren wir die georgische Grenze. Pass- und Zollkontrollen finden im stehenden Zug statt, ein georgischer Beamter fragt mich, ob ich in der letzten Zeit in China gewesen sei und drückt mir, da ich bejahe, einen Zettel mit der Nummer des Notarztes in die Hand. Ich verstehe, die aktuelle Virusepidemie. Beim kleinsten Unwohlsein sofort anrufen. Gute Reise.
Da ich in Tbilisi keine Bekannten habe und meine Internet-Suche nach einem Couchsurfing-Gastgeber nicht erfolgreich war, quartiere ich mich in einem Hostel ein und durchstreife die Stadt zunächst allein. Tbilisi macht einen etwas chaotischen und schmuddeligen Eindruck, viel hässliches Graffiti, im Zentrum überall traurige Bettlergestalten und friedlich-lethargische Straßenhunde, von denen aber fast alle eine Ohrmarke tragen – wie ich später erfahren werde, ein Zeichen dafür, dass sie Impfung und Gesundheitskontrolle durchlaufen haben. Immerhin. An den Absperrzaun vor dem mächtigen, kantigen Parlamentsgebäude, vor dem die georgische und die EU-Flagge wehen, hat jemand „Fuck Russia“ und „Ruhm der Ukraine“ hingeschmiert. Bis in den späten Abend hinein herrscht ein südländisch anmutendes reges Treiben; in meiner sibirischen Daunenjacke komme ich hoffnungslos ins Schwitzen, bestimmt sind zweistellige Plusgrade, trotz Januar. Die historische Altstadt in leichter Hanglage über dem Fluss ist tatsächlich alt, ich kann mich nicht erinnern, irgendwo anders ein solches Gewirr an verschlungenen, engen Gassen mit heruntergekommenen, rissigen Fassaden, halb verfaulten Holzbalkonen, Schutthaufen mit herumschnurrenden Katzen und in die enge Straßen hineingequetschten erstaunlich dicken Autos gesehen zu haben. Trotzdem hat die morbide Vergänglichkeit für mich mehr Atmosphäre als das schicke historische Zentrum in Baku. Zwischendurch selten ein renoviertes Gebäude, häufiger noch ein Neubau; ich vermute, in ein paar Jahrzehnten wird die gesamte Altstadt verschwunden sein, verschlungen vom Verfall.
Ärmliche Mütterchen und alte Männer warten an den Fußgängerunterführungen auf Kunden für ihre kleine Ware, Blumensträuße etwa oder einzelne Zigaretten; auf den breiten steinernen Brüstungen an den Ausgängen liegen meterweise Bücher zum Verkauf aus, Literatur aus der Sowjetzeit in russischer und georgischer Sprache. Neugierig betrete ich ein Antiquariat und frage nach vorrevolutionärer Literatur, also vor 1917 erschienenen Büchern aus der Zarenzeit, der Zeit des Russischen Imperiums, zu dem Georgien auch gehörte. Viele der abgegriffenen, zerfledderten Bücher in dem Durcheinander auf den Regalen und Tischen sind über hundert Jahre alt. Was genau ich suche, will der Inhaber wissen; ich lege mich fest auf die großen Klassiker, und da der hagere, etwas nervöse Mann auch nicht mehr Ahnung hat als ich, wo sich was befindet, machen wir uns gemeinsam in seinem Laden auf die Suche. Nach einer Weile fallen uns eine moosgrüne Ausgabe von Tolstojs Kreutzersonate von 1911 in die Hand und ein völlig auseinanderfallender, braun-speckiger Band mit weiteren seiner Erzählungen von 1913. Als diese Bücher das Licht der Welt erblickten, noch in der alten Orthographie mit vielen Härtezeichen an den Wortenden und einem zweiten, inzwischen abgeschafften Buchstaben für den Laut „e“, gab es noch nicht einmal die Sowjetunion. Mein nostalgisches Herz erwacht; mit Mühe verberge ich meine Begeisterung, um den Preis nicht in die Höhe zu treiben, zahle ein paar Lari und verabschiede mich mit einem georgischen Nachwamdis.
Die Georgier sind stolz auf ihr Land und, wie es scheint, auch auf ihr Alphabet. An der Touristeninformation erklärt ein Plakat die dreiunddreißig Buchstaben, deren runde Form mir den Vergleich mit kunstvoll ausgelegten Spaghettistückchen aufdrängt; es gibt sie als Kühlschrankmagneten und in Holz geschnitzt. Die Zeit, um es zu lernen, ist überschaubar. Etwas schwieriger schon wird es mit der Aussprache: allein achtundzwanzig der Buchstaben sind Konsonanten, die sich in Worten zu abenteuerlich langen Ketten aneinanderreihen können – davon sechs sogenannte Ejektivlaute, deren Erzeugung kleinen Explosionen im Mund gleichkommt, ohne dass man dabei ausatmen darf. Nahezu unmöglich für den Ausländer scheint auf den ersten Blick die Aneignung der Sprache an sich, deren mit nichts sonst auf der Welt vergleichbaren Kompliziertheit eine harte Nuss für den an indoeuropäische Logik gewöhnten Sprachverstand darstellt. Ich habe es gar nicht erst versucht. Wider Erwarten kommt man mit Russisch fast überall zurecht.
Georgien ist bekannt für seine hervorragenden Weine und die leckere Küche. Alkohol trinke ich nicht, und da ich allein unterwegs bin, steht mir nicht der Sinn nach dem Ausprobieren neuartiger exotischer Speisen. Ich möchte essen, was ich kenne. Im Dönerladen bedient man mich mit phänomenaler sowjetischer Umständlichkeit. Eine Frau notiert meine Bestellung auf einen kleinen Zettel, gibt sie mündlich an den Dönerzubereiter hinter dem Tresen weiter und verweist mich mit dem Papier an eine alte Babuschka hinter einem kleinen Tischchen zum Bezahlen. Acht Lari war der Preis, auf meinen Zehnerschein bekomme ich nur eins zwanzig Wechselgeld. Achtzig Tetri für den Service, stellt sich heraus.
Am zweiten Tag lasse ich mich mit einer kleinen Gruppe von einer jungen Russin durch die Stadt führen, eine Free City Tour, Teilnahme kostenlos, freiwilliges Bezahlen am Ende. Maria lebt seit fünfzehn Jahren in Tblisi und hat einen Georgier geheiratet. Als erstes erklärt sie uns, wie wir die Straßen überqueren sollen: einfach drauflos laufen und dabei dem Fahrer herausfordernd direkt in die Augen schauen. Wer schüchtern am Rande stehenbleibe, komme nie auf die andere Seite, unabhängig von Fußgängerüberweg oder Ampelfarbe.
In manchen Straßen entsteht der Eindruck, die Anzahl der Souvenirstände übertrifft die der Touristen, Tschurtsch`chela-Verkäufer warten auf Kunden für ihre von eingedicktem Fruchtsaft umschlossenen, auf einen dünnen Faden gefädelten Nuss-Stangen,  junge Frauen wollen einem exotische Papageien auf den Arm setzen, Popcorn gibt es, frisch gepressten Granatapfelsaft und zwischendurch immer wieder Bettler. Das Geschäft gehe schlecht, sagt Maria, auch deshalb, weil die meisten russischen Touristen ausgeblieben sind. Seit letztem Sommer hat Russland seinen Fluggesellschaften Direktflüge nach und von Georgien untersagt. Zuvor hatte es gegen den großen Nachbarn gerichtete Kundgebungen gegeben, Anlass für Putin, zu verkünden, die Sicherheit seiner Landsleute sei in dem Kaukasusland nicht mehr gewährleistet. Unsinn, findet die junge Frau, als Russin hatte sie hier nie Probleme, das Flugverbot wäre nur ein Schachzug, um den von den Tourismuseinnahmen stark abhängigen Georgiern eins auszuwischen.
Nach dem Überqueren der futuristischen, aber an einer völlig nutzlosen, weil zwischen bereits zwei bestehenden Brücken von einem italienischen Architekten errichteten „Brücke des Friedens“ weist unsere Führerin uns auf eine Glaskuppel oben am Hang hin, die entfernt an den Berliner Reichstag erinnert: die Residenz des ehemaligen Präsidenten Saakaschwili. Sie steht leer. Bis 2012 war er Staatschef, heute will mit ihm heute kein Politiker mehr etwas zu tun haben. Aber, meint Maria, seine Verdienste seien unbestreitbar: er habe mit der Korruption Schluss gemacht, die Polizei komplett ausgewechselt und alle Gangster ins Gefängnis gesteckt. Bevor er selbst einer wurde.
Tbilisi sei eine Stadt der europäischen und orientalischen Gerüche, sagt unsere Stadtführerin; ich habe Schnupfen, und nur zweimal dringt etwas davon zu mir: das an einem kleinen Stand erstandene Swanetische Kräutersalz, eine Gewürzmischung aus der höchsten besiedelten Region des Kaukasus, durftet durchdringend durch drei hermetisch verschlossene Plastiktüten hindurch. Im Bäderviertel mit seinen markanten steinernen Kuppeln riecht es nach faulen Eiern von den Schwefelquellen, die dort seit hunderten Jahren genutzt werden.
Die jungen Leute an der Rezeption im Hostel, wo ich drei Nächte im Einzelzimmer für je unschlagbar günstige dreiundzwanzig Lari – sieben Euro – verbrachte, sprechen selbstverständlich Russisch und Englisch. Der Taxifahrer, etwa mein Jahrgang, der mich um sechs Uhr morgens zum Flughafen bringt, kann nur Russisch. Auch seine Kinder würden die Sprache in der Schule lernen, sagt er, und natürlich verstünden und sprächen es die meisten, erst recht, wer in der Sowjetunion aufwuchs. Niemand habe etwas gegen die Russen hier, es sei nur die große Politik, die Hass schüre und die Menschen entzweie.
Zurück nach Ulan-Ude möchte ich über Moskau reisen. Das Flugzeug von Georgien Airways wird nicht direkt in die russische Hauptstadt fliegen, sondern zunächst in die Gegenrichtung, nach Jerewan. Dort gibt es eine kurze Zwischenlandung, bei der einige Passagiere aus- und andere einsteigen, und die Reise wird umbenannt: von nun an heißt die Fluggesellschaft  Armenien Airlines. Die darf in Moskau landen. Eine elegante Weise also, das Direktflugverbot auszutricksen.
Sind wir nun hier in Europa oder Asien, will ich zum Abschied vom Taxifahrer noch wissen.
Als Antwort ein Achselzucken. Keine Ahnung, sowohl als auch. Das Beste aus beiden Welten vielleicht.

Täglich fährt ein Nachtzug von Baku nach Tbilisi (oben). Ikosaeder als Fußwegbegrenzung in der Nähe der Technischen Universität (unten)
Stolz wird die georgische Sprache und das Alphabet an der Touristeninformation erklärt (oben). Viele Politiker sähen das Land gern in der EU und der NATO, es gibt schonmal ein Informationszentrum und die entsprechenden Flaggen dazu (unten)
Wilde Verfallsromantik in der Altstadt
In einem Antiquariat finde ich russische Bücher noch aus den Zeiten des letzten Zaren
Überall wird Tschurtsch'chela verkauft, aufgefädelte Nüsse in Fruchtgelee
Die meisten Straßenhunde sind geimpft und tragen eine Ohrmarke. Im Hintergrund die leerstehende Residenz des ehemaligen Präsidenten Saakaschwili (oben). Unter den Kuppeln sind Schwäfelbäder (unten)
Vor dem Parlamentsgebäude