Sonntag, 16. Februar 2020

Keine Schule und Schule


Die Schulen und Musikschulen in Ulan-Ude sind seit einer Woche geschlossen: eine Quarantänemaßnahme wegen der üblichen winterlichen Grippewelle. Maja ist mit Niso zuhause. Für uns ist das kein Problem, da meine Frau zurzeit nicht arbeitet, aber was machen Familien, in denen beide Elternteile berufstätig sind? Natürlich gibt es kein Alternativangebot, wohin die Kinder geschickt werden könnten.
Noch eine weitere Woche, so ist angekündigt, bleiben die Schulen geschlossen. Dafür werden möglicherweise die Frühlingsferien gestrichen, die ansonsten möglicherweise im März stattfinden würden. Genaues weiß niemand, und es ist auch egal, da niemand ernsthaft plant.
Zum Glück waren Niso und ich Ende Dezember schon in China – jetzt könnten wir die Reise nicht mehr machen. Die direkten Flugverbindungen von Irkutsk nach Peking sind gestrichen. Mein Kollege Thorsten hat Qingdao mit der letzten Lufthansa-Maschine nach Deutschland verlassen, um einer drohenden Ausgangssperre zuvorzukommen. In Russland breitet sich das Corona-Virus noch nicht aus. Im Radio höre ich, dass Putin angeordnet hat, humanitäre Hilfsgüter nach China zu schicken, und muss lachen. Sollte die Hilfe nicht in die andere Richtung gehen?

Mein kleines Büro ist gut ausgestattet mit einer Fülle an deutscher Literatur, Zeitschriften und Landkarten. Nicht alles davon kann ich im Unterricht mit den Studenten verwenden. Die Welt- und Europakarten, die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben werden, sind in Russland unbrauchbar. Es fehlen die Länder Abchasien und Süd-Ossetien, und, was weit schwerer wiegt: die Krim ist noch immer ukrainisch. Auch vielen Sachbüchern merkt man an, dass sie im Westen für ein westliches Publikum geschrieben sind. In einer Darstellung über den Marxismus stoße ich auf die folgende Aussage: „Das sowjetische Leben unter Stalin ist vergleichbar mit einem Leben in Nazideutschland unter Hitler.“
War es das? Ich möchte es nicht beurteilen. Aber ich vermute, dass der Satz für viele Russen ungeheuerlich klingt. Er impliziert, dass Stalin und Hitler Tyrannen auf Augenhöhe waren. Von da ist es nicht mehr weit bis zu der Ansicht, dass im Zweiten Weltkrieg zwei Verbrecher eines Schlags ihre Völker aufeinandergejagt hatten. Und eigentlich ist es dann auch nicht mehr entscheidend, wer angegriffen hat – vielleicht ist Hitler Stalin nur ein wenig zuvorgekommen?
Sicher wäre es spannend, mit Studenten im Unterricht über solche Fragen zu diskutieren. Aber nicht mit denen, die an der Burjatischen Staatlichen Universität vor mir sitzen. Was ich im Landeskundeunterricht mache, bewegt sich inhaltlich auf Mittelschulniveau.

Im Sommer des Jahres 2018 hat die siebenjährige Maja das Radfahren gelernt: auf einer ruhigen Seitenstraße vor dem Haus meiner Mutter in Markkleeberg. Anderthalb Jahre später, vor genau einer Woche, nun die nächste Errungenschaft: Maja kann Schlittschuh fahren. Ohne sich an anderen festzuhalten. Ein großes Stadion im Zentrum der Stadt verwandelt sich immer im Winter in eine Eisbahn, der Eintritt für eine Stunde kostet 120 Rubel inclusive Schlittschuhe ausleihen.

Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass die Schule ausfällt. Maja ist viel ausgeglichener und besser gelaunt als sonst. Ich kenne die Verhältnisse in der Klasse nicht, aber nach dem, was mir Niso berichtet, herrscht unter den Schülern ein ausgesprochen ruppiger und primitiver Umgangston, den Maja auch mit nach Hause bringt. Auch auf die Drill-Atmosphäre an der Musikschule hat sie oft keine Lust. Fast jeden Tag gehen meine Frau oder ich mit ihr statt dessen auf den Sowjetplatz, wo eine große Holzrutsche zum kostenlosen Rodeln aufgebaut ist. 
Auch wenn uns der sibirische Winter fehlen wird, ist es gut, dass wir im Sommer die Welt wechseln. Am nächsten Freitag fliegen die beiden nach Novosibirsk, um im deutschen Konsulat das Visum für den Ehegattennachzug zu beantragen. Zwei mit den dafür nötigen Dokumenten angefüllte A4-Hefter stehen im Schrank schon bereit.
Seit diesem Jahr geht Maja jeden Samstag zum Zeichnen ins dom twortschestwa, das Haus der Kunst. Das Angebot ist kostenlos, die Leiterin lobt die Kleine für ihr Talent. Leider ist es gestern auch ausgefallen, wegen der Quarantäne. Schade, dass das Zuhausebleiben nicht für den Universitätsbetrieb gilt.

Überall grüßt der Sieg. Auf dem Sowjetplatz in Ulan-Ude
Maja präsentiert stolz das Ergebnis ihrer Arbeit in der Malgruppe

Auf dem Sowjetplatz an der Rodel-Rutsche werden Plastikschlitten verkauft
Am selbstgebauten Puppenhaus (oben). Bürokratie für den Visaantrag (unten)