Mein vierzigster Geburtstag steht kurz bevor. Die
Jugend ist vergangen, es nähert sich die Zeit der Reife und der Weisheit. Jesus
zog vierzig Tage durch die Wüste, bevor er seine Lehren verkündete und seine
Wunderwerke vollbrachte. Auch ich möchte vor dem Eintritt in den neuen
Lebensabschnitt für zumindest ein paar
Tage in der Wüste weilen, um vielleicht endlich zu erfahren, was die Welt im
Innersten zusammenhält. Gemeinsam mit meiner Frau mache ich mich auf den Weg in
die Wüste Gobi, welche sich dreiundzwanzig Eisenbahnstunden südlich von
Ulan-Ude befindet.
Einmal wöchentlich verkehrt ein durchgehender Zug
von Moskau nach Peking, abwechselnd betrieben von der Chinesischen Staatsbahn
und der Russischen Eisenbahn. Als unserer, ein chinesischer, nachmittags in
Ulan-Ude ankommt, war er schon vier Tage unterwegs. Nach einem flüchtigen Blick
auf die Fahrkarten lässt uns der kleine schwarzhaarige Zugbegleiter einsteigen.
Wir beziehen unsere zwei Betten im Viererabteil, ein oberes und ein unteres;
noch bevor mir ein Gesprächsbeginn mit dem südeuropäisch aussehenden jungen Mann
uns gegenüber einfällt, verlässt dieser das Abteil und wird es bis zur Grenze
nicht mehr betreten. Lieber ein abwesender Nachbar als ein anwesender, der
stört. Die südburjatische Steppe zieht an uns vorüber, es wird dunkel. Unser
Wagen ist der letzte. Niso und ich spazieren einmal durch den ganzen Zug und
wieder zurück. Die Waggons sind schmuddelig und offensichtlich schon älter, an
einer Stelle entdecke ich eine Metallplakette mit der deutschen Aufschrift „VEB
Waggonbau-Ammendorf, Deutsche Demokratische Republik“. Auf den verdreckten
Böden der Vorräume liegen glänzend schwarze Kohlebrocken herum. Eine meist
offene Tür gibt den Blick frei auf das flackernde Feuer der kleinen Metallöfen,
mit denen die Wagen geheizt werden und die Temperatur in den Wasserkesseln gegenüber des jeweils
ersten Abteils auf neunzig Grad gehalten wird. Jeder Passagier kann sich hier
seine Instantnudeln oder Tee aufbrühen.
In der Morgendämmerung des nächsten Tages erreichen
wir Ulan-Bator. Unser nicht anwesender Südeuropäer packt seine Sachen und verlässt
das Abteil, ein älteres Paar aus Bristol steigt zu. Während die Steppe immer
karger und die Anzeichen von Zivilisation draußen immer seltener werden, führen
wir eine kultivierte Konversation über den Brexit,
die Europäische Union und die Zukunft Deutschlands. Die Zeit vergeht schnell
mit Warten, ein wenig Lesen und hin und
wieder Hinaustreten auf den Gang, um die (allerdings fast gleiche) Aussicht aus
dem gegenüberliegenden Fenster zu genießen und dabei neugierig die anderen
Passagiere zu betrachten, die dasselbe tun. Unsere Mitreisenden im Wagen sind etwa
zur Hälfte Chinesen und zur anderen Hälfte westeuropäische Touristen. Zwei
Stunden südlich von Ulan-Bator bitte ich unseren Zugbegleiter um einen
Putzlappen; er gibt mir einen gebrauchten Kopfkissenbezug, mit dem und einer
Flasche Wasser der größer als ich gewachsene Engländer auf dem nächsten Bahnhof
versucht, die verdreckten Fensterscheiben von außen zu reinigen.
Für jemanden wie mich, aufgewachsen inmitten von gesättigter
Hochkultur und dichter Zivilisation, ist die Leere ein Erlebnis, das Nichts,
aus dem jedes Anzeichen menschlicher Aktivität hervorsticht und in den Rang von
etwas Besonderem erhoben erscheint: jeder Strommast grüßt wie ein vertrauter
Freund zu mir herüber, jede Behausung in der kilometerweiten Einöde verwandelt
sich in der Vorstellung zu einer gemütlichen, vertrauten Zuflucht. Bei einer
Tasse Kaffee im mit hölzernen Drachenköpfen und Hakenkreuzornamenten
geschmückten mongolischen Restaurantwagen – welche in jedem Staat wechseln, so
dass der Reisende immer in den Genuss der landestypischen Küche kommen kann –
notieren wir die Dinge, die an uns vorüberziehen und staunen, wie sich die
gelbgraue Leere beim zweiten und dritten Hinsehen erfüllt mit Leben: gelbe, trockene
Grasbüschel, Pferde-, Kuh- und Schafherden (meine Frau bringt mit bei, dass es
im Russischen für „Herde“ je nach Tierart ein anderes Wort gibt), Vögel,
ausgetrocknete Bächlein, Plastiktüten, blauer Himmel und strahlende Sonne,
Plastikflaschen, selten ein Auto, ein Motorrad, ein mit erhobenem Arm den nicht
vorhandenen Verkehr an einem Bahnübergang regulierender Polizist, die eine und
andere steinerne Ruine oder weiße Jurte, Windräder am Horizont und mit Gras und
Erde abgedeckte rechteckige Erhebungen: Bunker und Kasernen eines getarnten
Armeestützpunktes.
In Sainshand hat der Zug eine halbe Stunde
Aufenthalt. Der chinesische Zugbegleiter bedankt sich mit einem Kopfnicken für
die Rückgabe des nunmehr sehr schmutzigen und nassen Kopfkissenbezuges. Viele
Passagiere vertreten sich auf dem Bahnsteig die Beine. Wir steigen auch aus,
als einzige mit Rucksäcken, also für immer. Links vom Gleis gelbe Einöde,
rechts das Bahnhofsgebäude, ein paar Lebensmittelkioske und eine Straße, die zu
einer kleinen Siedlung zu führen scheint – auf den ersten Blick wirkt Sainshand
wenig einladend. Ich frage mich, was das Grinsen im Gesicht unseres Engländers
bedeutet; ob wir wirklich hier in der Mitte vom Nirgendwo bleiben wollen,
scheint er sich zu wundern. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, eine Frau und
ein Mann warten darauf, dass sich jemand für ihre Socken und Aquarellbilder
interessiert. Nebenbei registriere ich, dass die Bahnstrecke tatsächlich
eingleisig und nicht elektrifiziert ist, den Zug zieht eine Diesellok. Der Bahnsteig
wird leer, die Wagen setzen sich in Bewegung. Mit den Socken und
Aquarellbildern bleiben wir allein auf dem Bahnsteig zurück.
Ohne genaue Pläne und Verabredungen an einem ganz
neuen Ort zu sein ist immer aufregend. Weil niemand und nichts auf uns wartet,
wartet scheinbar jeder und alles auf uns, hinter jedem Gesicht könnte sich die
nächste spannende Begegnung verbergen, hinter jeder Hausecke, an jedem Baum und
Denkmal die große Offenbarung ihrer Entdeckung harren, von jedem noch
unbestiegenen Hügel aus sich des großen Gottes ganze Herrlichkeit in ihrer
ungeahnten Fülle darbieten. Am nächsten Morgen – inzwischen haben wir ein
kleines Hotel gefunden – betreten wir das Heimatkundemuseum und fragen nach
einem Auto mit Fahrer, der uns die Wüste zeigen möchte, möglichst einer, der
alle Geheimnisse und Hintergründe in uns verständlicher russischer Sprache
erläutern kann. Hunderttausend Mongolische Tugrik würde ein solcher Ausflug
kosten, gibt uns die Großmutter an der Kasse zu verstehen, bei einem Kurs zum
Euro von eins zu dreitausend kein allzu hoher Preis für einen ganzen Tag, und
wir sind einverstanden. Zehn Minuten später begrüßt uns mit Handschlag ein
ehemaliger Schüler der Großmutter, ein bulliger Typ mit kurzen Haaren und
Sonnenbrille, und geleitet uns zu seinem Geländewagen. Er arbeitet abends und
morgens als Brotlieferant und hält sich tagsüber bereit als Fahrer für spontan
auftauchende Touristen.
Unser Reiseführer spricht ein exzellentes Russisch,
da er noch zu kommunistischen Zeiten an eine sowjetische Schule gegangen ist,
und hat einen Namen, dessen Knäuel aus fremdartigen mongolischen Klängen wir
nicht verstehen können, auch nachdem er dreimal wiederholt wurde, bis ich ihn
bitte, die Buchstaben auf einen Zettel zu schreiben. Das kehlige, spuckige
Lauteknäuel soll Zhabchsan heißen.
Ich werde mich im Verlaufe des ganzen langen Tages nie trauen, ihn mit seinem
Namen anzusprechen.
Zhabchsan – niemand verlangt vom Leser lautes Vorlesen,
deshalb können wir ihn im Schriftlichen ruhig so nennen – Zabchsan jedenfalls
bricht mit uns in die Wüste Gobi auf. Um gerüstet zu sein für eine Vielzahl von
heiligen Stätten, Hügeln und Bergen, besuchen wir zuerst ein
Lebensmittelgeschäft und kaufen eine kleine Flasche Wodka und eine Packung
Milch. Südlich von Sainshand verwandelt sich die immer karger werdende Steppe
endgültig in Wüste, das gelbe Gras weicht bräunlichem Lehm und Steinboden.
Links und rechts trotten Kamelherden an uns vorbei. Es ist windig, aber nicht
kalt und schneefrei. Ich erinnere mich, dass wir vor genau einem Jahr in der
Mongolei in einer dünnen Schneedecke unterwegs waren. In Burjatien wohnt ihr,
sagt unser Reiseführer erfreut, das ist ja auch mongolische Erde! Die Russen
fänden es bestimmt nicht lustig, wenn man ihnen erzähle, dass Burjatien eigentlich
mongolische Erde sei, sage ich.
Am Stadtrand halten wir kurz, um an einem
Kontrollposten eine kleine Mautgebühr zu zahlen. Unser Reiseführer gibt der
Polizistin das Ticket sofort zurück, da es ohnehin niemand prüfen würde. „Dann
kann sie es nochmal verkaufen“, sagt er. Nach einer Stunde erreichen wir eine
Anhöhe mit zwei Steinhaufen, die aus der Entfernung an das Profil einer
Mutterbrust erinnern. Frauen, so erläutert Zhabchsan, sollten hier den Geistern
Milch opfern, um für all das zu danken, was sie von ihrer eigenen Mutter
bekommen haben, um so ihre eigene Mütterlichkeit zu stärken. Niso spritzt den
Inhalt der Milchpackung gegen die Steine, die schon von einer dicken weißen
Schicht aus erstarrter Milch bedeckt sind von den vielen Müttern, die vor ihr
da waren.
In einer Senke unweit des Mutterberges zeigt uns
unser Reiseführer ein an der Oberfläche offen herumliegendes
Dinosaurierskelett, kein ganzes Skelett, um genau zu sein, sondern nur die drei
Meter lange versteinerte Wirbelsäule und einige Brustknochen, aber trotzdem
beeindruckend: ob die Knochen schon lange hier so herumliegen und warum sie
niemand einfach mitnimmt, möchte ich wissen. Nun, sagt Zhabchsan, das wäre ja
hier ein heiliger Ort, wenn man auch nur einen einzigen Stein in die Tasche
stecke, brächte das Unglück über die ganze Familie, aber bei genauem Hinsehen
könne man durchaus erkennen, dass schon einige der Wirbel durch einfache
Felsbrocken ersetzt wurden. Vielleicht habe man sie an die Chinesen verkauft,
die Grenze sei nicht weit und das Nachbarvolk ganz heiß auf solche Dinge.
Immer wieder kommen wir an leuchtend weißen Stupas
vorbei, quadratische, massiv gemauerte buddhistische Schreine, wie wir sie auch
aus der Baikalregion kennen. An einer Stelle stehen Dutzende von ihnen in einem
großen Quadrat, in dessen Mitte zwei Mongolen telefonierend auf dem Rücken im
Schotter liegen. Dieser Ort sei als spirituelles Energiezentrum bekannt, die
empfangene kosmische Kraft könne man sogar per Telefon an seine Verwandten und
Freunde weitergeben, erläutert uns Zabchsan. In einer Art großen metallenen
Kanne mit seitlichen Öffnungen entzündet er ein grünes wohlriechendes Pulver,
wohl das buddhistische Gegenstück zum christlichen Weihrauch, und führt uns zu
einem ungeordneten Steinhaufen. Der Dämonenmagen, erfahren wir, und wenn man an
einer bezeichneten Höhlung seine Sünden hineinflüstert, würde er sie schlucken
und einen auf diese Weise davon befreien. Niso und ich überlegen einen Moment
und murmeln dann nacheinander einige nur uns bekannte Worte in die genannte
Vertiefung.
Ein paar Kilometer werden wir zur Besichtigung
einiger dunkler Felshöhlen aufgefordert, in denen Mönche einst meditierend
einhundertacht Tage zubrachten, bis 1937 das Ende kam; Parteichef Tschoibalsan,
der Stalin der Mongolei, ließ das benachbarte Kloster zerstören und die Lamas
verjagen oder verhaften. Erst später, nach der Reise, werde ich bildungshungrig
in Wikipedia blättern und lernen,
dass einhundertacht im Buddhismus eine heilige Zahl ist, die sich wiederum als
Produkt aus anderen heiligen Zahlen zwölf (Anzahl der Tierkreiszeichen) und
neun (klassische Anzahl der Planeten, noch mit Pluto) ergibt und der Menge an
Perlen auf einer Gebetskette entspricht, welche wiederum die Anzahl an
Wiederholungen eines Mantra-Spruches vorgibt, und so fort – doch noch bin ich nicht
zuhause am Laptop, sondern in der Wüste: gerade steuert Zhabchsan mit uns das Chamaryn-Kloster an und führt uns in
einem der Tempel durch eine mit Hakenkreuzornamenten umrahmte Tür. Hinter einem
mit verschiedenen Metallgefäßen, Ketten und Räucherpulvern vollgestellten Tisch
sitzt im orangenen Umhang ein glatzköpfiger Lama und rezitiert mit kehliger,
tiefer Stimme heilige Worte. Auf der mit
einem spitzen Ende nach unten hängenden Tischdecke prangt schon wieder ein Hakenkreuz.
Unser Reiseführer scheint ihn gut zu kennen; der Lama unterbricht seinen
Gesang, um mit ihm zu scherzen, erkundigt sich nach unserem Wohlergehen und
erlaubt mir, ein Foto zu machen. Um der Heiligkeit und Besonderheit des Ortes
gerecht zu werden, erhebt sich wie von selbst meine rechte Hand, um das Kreuz
zu schlagen. Im letzten Moment besinne ich mich und nehme dazu noch die linke,
um die aneinandergelegten Handinnenflächen vor die Brust zu führen – sicher
auch nicht korrekt, aber immer noch besser, als sich im buddhistischen Tempel
zu bekreuzigen. Obwohl auch das nicht schlimm wäre. Mir scheint, es geht
unkompliziert und pragmatisch zu mit einer Portion Humor.
Bevor sich die Sonne dem Horizont nähert, steuern
wir den einige hundert Meter hohen Berg
der Wünsche an. Am Fuße der Erhebung kauft sich Niso im Souvenirstand eine
Klangschale, dann begeben wir uns die gemauerte Treppe hinauf und schreiben an
einer Art gusseisernem Ofen unsere geheimen Wünsche auf einen Zettel. Wenig
später steigt der Rauch von unseren verbrennenden Zetteln zu den Göttern auf,
auf dass sie nun die Erfüllungswürdigkeit unserer Bitten prüfen mögen. Fünfzig
Meter unterhalb des Gipfels lasse ich Niso zurück und steige allein die letzte
Etappe hinauf. Die Tradition verbietet es Frauen, den Weg ganz bis zum Gipfel
zurückzulegen. Neben den im Winde flatternden Gebetsfahnen auf dem Berg der
Wünsche erinnere ich mich an die kleine Flasche Wodka in meiner Jackentasche
und lasse den gesamten Inhalt von einer Böe hinwegtragen, wie es der Brauch
verlangt. In Burjatien wird dieses Ritual in einer Abwandlung praktiziert; den
Geistern opfert man nur ein paar Tropfen, der Rest geht an die eigene Leber.
Südlich von Sainshand gibt es ein großes Feld mit
Solarzellen, dahinter stehen fünfundzwanzig Windräder, schnurgerade in einer
Reihe in die lehmgelbe Hügellandschaft hinein. Am nächsten Tag fahren wir mit
Zhabchsan zu seinen Bekannten, die in einer Jurte in einer Senke zwei Kilometer
westlich von Windrad Nummer fünf wohnen. Neben der runden weißen Behausung
steht ein offenes Stallgebäude mit einem aus gedrockneten Viehdung-Ziegeln
errichteten Zaun davor. Wir treten ein durch die leuchtend blau und rot
lackierte Holztür und werden gebeten, auf Hockern in der linken Hälfte Platz zu
nehmen, die für Gäste und Männer vorgesehen ist. Uns gegenüber sitzen die
Gastgeber, eine jüngere und eine ältere Frau mit wettergegerbtem Gesicht und
einem dunkelgrünen Deel mit orangenem
Gürtel, der traditionellen mongolischen Bekleidung. Die Jurte ist sehr sauber
und aufgeräumt, fast ein wenig leer; wie uns Zabchsan mitteilt, wohnen die
anderen Familienmitglieder in der Stadt. Eine Autobatterie spendet morgens und
abends Strom für die Deckenlampe. Mich wundert die Abwesenheit des Fernsehers
und das Vorhandensein einer großen funktionierenden Wanduhr, hatte ich doch
geglaubt, dass in der Mongolei die Zeit im Sinne der westlichen Welt keine
Rolle spiele.
Man reicht uns zwei Schalen mit Archi, aus vergorener Milch gebranntem
Wodka. Ich fühle mich inspiriert und glücklich. Mir scheint, der große Moment
naht, das zentrale Schlüsselerlebnis unserer Reise: der lang ersehnte Dialog
mit den Eingeborenen der Wüste Gobi. Als studierter Sprachwissenschaftler habe
ich mich selbstverständlich über Tage darauf vorbereitet. Irgendwo in meinem
Rucksack liegen drei DIN-A4-Zettel, eng beschrieben mit einigen hundert
mongolischen Wörtern, Sätzen und grammatischen Grundregeln. Jetzt, da ich
endlich zwei echten Mongolen in einer mongolischen Jurte gegenübersitze, fallen
mir allerdings nur zwei davon ein. Macht nichts, denke ich, der Rest wird aus
den Tiefen des Gedächtnisses im Verlaufe unseres philosophischen Austausches
sicher hervortreten.
„Minij ner Thomas. In minij echner“, sage ich mit
einladendem Lächeln. Das bedeutet soviel wie dass mein Name Thomas sei und sich
neben mir meine Ehefrau befände.
Die jüngere der beiden Frauen gießt aus der
Thermoskanne Tee in meine Schale nach. Die ältere schaut ausdruckslos vor sich
hin.
„In minij echner“, sage ich.
Die jüngere Frau steht auf und zeigt unserem
Reiseführer etwas auf ihrem Smartphone.
Abendelang habe ich die mongolische Phonetik
studiert, weiß, dass die am Ende der Worte geschriebenen Vokale nicht
ausgesprochen werden, dass beim „L“ die Luft so hart hinter die an den Gaumen
gepresste Zunge gepustet werden muss, dass sie links und rechts seitlich über
dieser entweicht und überhaupt, dass die Laute tief hinten im Rachen gebildet
werden und es irgendwie archaisch, erdig und hart klingen muss.
„Minij echner“, sage ich zweifelnd.
Meine
Sicherheit im Mongolischen beginnt zu bröckeln.
Aus den Gesichtern unserer zwei Gastgeber ist nicht
abzulesen, ob sie mich verstanden haben und wenn ja, ob sie dem Gesagten eine
Bedeutung beimessen.
Wir schweigen.
Es gibt Wege zu den Herzen aller Menschen, doch
diese können sehr verschieden sein. Man muss nur den richtigen finden.
„Gibt es viel Schnee hier im Winter?“, frage ich
auf Russisch mit einem Seitenblick auf unseren Reiseführer und Dolmetscher.
„Nein, gibt es nicht“, antwortet Zhabchsan, anstatt
zu übersetzen.
„Können Sie meine Frage an die Frauen bitte auf
Mongolisch wiederholen?“, sage ich.
„Warum denn, wenn ich die Antwort selbst weiß.“
Wir schlürfen Milchtee und knabbern süßen
getrockneten Quark. Rechte Gemütlichkeit will sich nicht einstellen, vielleicht
liegt es daran, dass es draußen warm ist und deshalb der Metallofen in der
Mitte ungeheizt bleibt, vielleicht auch daran, dass das Gespräch mit den
Eingeborenen der Wüste Gobi nicht in Gang kommt. Nach einer Weile verlassen wir
die Jurte und steuern einen dornigen Baum in einigen hundert Metern Entfernung
an, vor dessen Stamm ich mich in nachdenklicher Pose niederhocke, damit Niso
ein paar eindrucksvolle Fotos machen kann.
Noch ehe die Gelegenheit kommt, dem teuflischen
Versucher zu wiederstehen, der wie das biblische Vorbild sicher auch mich bald
heimsuchen würde (erst später fällt mir wieder ein, dass die Gobi ja eine
buddhistische Wüste ist) – ehe jedenfalls drei Minuten vergangen sind, winkt
uns Zhabchsan zurück zur Jurte. Wir betrachten neugierig die Reste einer
russischen Panzerabwehrminen-Attrappe im Lehmboden – von 1966 bis 1992 waren
sowjetische Truppen in der Mongolei stationiert, und hier war ein Übungsgelände
– dann geht es wieder nach Sainshand.
Ich drücke Zhabchsan vierzigtausend Tugrik als
Dankeschön für die heutige Exkursion in die Hand, wir verabschieden uns und
spazieren vom Zentrum zum etwas außerhalb gelegenen Bahnhof. Außer ein paar
verkümmerten, angepflanzten Bäumen am Straßenrand ist weit und breit kein
größeres Gewächs zu sehen. Viele Mongolen wohnen in Jurten, nicht nur auf dem
Land, sondern auch in der Stadt. Die kleinen kahlen Grundstücke sind umgeben
von Zäunen aus Holz oder Metall, zum Beispiel aus den Boden- und Seitenteilen
aufgeschnittener und glattgepresster Fässer. An einer interessanten Stelle
setzen wir uns auf den Boden, ich zeichne ein kleines Aquarellbild.
Charakteristisch für mongolische Siedlungen ist ein bestimmter chemischer
Geruch, wie eine Mischung aus Kohlerauch und verbranntem Gummi – sicher nur im
Winter, wenn geheizt wird, aber ich kenne das Land nur aus der kalten
Jahreszeit.
Mit dem Nachtzug fahren wir nach Ulan-Bator. Der
Waggon begrüßt uns wie ein alter Bekannter: ein russischer Großraumwagen mit
den Pritschen zum Übernachten in üblicher Anordnung. Wir fühlen uns schon fast
wieder wie zuhause. Da der Regionalzug ständig anhält und Leute ein- und
aussteigen, kann ich nicht einschlafen und lese lieber: die transmongolische
Eisenbahnstrecke wurde von der Sowjetunion gebaut; das siebzig Jahre alte Abkommen
zwischen dieser und der damaligen Mongolischen Volksrepublik über den Betrieb
und die Netzunterhaltung ist noch heute gültig, die Bahn ist Eigentum der
russisch-mongolischen Ulan-Bator-Eisenbahn-Aktiengesellschaft,
fährt auf russischer Breitspur und mit russischer Technik. Einige Unterschiede
zu den Zügen im heimischen Russland – habe ich eben vom heimischen Russland gesprochen? Höchste Zeit für die Rückkehr nach
Deutschland! – fallen uns dann doch auf: niemand will unsere Pässe sehen, die neue
Bettwäsche ist nicht in Folie eingeschweißt, die beiden erstaunlich sauberen
Toiletten nach Geschlecht getrennt und auf der Plattform am Wagenende wird
geraucht.
In der Morgendämmerung erreichen wir die
Hauptstadt. Vor der Rückreise kaufe ich etwas, das es in Ulan-Ude nicht gibt: Haverland Bauern-Schwarzbrot mit würzigem
Malzgeschmack, herrlich rustikal. Mongolische Supermärkte sind gefüllt mit
deutschen Lebensmitteln in Originalverpackung. Die Straßen sind gefüllt mit
japanischen Autos. Das Lieblingsauto der Mongolen ist der Toyota Prius, welche geschätzt zwei Drittel aller Fahrzeuge
ausmachen. Extrem chaotisch, aber weich und ganz leise gleiten sie dahin, fast
lautlos deshalb, weil es Hybridautos mit Elektromotor sind; unglaublich knapp
wird beim Spurwechsel geschnitten, Ampeln werden übersehen und
Fußgängerüberwege ignoriert, aber die rätselhafte asiatischer Harmonie
verhindert jedesmal in letzter Sekunde einen Zusammenstoß. Nach wie vor
materialisieren sich Taxis innerhalb von Sekunden. Man braucht nur die Hand auszustrecken,
und schon sitzt man im übernächsten Auto.
Obwohl meine Frau und ich in der Mongolei fast
nichts verstehen von dem, was gesprochen wird, können wir doch die Eigennamen
und Beschriftungen auf Schildern und Aushängen zumindest lesen. Nach der kommunistischen
Revolution wurde das kyrillische Alphabet eingeführt, das bis heute gültig ist.
Auf den Banknoten, an vielen Denkmälern und einigen Gebäuden finden sich
darüberhinaus die wie an einem hängenden Faden von oben nach unten verlaufenden
Buchstaben der altmongolischen Schrift. Seit einigen Jahren ist ihr Erlernen an
den Schulen wieder ein Pflichtfach, Beamte müssen wohl ihre Kenntnis
nachweisen.
Zurück nach Ulan-Ude fahren wir mit dem Bus. Nach
etwa vier Stunden erreichen wir die Grenze. Die Fahrgäste müssen aussteigen und
ihr Gepäck persönlich durch die Zollabfertigung tragen, zuerst auf der
mongolischen, dann auf der russischen Seite. Nach zwei Stunden kann es
eigentlich weitergehen, wenn da nicht eine Frau wäre, die offensichtlich etwas
Verbotenes mitführt oder deren Tasche die Gewichtsobergrenze von – seit diesem
Jahr ein neues Gesetz – fünfundzwanzig Kilogramm überschritten hat oder beides,
jedenfalls füllt sie eine geschlagenen Stunde lang irgendwelche Formulare aus,
während die anderen Passagiere in einem Vorraum des Zollgebäudes warten müssen.
Ich zähle unterdessen die vielen A4-formatigen Zettel an Wänden, Türen und
Fenstern und komme auf ungefähr einhundert: manche ordentlich eingerahmt auf
Schwarzen Brettern, andere mit Klebestreifen an der nackten Wand befestigt; die
einen uralt und ausgeblichen, die anderen offensichtlich neueren Datums, manche
mit Überschrift, die meisten ohne, eine wirre, chaotische Vielfalt von
Gesetzestexten, Warnungen, Regeln, Vorschriften, Hinweisen und Formalitäten. In
Russland wird man entweder von einer tausendfachen unstrukturierten Informationsflut
erschlagen oder erfährt überhaupt nichts. Auf unserer Reise von der Morgen- bis
zur Abenddunkelheit haben unsere Fahrer nicht ein einziges Mal die Passagiere
mit einer Ansage über irgendetwas aufgeklärt. Aber eigentlich ist das wohl gar
nicht wesentlich, Erwartungen eines flixbusverwöhnten Westlers. Spät erreichen
wir die burjatische Hauptstadt. Die Wüste Gobi versinkt in der Erinnerung.
Am nächsten Tag werden Niso und ich Maja von den
Großeltern abholen. Mein Schwiegervater ist inzwischen stolzer Besitzer eines silbergrauen
Wolga 3105, fünfzehn Jahre alt, aber
in sehr gutem Zustand. Er wird mir einen Geburtstagswunsch erfüllen: mit Genuss
werde ich das reichlich Benzin schluckende, breite, weiche und flache Gefährt
mit Hinterradantrieb eine Runde selbst durchs Dorf steuern.
Die Wasserkessel im Fernzug von Moskau nach Peking (oben) werden mit Kohle geheizt (unten). |
Im mongolischen Speisewagen (oben). Blick aus dem letzten Wagenfenster (unten) |
Niso opfert den Göttern Milch am Mutterbrustberg (oben). Unser mongolischer Reiseführer Zhabchsan sprach zum Glück ausgezeichnet Russisch (unten) |
Leuchtend weiße Stupas umrahmen einen als kosmisches Energiezentrum bekannten Ort (oben). Das Hakenkreuz ist in der Mongolei ein Symbol mit positiver Bedeutung (unten) |
Am Berg der Wünsche schreibt Niso die ihren auf einen kleinen Zettel, der dann verbrannt wird (oben). Mein Gespräch mit den Gobi-Eingeborenen in der Jurte verlief nicht ganz zufriedenstellend (unten) |
An meinem 40. Geburtstag ließ mich der Schwiegervater ans Steuer seines neuesten Stolzes: ein Wolga 3105 |