Montag, 25. November 2019

Familienidylle



Maja hat in der Musikschule im Fach „Musikliteratur“ die Aufgabe bekommen, einen kleinen Text über das Leben von Pjotr Tschaikowskij zu schreiben. Um ihre Liebe zu Büchern zu fördern, nehmen wir die Informationen nicht aus dem Internet, sondern von Band neunundzwanzig der zweiunddreißigbändigen Großen Sowjetischen Enzyklopädie, die unsere Vermieter in der Wohnung hinterlassen haben. Ich diktiere ihr einige Sätze: geboren, gestorben, bekannte Werke, seine Bedeutung. Die Große Russische Enzyklopädie, Nachfolger der sowjetischen, soll in drei Jahren online gehen und eine vollwertige Wikipedia-Alternative werden. Vielleicht ist das ein Schritt hin zum Aufbau eines von der übrigen Welt vollständig unabhängigen russischen Internets „ohne westliche Propaganda“, von dem einige russische Politiker wiederholt gesprochen haben.

Abends sitzen wir zu dritt im Schlafzimmer, Niso liest aus Michael Endes Unendlicher Geschichte, Maja und ich häkeln oder stricken um die Wette. Als Kind habe ich gelernt, Luftmaschen zu häkeln. An diesen Erfolg knüpfe ich jetzt an und lerne das Handarbeiten gemeinsam mit Maja. Ihr gelingen schon kleine Deckchen, ich produziere löcherige quadratige Lappen. Während nördlich der Alpen seit dem dreizehnten Jahrhundert gestrickt wird, kam diese Kunst wohl erst vierhundert Jahre später mit Peter dem Großen nach Russland.

Die Familienidylle wechselt sich ab mit Ereignissen am Arbeitsplatz. Neulich hatten wir das Thema Uhrzeit. An einer großen runden Uhr stelle ich verschiedene Zeiten ein und demonstriere anschaulich „viertel nach acht“ und „viertel vor neun“. Die Studenten müssen ein wenig umdenken, da man auf Russisch wörtlich „ein Viertel der achten Stunde“ (ähnlich dem sächsischen Viertel acht) und „ohne Viertel neun“ sagt. Nach einer Weile haben es die meisten verstanden. Eine Studentin meldet sich schüchtern.
„Wenn einer der Zeiger auf der Drei steht, bedeutet das Viertel, ja?“
In diesem Moment erst ist mir klar geworden, dass die Schwierigkeit für sie nicht in der Sprache bestand. Die Studentin kann kein Ziffernblatt einer analogen Uhr lesen. Ich habe bereits erzählt von meinem Eindruck, dass die jungen Leute langsam das Schreiben mit der Hand verlernen. Im Zuge der Digitalisierung verschwindet nun auch das Vermögen, die Position von Uhrenzeigern deuten zu können.

Im Schreibwarengeschäft neben dem Institut kaufe ich drei Fläschchen Leim, in der Apotheke Natriumtetraborat und in der kleinen Drogerie gegenüber unserer Wohnung Rasierschaum und Rasiercreme. Es ist nicht so, dass wir zuhause kleben wollen, Wanzen ausrotten müssten oder ich mich nass zu rasieren plane: Maja stellt mit diesen Zutaten einen Slime genannten zähflüssigen Schleim her, ein unter ihren Altersgenossen außerordentlich populäres Spielzeug. Im Schreibwarengeschäft gibt es ein eigenes Etikett am Regal: Kleber für den Slime.


Es ist ordentlich kalt in Ulan-Ude, morgens etwa minus zwanzig Grad, im Unterschied zum Vorjahr liegt aber fast kein Schnee. Unser Auto steht an der Straße auf Höhe des Küchenfensters. Damit der Motor nicht einfriert, ist die Alarmanlage auf Autostart-Funktion programmiert, so dass er alle vier Stunden für zehn Minuten anspringt. Sollte das nicht helfen, könnten wir ein fünfzehn Meter langes Stromkabel aus dem Fenster zum Auto spannen und die elektrische Heizung unter der Motorhaube anwerfen.
Der Fußraum des Wagens ist mit roten Spritzern bedeckt: von irgendwoher kommt Kühlmittel in den Fahrgastraum. Also fahre ich in eine Werkstatt, wo ich den Wagen neben vier anderen Toyotas in der Halle abstelle. Die Mechaniker versammeln sich gutmütig witzelnd um meinen ihnen schon bekannten Lada. Einer nimmt die klappernde Plastikverkleidung vom Armaturenbrett und legt das staubige Gewirr frei herumhängender Drähte dahinter frei. Ich stehe daneben, schaue zu und amüsiere mich wie jedesmal köstlich über die Reaktionen, die mein Auto hervorruft.
„Baujahr Zweitausenddreizehn? Unfassbar. Das ist Stand der Technik aus den Achtzigern.“ Der Wärmetauscher der Innenraumheizung muss erneuert werden, und während wir warten, bis ein Kollege das Gerät besorgt hat, wird der junge Mechaniker gesprächig. „Jeder dreißig Jahre alte Japaner ist moderner. Bei uns kommen die Autos schon mit Mängeln aus der Fabrik, schau doch mal her!“ Er fordert mich auf, einen Blick auf die Schmalseite der Tür zu werfen, deren Blech mit kleinen Unebenheiten und Beulen übersät ist. Dann zum Vergleich die gleiche, völlig ebene Stelle an einem Toyota. „Bei den Japanern machen das Roboter. Bei uns irgendein angetrunkener Arbeiter, dem für seine paar Kopeken Lohn alles scheißegal ist. Russische Autoindustrie ist einfach peinlich.“
Ich bitte ihn, noch ein kleines Loch ins Auspuffrohr zu bohren, damit  das in den Abgasen enthaltene Kondenswasser herauströpfeln kann und das Rohr nicht vom Eis verstopft, wie es mir im letzten Winter passierte. Das Ersatzteil, welches gleich-gleich gekauft werden sollte, ist nach drei Stunden da. Beim Anblick der lachenden, fluchenden und herumschlendernden Mechaniker habe ich auch hier den Eindruck, dass die Arbeit ein wenig egal ist. So banal es klingt, aber ich vermisse eine professionelle Einstellung der Menschen zu ihrer Arbeit, Kompetenz, Tempo, Genauigkeit, Sachlichkeit. Ich wünsche mir Aufklärung über Wartezeiten, eine Trennung von Beruflichem und Privatem. Früher habe ich Servicequalität und Kundenorientierung immer für hohle, überflüssige kapitalistische Phrasen gehalten. Inzwischen denke ich, dass es schon irgend etwas damit auf sich zu haben scheint.
Der Mechaniker nimmt pro Arbeitsstunde tausend Rubel – fünfzehn Euro, nicht wenig bei einem Durchschnittslohn von dreihundert Euro in Burjatien.

Unser Frühstück besteht aus Obstsalat, manchmal zusammen mit mannaja kascha – Grießbrei. Die Zutaten für den Salat kaufe ich immer in dem gleichen kleinen Früchtekiosk bei Tariel, einem Aserbaidschaner, dessen Sohn eine Zeitlang den Plan hatte, in Deutschland zu studieren und sich von mir beraten ließ. Der Kiosk ist meistens leer. Zweimal wöchentlich fülle ich meinen kleinen Rucksack mit aserbaidschanischen Äpfeln, chinesischen Pomelos, argentinischen Birnen, armenischem Tschurtschchela – an einem Faden aufgehängte Nüsse in Fruchtgelee – und australischen Makadamia-Nüssen, die mit ihrer dicken Schale verkauft werden, in die ein kleiner Schlitz gesägt ist, da man sie sonst kaum öffnen könnte. Ich vermute, ich bin sein wichtigster Kunde. „Dafür kaufen wir fast kein Fleisch“, erkläre ich ihm, damit er sich nicht zu sehr wundert.