Maja hat in der Musikschule im
Fach „Musikliteratur“ die Aufgabe bekommen, einen kleinen Text über das Leben
von Pjotr Tschaikowskij zu schreiben. Um ihre Liebe zu Büchern zu fördern,
nehmen wir die Informationen nicht aus dem Internet, sondern von Band
neunundzwanzig der zweiunddreißigbändigen Großen
Sowjetischen Enzyklopädie, die unsere Vermieter in der Wohnung hinterlassen
haben. Ich diktiere ihr einige Sätze: geboren, gestorben, bekannte Werke, seine
Bedeutung. Die Große Russische
Enzyklopädie, Nachfolger der sowjetischen, soll in drei Jahren online gehen
und eine vollwertige Wikipedia-Alternative
werden. Vielleicht ist das ein Schritt hin zum Aufbau eines von der übrigen
Welt vollständig unabhängigen russischen Internets „ohne westliche Propaganda“,
von dem einige russische Politiker wiederholt gesprochen haben.
Abends sitzen wir zu dritt im
Schlafzimmer, Niso liest aus Michael Endes Unendlicher
Geschichte, Maja und ich häkeln oder
stricken um die Wette. Als Kind habe ich gelernt, Luftmaschen zu häkeln. An
diesen Erfolg knüpfe ich jetzt an und lerne das Handarbeiten gemeinsam mit
Maja. Ihr gelingen schon kleine Deckchen, ich produziere löcherige quadratige
Lappen. Während nördlich der Alpen seit dem dreizehnten Jahrhundert gestrickt
wird, kam diese Kunst wohl erst vierhundert Jahre später mit Peter dem Großen
nach Russland.
Die Familienidylle wechselt sich ab mit Ereignissen am Arbeitsplatz.
Neulich hatten wir das Thema Uhrzeit. An einer großen runden Uhr stelle ich
verschiedene Zeiten ein und demonstriere anschaulich „viertel nach acht“ und
„viertel vor neun“. Die Studenten müssen ein wenig umdenken, da man auf
Russisch wörtlich „ein Viertel der achten Stunde“ (ähnlich dem sächsischen Viertel acht) und „ohne Viertel neun“ sagt. Nach einer Weile haben es die
meisten verstanden. Eine Studentin meldet sich schüchtern.
„Wenn einer der Zeiger auf der Drei steht, bedeutet das Viertel, ja?“
In diesem Moment erst ist mir klar geworden, dass die Schwierigkeit
für sie nicht in der Sprache bestand. Die Studentin kann kein Ziffernblatt
einer analogen Uhr lesen. Ich habe bereits erzählt von meinem Eindruck, dass
die jungen Leute langsam das Schreiben mit der Hand verlernen. Im Zuge der
Digitalisierung verschwindet nun auch das Vermögen, die Position von
Uhrenzeigern deuten zu können.
Im Schreibwarengeschäft neben dem Institut kaufe ich drei Fläschchen
Leim, in der Apotheke Natriumtetraborat
und in der kleinen Drogerie gegenüber unserer Wohnung Rasierschaum und
Rasiercreme. Es ist nicht so, dass wir zuhause kleben wollen, Wanzen ausrotten
müssten oder ich mich nass zu rasieren plane: Maja stellt mit diesen Zutaten
einen Slime genannten zähflüssigen
Schleim her, ein unter ihren Altersgenossen außerordentlich populäres
Spielzeug. Im Schreibwarengeschäft gibt es ein eigenes Etikett am Regal: Kleber
für den Slime.
Es ist ordentlich kalt in
Ulan-Ude, morgens etwa minus zwanzig Grad, im Unterschied zum Vorjahr liegt
aber fast kein Schnee. Unser Auto steht an der Straße auf Höhe des
Küchenfensters. Damit der Motor nicht einfriert, ist die Alarmanlage auf Autostart-Funktion programmiert, so dass
er alle vier Stunden für zehn Minuten anspringt. Sollte das nicht helfen,
könnten wir ein fünfzehn Meter langes Stromkabel aus dem Fenster zum Auto
spannen und die elektrische Heizung unter der Motorhaube anwerfen.
Der Fußraum des Wagens ist mit roten Spritzern bedeckt: von
irgendwoher kommt Kühlmittel in den Fahrgastraum. Also fahre ich in eine
Werkstatt, wo ich den Wagen neben vier anderen Toyotas in der Halle abstelle.
Die Mechaniker versammeln sich gutmütig witzelnd um meinen ihnen schon
bekannten Lada. Einer nimmt die klappernde Plastikverkleidung vom
Armaturenbrett und legt das staubige Gewirr frei herumhängender Drähte dahinter
frei. Ich stehe daneben, schaue zu und amüsiere mich wie jedesmal köstlich über
die Reaktionen, die mein Auto hervorruft.
„Baujahr Zweitausenddreizehn? Unfassbar. Das ist Stand der Technik aus
den Achtzigern.“ Der Wärmetauscher der Innenraumheizung muss erneuert werden,
und während wir warten, bis ein Kollege das Gerät besorgt hat, wird der junge
Mechaniker gesprächig. „Jeder dreißig Jahre alte Japaner ist moderner. Bei uns
kommen die Autos schon mit Mängeln aus der Fabrik, schau doch mal her!“ Er
fordert mich auf, einen Blick auf die Schmalseite der Tür zu werfen, deren
Blech mit kleinen Unebenheiten und Beulen übersät ist. Dann zum Vergleich die
gleiche, völlig ebene Stelle an einem Toyota. „Bei den Japanern machen das
Roboter. Bei uns irgendein angetrunkener Arbeiter, dem für seine paar Kopeken
Lohn alles scheißegal ist. Russische Autoindustrie ist einfach peinlich.“
Ich bitte ihn, noch ein kleines Loch ins Auspuffrohr zu bohren,
damit das in den Abgasen enthaltene
Kondenswasser herauströpfeln kann und das Rohr nicht vom Eis verstopft, wie es
mir im letzten Winter passierte. Das Ersatzteil, welches gleich-gleich gekauft
werden sollte, ist nach drei Stunden da. Beim Anblick der lachenden, fluchenden
und herumschlendernden Mechaniker habe ich auch hier den Eindruck, dass die
Arbeit ein wenig egal ist. So banal es klingt, aber ich vermisse eine
professionelle Einstellung der Menschen zu ihrer Arbeit, Kompetenz, Tempo, Genauigkeit,
Sachlichkeit. Ich wünsche mir Aufklärung über Wartezeiten, eine Trennung von
Beruflichem und Privatem. Früher habe ich Servicequalität
und Kundenorientierung immer für
hohle, überflüssige kapitalistische Phrasen gehalten. Inzwischen denke ich,
dass es schon irgend etwas damit auf sich zu haben scheint.
Der Mechaniker nimmt pro Arbeitsstunde tausend Rubel – fünfzehn Euro,
nicht wenig bei einem Durchschnittslohn von dreihundert Euro in Burjatien.
Unser Frühstück besteht aus Obstsalat, manchmal zusammen mit mannaja kascha – Grießbrei. Die Zutaten
für den Salat kaufe ich immer in dem gleichen kleinen Früchtekiosk bei Tariel,
einem Aserbaidschaner, dessen Sohn eine Zeitlang den Plan hatte, in Deutschland
zu studieren und sich von mir beraten ließ. Der Kiosk ist meistens leer.
Zweimal wöchentlich fülle ich meinen kleinen Rucksack mit aserbaidschanischen
Äpfeln, chinesischen Pomelos, argentinischen Birnen, armenischem Tschurtschchela – an einem Faden
aufgehängte Nüsse in Fruchtgelee – und australischen Makadamia-Nüssen, die mit ihrer dicken Schale verkauft werden, in
die ein kleiner Schlitz gesägt ist, da man sie sonst kaum öffnen könnte. Ich
vermute, ich bin sein wichtigster Kunde. „Dafür kaufen wir fast kein Fleisch“,
erkläre ich ihm, damit er sich nicht zu sehr wundert.