Das Dorf Jelan, wo meine Frau nach der Übersiedlung
aus Tadschikistan gewohnt und ihre letzten vier Schuljahre verbracht hat, liegt
etwa zweihundert Wegekilometer südlich von Ulan-Ude. Genauer gesagt sind es zweihundertzwanzig
auf der schlechter beschaffenen Strecke ohne Tankmöglichkeit oder hundertneunzig
auf der deutlich besser asphaltierten mit einer Tankstelle zwischendurch, bei der
allerdings auf einem unbefestigten Abschnitt ein steiler Pass überwunden werden
muss, weshalb ich mich meistens für die etwas längere Strecke entscheide. Mit
einer kleinen Pause zwischendurch dauert die Reise dreieinhalb Stunden. In den
letzten Wochen bin ich ungewöhnlich oft nach Jelan und zurück gefahren, um Niso
und Maja zu meinen Schwiegereltern zu bringen oder sie abzuholen. „Ich komme
mir vor wie ein Berufskraftfahrer“, sage ich scherzend und löffle
Schafsfleischsuppe auf ihrer Terrasse vor dem Sommerhaus im Innenhof, „immer
die gleich Strecke hin und her, und am Zielort kostenlose Verpflegung!“ Täglich
fährt auch ein Kleinbus von Ulan-Ude nach Jelan, der deutlich schneller rast
als ich, aber der kleinen Maja bekommt das Durchgeschütteltwerden nicht gut,
ihr wird schlecht und sie verlangt nach Toilettenstopps, weshalb ich lieber die
Rolle des Berufskraftfahrers übernehme. Für meine Familie mache ich das doch
gerne.
An einem Tag erregen zwei offensichtliche Fahrradspuren
im sandigen Untergrund meine Aufmerksamkeit. Wenig später kommen wir an zwei
bunt gekleideten Radlern vorbei, einer davon mit Anhänger, an dem eine
französische Flagge weht, der andere mit einer liegeradähnlichen Konstruktion,
vor ihm ein Kind sitzend, das auch in die Pedale tritt. Niso kurbelt das
Beifahrerfenster herunter.
„Vielleicht habt ihr Lust auf eine Pause und wir
plaudern ein bisschen“, rufe ich im Vorbeifahren auf Englisch.
„Warum nicht, wir sind ja hier, um Leute zu
treffen!“
Das französische Paar hat sich ein Jahr Auszeit
genommen und radelt nun gemeinsam mit dem zwei- und vierjährigen Nachwuchs um
die Welt, jeden Tag dreißig Kilometer. Gerade sind sie unterwegs in die
Mongolei, dann geht es weiter nach China. „Warum haben die bloß keine Angst?“,
fragt meine Frau fassungslos. Aus der kleinen Siedlung neben der Straße kommt
sofort eine Frau herbeigelaufen, filmt unser Treffen mit ihrem Smartphone und
gesteht, dass sie noch nie Ausländern begegnet ist.
Jelan ist ein russisches Dorf, wie es unzählige
ähnliche gibt: links und rechts von sandigen Straßen reihen sich Grundstücke
mit kleinen Häusern aus Rundbalken hinter hohen grauen Holzzäunen aneinander. Vor
einigen ist ein kleines Blumengärtchen hinter einem niedrigen Lattenzaun. Etwa
jedes vierte Haus ist verfallen, so auch ein freistehendes ehemaliges
Kaufmannsgebäude im Zentrum. Man findet ein paar Geschäfte, das graue Ziegelgebäude
der Schule, einen bunt bemalten Kindergarten und ein kleines Heizwerk für die
letzteren beiden; ein Denkmal an die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges,
eine Kirche mit goldglänzendem Zwiebeltürmchen und gleich an der Einfahrt die
Ruinen eines Stalls und Reste einer Mühle, in dem noch riesige runde Mühlsteine
herumliegen. Neben den zwei unübersehbaren Handymasten gibt es die Postfiliale
und eine kleine Bäckerei, in der eine Sorte Weißbrot gebacken wird. Die
Einwohnerzahl liegt bei Tausend, Tendenz fallend. Nach Norden hin erstrecken
sich offene Felder und Steppe, nach Süden eine Hügelkette, so dicht bewaldet,
dass sich Niso mit ihrer Großmutter darin in der Kindheit fast einmal ernsthaft
verlaufen hätte.
Neulich fand ein großes Dorffest statt:
dreihundertdreißig Jahre Jelan! Eine Bühne wurde aufgestellt, davor Tische und
Sitzbänke gezimmert, einen ganze Nachmittag gab es Musik und Gesang, festliche
Ansprachen, in welchen der Zeiten gedacht wurde, als die Geschichte der
Siedlung als Kosakenfestung ihren Anfang nahm, und natürlich reichlich Speise
und Trank in Form von Wodka oder Tee. Nisos Vater hatte für das Fest zuhause im
Hof über offenem Feuer riesige Mengen Plov
zubereitet, in Öl gebratener Reis mit Fleisch und Gemüse. Jede der vier
Dorfstraßen präsentierte ein eigenes Programm auf der Bühne, von denen dann
eine Jury die besten auswählte und Preise vergab.
Im Winter sinkt die Temperatur hier bis auf minus
vierzig Grad. Im kurzen warmen Sommer wird angebaut, was der Boden hergibt. Im
Garten hinter dem Haus erntet Nisos Mutter Kartoffeln, Paprika, Bohnen, Möhren,
Gurken, Zucchini, Kürbis, Rote Beete und Tomaten, die grün abgenommen werden
und dann im Haus nachreifen. Einen halben Tag lang widme ich mich dem üppigen
Unkraut, das in diesem ungewöhnlich verregneten Sommer reichlich wachsen
konnte, und kämpfe gegen die Sibirische Hanfnessel, eine Brennnesselart mit
gefiederten Blättern, die noch unangenehmer auf der Haut schmerzt als ihre
mitteleuropäischen Verwandten.
Neben dem eigentlichen, mit blau leuchtenden
Fensterläden verzierten Wohnhaus meiner Schwiegereltern gibt es noch ein
kleineres Sommerhaus, so genannt, weil es nicht vollständig isoliert und der
Raum im Winter trotz großem Ofen nicht richtig warmzuhalten ist. Neben dem Ofen
in der Erde ist die Brunnenöffnung mit der das Trinkwasser fördernden
elektrischen Pumpe. Schräg dahinter liegt das Banja-Gebäude zum Waschen, gegenüber dem Wohnhaus sind als Garage
oder Lagerräume dienende Schuppen. Im Garten stehen zwei windschiefe
Plumpsklos, außerdem ein armeegrünes UAS-Fahrzeug
des Typs „Tabletka“ ohne Nummernschild, mit dem einer von Nisos Brüdern
gelegentlich im Wald zur Jagd unterwegs ist, und natürlich ein großer, langer
Stapel Feuerholz für den Winter.
In der Wohnstube halte ich es meist nicht lange
aus, denn dort regiert von morgens bis abends der Fernseher. Trotz
verschiedener Manipulationen meiner Frau – mal verdreht sie die Antenne, mal
schneidet sie ein paar Drähte im Inneren durch, mal versteckt sie die
Fernbedienung – ist der Flimmerkasten spätestens nach einem Tag immer wieder
einsatzbereit, um seine überlebenswichtige Funktion zu erfüllen. Ich setze mich
beim Essen mit dem Rücken zum Fernseher, der Schwiegervater mir gegenüber: und
tatsächlich beugt er sich schräg zur Seite, um an mir vorbei in die Mattscheibe
zu schauen. Ist die Fernbedienung gerade unbegreiflicherweise verschwunden,
weshalb die ebenso unbegreiflicherweise gedämpfte Lautstärke nicht erhöht werden
kann, stellt er sein Smartphone vor sich auf den Tisch, und ich betrachte ihn,
wie er ein Youtube-Video betrachtet. Da gehe ich doch lieber in den Hof und
bewerfe die vor Vergnügen quietschende Maja mit den stacheligen Früchten der
Wilden Gurke, die vor der Terrasse rankt. Nichts persönlich gegen mich, aber es
gibt nun einmal nicht die Tradition des gemeinsamen Gesprächs beim Essen.
Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass mich
Nikolai, wie mein Schwiegervater sich hier in Russland nennt – sein eigentlicher
tadschikischer Name ist Chairiddin – inzwischen als Mitglied der Familie
akzeptiert. Niso meinte einmal zu mir, er ist inzwischen zu dem Schluss
gekommen, dass das Glück seiner Tochter und Enkelin wichtiger ist als die
Religion des Schwiegersohnes, der nun einmal kein Moslem ist und auch keiner zu
werden gedenkt. Manchmal unterhalten wir uns auch: Nikolai, ein braungebrannter
Mann mit zerfurchtem Gesicht, schneidet draußen auf der Bank vor dem Sommerhaus
die von mir aus der Stadt mitgebrachte Wassermelone an und fragt mich, was
dieses oder jenes auf Deutsch heißt oder erzählt von seiner Arbeit. Er kümmert
sich um die Melktechnik auf der Farm oder treibt zu Pferde die Kühe aus dem
Dorf morgens auf die Weide und abends wieder in die Gehöfte zurück. Weil er
nicht trinkt und alles Mögliche reparieren kann, wird seine Arbeitskraft
geschätzt und er hat nach viermonatiger Abwesenheit im vorigen Jahr, nach dem
gescheiterten Versuch einer Rückübersiedlung in seine Heimat Tadschikistan,
sofort wieder Anstellung gefunden. Im Oktober steht sein sechzigster Geburtstag
an.
Auf der letzten Fahrt nach Jelan nimmt Niso eine
Rolle abwaschbare Tapete mit: die Küche soll renoviert werden und die Mutter
braucht Hilfe, da der Vater aus Prinzip keine häuslichen Arbeiten verrichtet.
Mit uns im Auto sitzt mein Bekannter Maxim, der nach zwei Jahren Gesangsstudium
in Deutschland wieder in Ulan-Ude ist. Auf dem Rückweg am gleichen Tag – ohne
Niso und Maja, die ich später abholen werde – bittet er mich darum, auch einmal
fahren zu dürfen. Ich erfülle seinen Wunsch gern, schließlich hatte ich in
Deutschland auch nie ein eigenes Auto und nur deshalb Fahrsicherheit erlangt,
weil mir hin und wieder Freunde das Steuer überließen.
Wir sind auf der etwas längeren, aber
asphaltärmeren Strecke unterwegs. Zunächst umgeben uns Felder und Nadelwald, bevor
sich die weite, menschenleere, hügelige Steppe auftut. Maxim, ein großer
Burjate mit mächtiger Bassstimme, möchte nicht wieder nach Deutschland zurück,
es gefalle ihm dort nicht, sagt er undeutlich, und ich vermute, dass er mit der
Mentalität nicht warmgeworden ist, mit der sich von Russland unterscheidenden
Art und Weise, wie Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden und wie das
Arbeitsleben strukturiert ist. Der Kommunistischen Partei Russlands möchte er
beitreten und sich ein Gewehr kaufen, zur Selbstverteidigung, wie überhaupt ihn
alles fasziniert, was mit Armee und Waffen zu tun hat, obwohl – oder weil – er selbst
ausgemustert worden war.
Die Sonne scheint. Wie auf dieser Strecke üblich,
sind wir fast die einzigen; selten gibt es Gegenverkehr, überholen wir einen
LKW oder zischt ein Toyota an uns vorbei. In einer nicht steilen Linkskurve vor
uns nähern wir uns zwei stehenden Gradern, große, dreiachsige Fahrzeuge, die
mit ihren seitlich und frontal angebrachten Pflugschilden die Geröllpiste
glatthobeln. Rechts neben ihnen ist ein schmales Stück der Straße frei, breit
genug für ein Fahrzeug. Aus irgendeinem Grund schätzt Maxim Geschwindigkeit und
die Abmessungen unseres Autos falsch ein. Wir fliegen aus der Kurve ins hohe
Gestrüpp, neigen uns kurz in steile Schräglage, richten uns wieder auf und
rauschen durch die Vegetation. Drei Sekunden lang klatschen kräftige
Weidenzweige von allen Seiten gegen Karosserie und Scheiben, dann bringt uns
ihr Widerstand zum Stehen, einen Meter unterhalb und einige Wagenlängen rechts
von der Straße.
„Bljat`“, sage ich, als wir durch die Büsche
prasseln. Wahrscheinlich das erste Mal im Leben, dass ich laut und aus ganzer
Seele auf Russisch fluche. Der Begriff ist im Deutschen nicht mit einem Wort
wiederzugeben. Es bedeutet etwa „dreimal verfluchte verdammte Scheiße“.
Um uns das
Gestrüpp, links oberhalb die Straße. Wir stehen.
„Bljat`“,
wiederhole ich noch einmal laut und deutlich.
„Verzeihung,
Thomas!“
„Musste das sein?“
Überraschenderweise läuft sogar der Motor noch.
Maxim schaltet aus, wir verlassen unversehrt das Fahrzeug.
Jenseits der Böschung kommen uns die beiden
Grader-Fahrer entgegen.
„Ihr seid wirklich im Hemd geboren“, meint einer.
Das ist ein russisches Sprichwort und bedeutet so viel wie „von Glück begleitet
werden“.
„Mein Freund hat den Führerschein, aber wenig
Fahrerfahrung“, erläutere ich.
„Auto und Frau vertrau niemandem an“, sagt der
andere. Auf Russisch klingt das irgendwie gut, weil es sich reimt.
Sofort beratschlagen die beiden Männer, wie man
unseren Geländewagen auf die Straße zurückholen könnte. Schließlich hackt der
eine mit der Axt aus meinem Kofferraum die dicksten Äste rings um das Fahrzeug
weg, während der andere in seinen Grader steigt und die Büsche am Wegrand
komplett abrasiert. Dem mit der Axt gelingt es, das Auto durch Hin- und
Herrangieren senkrecht zur Straße zu stellen. Mit dem Abschleppseil zieht sein
Kollege den zwei Tonnen schweren Lada Niva anschließend hoch. Ein Kleinbus aus
Ulan-Ude mit geduldig und neugierig aus dem Fenster schauenden Passagieren
wartet, bis die Aktion beendet und die Straße frei ist.
Maxim drückt den Jungs tausend Rubel in die Hand.
Ich binde den wieder einmal unten hängenden Auspuff hoch und klemme das
abgefallene zerbeulte vordere Nummernschild von innen hinter die Frontscheibe.
Ohne weitere Zwischenfälle erreichen wir die Stadt.
„Wir hatten wirklich Glück im Unglück“, sage ich,
„nicht einmal den Abschleppwagen mussten wir rufen!“
„Das wäre auch gar nicht möglich gewesen.“ Maxim
kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Es gab dort keinen Handyempfang.“
Heute fahre ich schon wieder nach Jelan. Frau und
Tochter müssen zurück in die Stadt, bevor am ersten September der Ernst des
Lebens beginnt mit Schule, Musikschule (für Maja), Fahrschule, Deutsch lernen,
Gitarreunterricht (für Niso) und Schwimmen lernen (für beide). Mir reicht es
dann auch mit dem stundenlangen Sitzen am Steuer. Schließlich bin ich nicht
Kraftfahrer, sondern Deutschlehrer. Als solcher habe ich hier jeden Tag zwölf
Minuten Weg zur Arbeit. Und zwar zu Fuß.
Plov-Zubereitung über offenem Feuer (oben) und Schneiden der Zutaten (unten) |
Neben einem traditionellen, noch mit echtem Feuer beheiztem Samowar auf dem Dorffest |
Niso mit ihrer Mutter Katja |
Beim Anheizen des Ofens im Sommerhaus |
Hilfsbereite Jungs ziehen mit ihrem Grader unseren Lada Niva zurück auf die Straße |