Samstag, 31. August 2019

Jelan


Das Dorf Jelan, wo meine Frau nach der Übersiedlung aus Tadschikistan gewohnt und ihre letzten vier Schuljahre verbracht hat, liegt etwa zweihundert Wegekilometer südlich von Ulan-Ude. Genauer gesagt sind es zweihundertzwanzig auf der schlechter beschaffenen Strecke ohne Tankmöglichkeit oder hundertneunzig auf der deutlich besser asphaltierten mit einer Tankstelle zwischendurch, bei der allerdings auf einem unbefestigten Abschnitt ein steiler Pass überwunden werden muss, weshalb ich mich meistens für die etwas längere Strecke entscheide. Mit einer kleinen Pause zwischendurch dauert die Reise dreieinhalb Stunden. In den letzten Wochen bin ich ungewöhnlich oft nach Jelan und zurück gefahren, um Niso und Maja zu meinen Schwiegereltern zu bringen oder sie abzuholen. „Ich komme mir vor wie ein Berufskraftfahrer“, sage ich scherzend und löffle Schafsfleischsuppe auf ihrer Terrasse vor dem Sommerhaus im Innenhof, „immer die gleich Strecke hin und her, und am Zielort kostenlose Verpflegung!“ Täglich fährt auch ein Kleinbus von Ulan-Ude nach Jelan, der deutlich schneller rast als ich, aber der kleinen Maja bekommt das Durchgeschütteltwerden nicht gut, ihr wird schlecht und sie verlangt nach Toilettenstopps, weshalb ich lieber die Rolle des Berufskraftfahrers übernehme. Für meine Familie mache ich das doch gerne.
An einem Tag erregen zwei offensichtliche Fahrradspuren im sandigen Untergrund meine Aufmerksamkeit. Wenig später kommen wir an zwei bunt gekleideten Radlern vorbei, einer davon mit Anhänger, an dem eine französische Flagge weht, der andere mit einer liegeradähnlichen Konstruktion, vor ihm ein Kind sitzend, das auch in die Pedale tritt. Niso kurbelt das Beifahrerfenster herunter.
„Vielleicht habt ihr Lust auf eine Pause und wir plaudern ein bisschen“, rufe ich im Vorbeifahren auf Englisch.
„Warum nicht, wir sind ja hier, um Leute zu treffen!“
Das französische Paar hat sich ein Jahr Auszeit genommen und radelt nun gemeinsam mit dem zwei- und vierjährigen Nachwuchs um die Welt, jeden Tag dreißig Kilometer. Gerade sind sie unterwegs in die Mongolei, dann geht es weiter nach China. „Warum haben die bloß keine Angst?“, fragt meine Frau fassungslos. Aus der kleinen Siedlung neben der Straße kommt sofort eine Frau herbeigelaufen, filmt unser Treffen mit ihrem Smartphone und gesteht, dass sie noch nie Ausländern begegnet ist.
Jelan ist ein russisches Dorf, wie es unzählige ähnliche gibt: links und rechts von sandigen Straßen reihen sich Grundstücke mit kleinen Häusern aus Rundbalken hinter hohen grauen Holzzäunen aneinander. Vor einigen ist ein kleines Blumengärtchen hinter einem niedrigen Lattenzaun. Etwa jedes vierte Haus ist verfallen, so auch ein freistehendes ehemaliges Kaufmannsgebäude im Zentrum. Man findet ein paar Geschäfte, das graue Ziegelgebäude der Schule, einen bunt bemalten Kindergarten und ein kleines Heizwerk für die letzteren beiden; ein Denkmal an die Opfer des Großen Vaterländischen Krieges, eine Kirche mit goldglänzendem Zwiebeltürmchen und gleich an der Einfahrt die Ruinen eines Stalls und Reste einer Mühle, in dem noch riesige runde Mühlsteine herumliegen. Neben den zwei unübersehbaren Handymasten gibt es die Postfiliale und eine kleine Bäckerei, in der eine Sorte Weißbrot gebacken wird. Die Einwohnerzahl liegt bei Tausend, Tendenz fallend. Nach Norden hin erstrecken sich offene Felder und Steppe, nach Süden eine Hügelkette, so dicht bewaldet, dass sich Niso mit ihrer Großmutter darin in der Kindheit fast einmal ernsthaft verlaufen hätte.
Neulich fand ein großes Dorffest statt: dreihundertdreißig Jahre Jelan! Eine Bühne wurde aufgestellt, davor Tische und Sitzbänke gezimmert, einen ganze Nachmittag gab es Musik und Gesang, festliche Ansprachen, in welchen der Zeiten gedacht wurde, als die Geschichte der Siedlung als Kosakenfestung ihren Anfang nahm, und natürlich reichlich Speise und Trank in Form von Wodka oder Tee. Nisos Vater hatte für das Fest zuhause im Hof über offenem Feuer riesige Mengen Plov zubereitet, in Öl gebratener Reis mit Fleisch und Gemüse. Jede der vier Dorfstraßen präsentierte ein eigenes Programm auf der Bühne, von denen dann eine Jury die besten auswählte und Preise vergab.
Im Winter sinkt die Temperatur hier bis auf minus vierzig Grad. Im kurzen warmen Sommer wird angebaut, was der Boden hergibt. Im Garten hinter dem Haus erntet Nisos Mutter Kartoffeln, Paprika, Bohnen, Möhren, Gurken, Zucchini, Kürbis, Rote Beete und Tomaten, die grün abgenommen werden und dann im Haus nachreifen. Einen halben Tag lang widme ich mich dem üppigen Unkraut, das in diesem ungewöhnlich verregneten Sommer reichlich wachsen konnte, und kämpfe gegen die Sibirische Hanfnessel, eine Brennnesselart mit gefiederten Blättern, die noch unangenehmer auf der Haut schmerzt als ihre mitteleuropäischen Verwandten.
Neben dem eigentlichen, mit blau leuchtenden Fensterläden verzierten Wohnhaus meiner Schwiegereltern gibt es noch ein kleineres Sommerhaus, so genannt, weil es nicht vollständig isoliert und der Raum im Winter trotz großem Ofen nicht richtig warmzuhalten ist. Neben dem Ofen in der Erde ist die Brunnenöffnung mit der das Trinkwasser fördernden elektrischen Pumpe. Schräg dahinter liegt das Banja-Gebäude zum Waschen, gegenüber dem Wohnhaus sind als Garage oder Lagerräume dienende Schuppen. Im Garten stehen zwei windschiefe Plumpsklos, außerdem ein armeegrünes UAS-Fahrzeug des Typs „Tabletka“ ohne Nummernschild, mit dem einer von Nisos Brüdern gelegentlich im Wald zur Jagd unterwegs ist, und natürlich ein großer, langer Stapel Feuerholz für den Winter.
In der Wohnstube halte ich es meist nicht lange aus, denn dort regiert von morgens bis abends der Fernseher. Trotz verschiedener Manipulationen meiner Frau – mal verdreht sie die Antenne, mal schneidet sie ein paar Drähte im Inneren durch, mal versteckt sie die Fernbedienung – ist der Flimmerkasten spätestens nach einem Tag immer wieder einsatzbereit, um seine überlebenswichtige Funktion zu erfüllen. Ich setze mich beim Essen mit dem Rücken zum Fernseher, der Schwiegervater mir gegenüber: und tatsächlich beugt er sich schräg zur Seite, um an mir vorbei in die Mattscheibe zu schauen. Ist die Fernbedienung gerade unbegreiflicherweise verschwunden, weshalb die ebenso unbegreiflicherweise gedämpfte Lautstärke nicht erhöht werden kann, stellt er sein Smartphone vor sich auf den Tisch, und ich betrachte ihn, wie er ein Youtube-Video betrachtet. Da gehe ich doch lieber in den Hof und bewerfe die vor Vergnügen quietschende Maja mit den stacheligen Früchten der Wilden Gurke, die vor der Terrasse rankt. Nichts persönlich gegen mich, aber es gibt nun einmal nicht die Tradition des gemeinsamen Gesprächs beim Essen.
Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass mich Nikolai, wie mein Schwiegervater sich hier in Russland nennt – sein eigentlicher tadschikischer Name ist Chairiddin – inzwischen als Mitglied der Familie akzeptiert. Niso meinte einmal zu mir, er ist inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass das Glück seiner Tochter und Enkelin wichtiger ist als die Religion des Schwiegersohnes, der nun einmal kein Moslem ist und auch keiner zu werden gedenkt. Manchmal unterhalten wir uns auch: Nikolai, ein braungebrannter Mann mit zerfurchtem Gesicht, schneidet draußen auf der Bank vor dem Sommerhaus die von mir aus der Stadt mitgebrachte Wassermelone an und fragt mich, was dieses oder jenes auf Deutsch heißt oder erzählt von seiner Arbeit. Er kümmert sich um die Melktechnik auf der Farm oder treibt zu Pferde die Kühe aus dem Dorf morgens auf die Weide und abends wieder in die Gehöfte zurück. Weil er nicht trinkt und alles Mögliche reparieren kann, wird seine Arbeitskraft geschätzt und er hat nach viermonatiger Abwesenheit im vorigen Jahr, nach dem gescheiterten Versuch einer Rückübersiedlung in seine Heimat Tadschikistan, sofort wieder Anstellung gefunden. Im Oktober steht sein sechzigster Geburtstag an.
Auf der letzten Fahrt nach Jelan nimmt Niso eine Rolle abwaschbare Tapete mit: die Küche soll renoviert werden und die Mutter braucht Hilfe, da der Vater aus Prinzip keine häuslichen Arbeiten verrichtet. Mit uns im Auto sitzt mein Bekannter Maxim, der nach zwei Jahren Gesangsstudium in Deutschland wieder in Ulan-Ude ist. Auf dem Rückweg am gleichen Tag – ohne Niso und Maja, die ich später abholen werde – bittet er mich darum, auch einmal fahren zu dürfen. Ich erfülle seinen Wunsch gern, schließlich hatte ich in Deutschland auch nie ein eigenes Auto und nur deshalb Fahrsicherheit erlangt, weil mir hin und wieder Freunde das Steuer überließen.
Wir sind auf der etwas längeren, aber asphaltärmeren Strecke unterwegs. Zunächst umgeben uns Felder und Nadelwald, bevor sich die weite, menschenleere, hügelige Steppe auftut. Maxim, ein großer Burjate mit mächtiger Bassstimme, möchte nicht wieder nach Deutschland zurück, es gefalle ihm dort nicht, sagt er undeutlich, und ich vermute, dass er mit der Mentalität nicht warmgeworden ist, mit der sich von Russland unterscheidenden Art und Weise, wie Beziehungen aufgebaut und gepflegt werden und wie das Arbeitsleben strukturiert ist. Der Kommunistischen Partei Russlands möchte er beitreten und sich ein Gewehr kaufen, zur Selbstverteidigung, wie überhaupt ihn alles fasziniert, was mit Armee und Waffen zu tun hat, obwohl – oder weil – er selbst ausgemustert worden war.
Die Sonne scheint. Wie auf dieser Strecke üblich, sind wir fast die einzigen; selten gibt es Gegenverkehr, überholen wir einen LKW oder zischt ein Toyota an uns vorbei. In einer nicht steilen Linkskurve vor uns nähern wir uns zwei stehenden Gradern, große, dreiachsige Fahrzeuge, die mit ihren seitlich und frontal angebrachten Pflugschilden die Geröllpiste glatthobeln. Rechts neben ihnen ist ein schmales Stück der Straße frei, breit genug für ein Fahrzeug. Aus irgendeinem Grund schätzt Maxim Geschwindigkeit und die Abmessungen unseres Autos falsch ein. Wir fliegen aus der Kurve ins hohe Gestrüpp, neigen uns kurz in steile Schräglage, richten uns wieder auf und rauschen durch die Vegetation. Drei Sekunden lang klatschen kräftige Weidenzweige von allen Seiten gegen Karosserie und Scheiben, dann bringt uns ihr Widerstand zum Stehen, einen Meter unterhalb und einige Wagenlängen rechts von der Straße. 
„Bljat`“, sage ich, als wir durch die Büsche prasseln. Wahrscheinlich das erste Mal im Leben, dass ich laut und aus ganzer Seele auf Russisch fluche. Der Begriff ist im Deutschen nicht mit einem Wort wiederzugeben. Es bedeutet etwa „dreimal verfluchte verdammte Scheiße“.
  Um uns das Gestrüpp, links oberhalb die Straße. Wir stehen.
 „Bljat`“, wiederhole ich noch einmal laut und deutlich.
 „Verzeihung, Thomas!“
„Musste das sein?“
Überraschenderweise läuft sogar der Motor noch. Maxim schaltet aus, wir verlassen unversehrt das Fahrzeug.
Jenseits der Böschung kommen uns die beiden Grader-Fahrer entgegen.
„Ihr seid wirklich im Hemd geboren“, meint einer. Das ist ein russisches Sprichwort und bedeutet so viel wie „von Glück begleitet werden“.
„Mein Freund hat den Führerschein, aber wenig Fahrerfahrung“, erläutere ich.
„Auto und Frau vertrau niemandem an“, sagt der andere. Auf Russisch klingt das irgendwie gut, weil es sich reimt.
Sofort beratschlagen die beiden Männer, wie man unseren Geländewagen auf die Straße zurückholen könnte. Schließlich hackt der eine mit der Axt aus meinem Kofferraum die dicksten Äste rings um das Fahrzeug weg, während der andere in seinen Grader steigt und die Büsche am Wegrand komplett abrasiert. Dem mit der Axt gelingt es, das Auto durch Hin- und Herrangieren senkrecht zur Straße zu stellen. Mit dem Abschleppseil zieht sein Kollege den zwei Tonnen schweren Lada Niva anschließend hoch. Ein Kleinbus aus Ulan-Ude mit geduldig und neugierig aus dem Fenster schauenden Passagieren wartet, bis die Aktion beendet und die Straße frei ist.
Maxim drückt den Jungs tausend Rubel in die Hand. Ich binde den wieder einmal unten hängenden Auspuff hoch und klemme das abgefallene zerbeulte vordere Nummernschild von innen hinter die Frontscheibe. Ohne weitere Zwischenfälle erreichen wir die Stadt.
„Wir hatten wirklich Glück im Unglück“, sage ich, „nicht einmal den Abschleppwagen mussten wir rufen!“
„Das wäre auch gar nicht möglich gewesen.“ Maxim kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Es gab dort keinen Handyempfang.“
Heute fahre ich schon wieder nach Jelan. Frau und Tochter müssen zurück in die Stadt, bevor am ersten September der Ernst des Lebens beginnt mit Schule, Musikschule (für Maja), Fahrschule, Deutsch lernen, Gitarreunterricht (für Niso) und Schwimmen lernen (für beide). Mir reicht es dann auch mit dem stundenlangen Sitzen am Steuer. Schließlich bin ich nicht Kraftfahrer, sondern Deutschlehrer. Als solcher habe ich hier jeden Tag zwölf Minuten Weg zur Arbeit. Und zwar zu Fuß.

 
Melone essen im Garten
Plov-Zubereitung über offenem Feuer (oben) und Schneiden der Zutaten (unten)
Neben einem traditionellen, noch mit echtem Feuer beheiztem Samowar auf dem Dorffest
Niso mit ihrer Mutter Katja
Beim Anheizen des Ofens im Sommerhaus
Hilfsbereite Jungs ziehen mit ihrem Grader unseren Lada Niva zurück auf die Straße