Samstag, 24. August 2019

Vom Fluchen, Lieben und Arbeiten. Unterwegs im Bargusin-Tal



Bevor am ersten September der Arbeitsalltag beginnt, mein fünftes und letztes Unterrichtsjahr hier in Ulan-Ude, statte ich meinem Bekannten Sergej im Bargusin-Tal einen Besuch ab. Auf seinem Bauernhof, gelegen inmitten der weiten Grassteppe an einer Biegung eines der zahlreichen Nebenarme des Bargusin-Flusses, hat sich seit dem letzten Sommer einiges getan. Damals waren mein Vater und ich zu Gast und wussten nicht, wie wir die Nacht überstehen sollten, da im vollgerümpelten Gebäude unerträglicher, stickiger Modergeruch herrschte, uns draußen die Mücken zusetzten und mein Vater das Auto von unruhigen Kühen angegriffen wähnte. Nun kann man das Haus fast schon aufgeräumt nennen, durch regelmäßiges Heizen der drei großen gekalkten Öfen ist der Schimmelgeruch weitgehend verschwunden, und seinen Arbeiter, der im Verdacht stand, die Ziegen heimlich gegen Wodka eingetauscht zu haben und dann ihr Verschwinden mit umherstreifenden Wölfen begründete, hat Sergej inzwischen auch entlassen. Noch fehlt einiges an Arbeit, bis man die große Erholung im Bargusintal vermarkten und deutsche Touristen busweise zu ihm herankarren kann, wie es sich mein Bekannter wünscht, noch liegt das Gewächshaus in Trümmern, ist das Scheunentor herausgebrochen und hängt die Hälfte des Zaunes halb auf der Erde, aber es geht in die richtige Richtung. Sergej ist vierundsechzig und noch sehr agil. Einen Nachfolger gibt es nicht, zu den Kindern seiner zwei geschiedenen Frauen besteht kaum Kontakt, aber er schafft das auch allein. Als ich komme, ruht Sergej sich gerade mit ein paar Aushilfskräften von der Heumahd aus, ein seltener Anblick, gewöhnlich kann er keine zehn Minuten still sitzen.
Mit einem armeegrünen Kleinbus der Marke UAS vom Typ „Tabletka“, so genannt, weil die Erste Hilfe in Russland oft mit genau diesem Fahrzeugtyp unterwegs ist, brechen wir zur Heidelbeerernte in den Wald auf. Dabei hilft uns Mascha, mit der Sergej seit zehn Jahren zusammen ist und die ihren ersten Mann weggejagt hat, nachdem er zeitgleich mit dem Beginn seiner Arbeit bei der Polizei anfing zu trinken; sie rechnet ihm hoch an, dass er nach der Scheidung auf seinen Teil des gemeinsamen Hauses und Grundstücks verzichtete. Jetzt lebt er am anderen Ende Burjatiens zusammen mit einer Burjatin und säuft mit ihr gemeinsam. Außerdem im Kleinbus sitzen Galja und Sascha, die seit ein paar Monaten, seitdem sie auf Sergejs Bauernhof wohnen, nicht mehr trinken, weil es ringsum weit und breit kein Geschäft gibt; sie melken die acht Kühe, füttern Schwein und Ziege und bekommen dafür Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf. Von Mascha werde ich später erfahren, dass Galja zwei Kinder hat, die ihr wegen Verwahrlosung weggenommen und ins Heim gegeben wurden. Und schließlich fährt noch Viktor mit, Maschas Verwandter, der jünger als Sergej ist, aber älter aussieht; kürzlich hat er eine schwere Operation überstanden, bei dem ihm ein Großteil des Magens entfernt wurde, da er eines Morgens zum Ausnüchtern versehentlich ein paar Schlucke aus einer Flasche mit Autobatterie-Flüssigkeit zu sich nahm, in der Annahme, es sei Spiritus.
„Alkoholismus scheint ein Problem zu sein im Bargusin-Tal“, sage ich.
„Der einzige, der hier nicht trinkt, ist der Telegrafenmast“, antwortet Sergej.
Eine halbe Stunde dauert die Fahrt ins Dorf Tschitkan über holprige Feldwege, die ich besonders intensiv spüre, da ich mich in Ermangelung von Sitzen auf dem blanken Metall des Radkastens niedergelassen habe, und danach mit kreischendem Motor hinein in einen Wald, der immer dunkler und dichter wird,  bis irgendwann der Weg so mit jungen Birken zugewachsen ist, dass der Kleinbus auch mit Gewalt nicht weiter vorwärtszuquälen ist. Um zu den Beeren zu gelangen, schlagen wir uns durch das Unterholz bis zu einer sumpfigen, lichten Niederung. Ich verliere nach wenigen Metern völlig die Orientierung und verlasse mich auf meine selbstsicher vorwärts strebenden Begleiter. Die korpulente Mascha kommt nicht so schnell hinterher und bleibt hinter uns zurück. Sergej schimpft, sie solle verdammt nochmal ihre Beine in die Hand nehmen. Mascha schimpft zurück, er solle doch warten, zum Teufel nochmal, woraufhin er mit doppeltem Nachdruck flucht, sie solle die Klappe halten und einfach laufen; irgendwann nach langem Wortgefecht ist Mascha weit hinter uns im Wald und den Tränen nahe. Nach einer Weile hört man nichts mehr. Alle pflücken eifrig Blaubeeren, mit der Hand oder einem Blaubeerkamm. Ich sinne fassungslos dem gerade gehörten Schwall an Mat-Ausdrücken nach, derbste russische Flüche, undenkbar, dass ich auch nur eines dieser Wörter zu meiner Frau sage.
Drei Stunden später habe ich Hunger und keine Lust mehr. „Zu viele Blaubeeren sind schädlich“, versuche ich es mit Humor. Es zeigt sich, dass alle außer Sergej auch ermüdet sind; nach einigem Drängen gibt er nach, wir gehen wohl einen Kilometer durch die Wildnis in eine mir unbegreifliche Richtung und stehen plötzlich wieder am Fahrzeug.
Zuhause angekommen, schlägt Mascha vor, für mich und meine Familie ein paar Gläser Marmelade zu machen, und bittet mich, dafür Zucker zu kaufen, zwölf Kilogramm. Ob es auch etwas weniger süß gehe, wende ich vorsichtig ein. Aber dann wird sie doch schnell schlecht, meint die Hausherrin. Gehorsam mache ich mich auf den Weg in den Supermarkt und bringe gleich noch Brot, Kekse und Schokolade mit. Die Preise sind denen in Deutschland vergleichbar. Fleisch, Milch, Obst, Gemüse und Heu produzieren die beiden selbst und verkaufen gelegentlich auch noch davon: ein geschlachtetes Schwein bringt umgerechnet 500, einer der riesigen, mehrere Tonnen schweren Heuhaufen 1000 Euro.  Das ermöglicht es ihnen, von monatlich 130 € zu überleben, das ist die Hälfte ihrer gemeinsamen Rente. Etwa ebensoviel wird für die Tilgung von Bankschulden gleich abgezogen, noch von vor zehn Jahren, als Sergejs landwirtschaftlicher Großbetrieb bankrott ging.
Abends sitzen wir einträchtig zusammen und reinigen auf Backblechen mit Pinseln die Blaubeeren von Blättern und groben Stielen. Ich glaube nicht, dass die beiden unter sich den Vorfall im Wald noch einmal thematisiert haben. Die alltägliche Emotions-Bandbreite des russischen Menschen ist sehr groß. „Ich liebe meinen Serjozha“, sagt Mascha, ihren Mann bei seinem Kosenamen nennend. „Er ist immer aktiv und trinkt nie viel. Gestern Abend ein halbes Tetrapack Wein, und die andere Hälfte hat er aufgehoben für heute!“
 Eigentlich schade um die schönen Beeren, denke ich, als der für mich vorgesehene halbe Eimer nach und nach in den zwölf Kilo Zucker verschwindet, pur wäre ihr Verzehr bestimmt ganz gesund.
Am nächsten Tag mache ich mich auf, um die Thermalquelle Alla am Nordende des Tals zu besuchen. In der Siedlung Uljun halte ich an, um die malerischen Zweitausender des Bargusin-Gebirges zu fotografieren und eines der zahlreichen großen Schilder, die das Betreten des Waldes aus Gründen der Waldbrandgefahr strengstens verbieten, Strafen von mehreren tausend Rubeln und „24 Stunden Kameraüberwachung“ androhen, völliger Unsinn natürlich, wie überhaupt dieses Gesetz wohl eines derjenigen ist, an die sich ganz offensichtlich niemand hält: wo kommen wohl die vielen Preisel- und Heidelbeeren auf den Märkten her? Bestimmt nicht aus dem Garten. Als ich wieder in meinen Lada Niva steigen möchte, entdecke ich das hinten herunterbaumelnde Kabel mit der für den Anhänger vorgesehenen Steckdose und das lose herabhängende Auspuffrohr. Die sandige, mitunter regelrecht waschbrettartige Holperpiste hat wohl ihren Tribut gefordert. Ein älterer Burjate, der gerade mit dem Fahrrad unterwegs ist, Wodkageruch verströmt, aber dem Auftreten nach nüchtern wirkt, bietet freundlich seine Hilfe an. Flugs ist das Steckdosenkabel gekappt und am Straßenrand ein Stück Draht gefunden, so dass wir den Auspuff festbinden können.
Einige Stunden später atme ich frische Bergluft an einem steilen, aus porösem Granitgestein bestehenden Felshang und schaue über eine bewaldete Schlucht, durch die sich der flache, schnelle Fluss Alla als schmales Band dahinschlängelt. Neben mir sind orange und hellgrüne Flechten, die sich mit schwarzen, abgestorbenen Flechtteppichen abwechseln, dunkelgrüne und grau-vertrocknete Moose, einige kleine Schachtelhälmchen und lila-gelbe Alpenastern. Hinter mir ragen unbegehbare, steile Zacken auf. Selten brummt eine Fliege vorbei, hin und wieder ist ein Vogellaut zu hören, in einiger Entfernung ratscht eine Grille, all dies wird übertönt vom Rauschen des Flusses ein paar hundert Meter weiter unten. Der gegenüberliegende Hang ist mit dunkelgrünen Kiefern bedeckt, an den steilsten Stellen tritt auch dort der blanke Fels hervor. An einer Stelle läuft das Gestein von beiden Seiten zu einem Einschnitt zusammen, in dessen Mitte wie ein silbriger Faden ein Wasserfall herabfällt. Der Grat, in welchem der Hang nach oben hin endet, fällt nach links unten hin ab und gibt den Blick frei zum Ende der Schlucht und in das dahinterliegende breite Bargusintal, auf dessen hier bewaldete Ebene einzelne Wolken dunkle Schatten werfen; dahinter schimmern in der Abendsonne die sanft gewölbten Hügel des Ikatski-Bergrückens. Nach rechts hin schwingt sich der Grat zu den schmalen, zackigen Gipfeln des Bargusin-Gebirges auf, mit der Entfernung verwandelt sich das Grün der Vegetation in blasses Blaugrün und Blaugrau. Irgendwo dahinter, zwei oder drei Tagesmärsche entfernt, liegt der Baikalsee.
Abends nehme ich ein Bad in der nahen Thermalquelle am Flussufer. In eine bröckelige, rissige, oben offene Betonruine wurde offenbar nachträglich eine Art Saunahäuschen aus Rundbalken eingebaut, wo sich das Becken mit dem aus der Tiefe aufsteigenden, heißen und nach Schwefel riechenden heilenden Wasser befindet. Wie es der buddhistische Brauch verlangt, sind in die Sträucher daneben leuchtend farbige Tücher geknotet; auf Steinen oder dem Geländer der zur Quelle hinabführenden Holztreppe liegen Münzen, Konfekt oder Zigaretten als Opfergabe. Die Nacht verbringe ich im Zelt, am Morgen steige ich wieder ins Thermalbecken. An einigen großen, runden Ufersteinen im Freien, an denen ebenfalls heißes Wasser austritt, ist mit blauer Farbe die Heilwirkung vermerkt, „für die Leber“ oder „für die Augen“ steht dort geschrieben.
Auf dem Rückweg nach Bargusin verlasse ich die längs des Bergrückens entlangführende Straße und steuere das winzige Dorf Garga an. Einen sonnengebräunten Burjaten mit nacktem Oberkörper frage ich nach der Garginski-Thermalquelle, die es hier in der Nähe am Fluss geben soll.
„Ein Deutscher, ich glaub es nicht“, lallt der stark angetrunkene Mann, umfasst torkelnd meinen Oberkörper und holt sein Smartphone für ein Foto hervor. Dann schaut er mitleidig auf meinen Geländewagen.
„Mit so einem Auto kommst du da nie an. Da führt keine Straße mehr hin und die Brücke ist auch kaputt. Vierzig Kilometer sind das, es geht nur mit dem Traktor. Ich ruf gleich mal meine Kumpels an, die bringen dich hin!“
Ich vertröstete den hilfsbereiten Burjaten auf das nächste Mal und verabschiedete mich.
Noch einmal fahre ich bei Sergej und Mascha in Bargusin vorbei, um dort die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Ulan-Ude zu verbringen und die inzwischen fertige Marmelade abzuholen. Sergej freut sich über mein Geschenk aus Deutschland, eine Schnittschutz-Jacke zum Arbeiten mit der Motorsäge, leuchtend orange mit schwarzem Markenaufdruck „STIHL“, sicher ist er damit der einzige im ganzen Tal und wird nun ein bisschen angeben. Auf meine Bitte hin schaut er sich meinen Lada aufmerksam unter der Motorhaube und von unten an, schraubt hier und da etwas fest, bindet herumschlackernde Elemente an ihren Platz zurück und befestigt das Auspuffrohr etwas zuverlässiger, als der freundliche Burjate mit dem Fahrrad es unterwegs getan hatte. Bei allem, was mit Metall zu tun hat, erlebe ich Sergej als virtuosen Könner und Improvisator.
Zum Ausklang des Abends bastelt sich mein Bekannter eine Zigarette aus Tabak zum Selbstdrehen, auch ein Mitbringsel von mir; mit den zarten weißen Papers dazu kann er nichts anfangen und greift nach Zeitungspapier, von dem er geübt einen Streifen abreißt und einrollt. Am Ende wird ein Stück als Filter zusammengedrückt und seitlich abgeknickt, „Ziegenfuß“ heißt so eine Zigarette im Volksmund. Wir sitzen im Innenhof neben dem Haus, Sergej sinniert über seine Arbeit als Dreher, die er in der Werkzeugefabrik der Stadt mit großer Kunstfertigkeit ausgeübt und dafür eine Urkunde „Bester Arbeiter Burjatiens in seinem Beruf“ bekommen hatte, noch zu Sowjetzeiten. Bücher und Lesen haben ihn nie interessiert, sagt er und reicht mir das Smartphone seiner Frau, um sich zeigen zu lassen, wo man drücken muss, damit das Internet erscheint.
Der Sternenhimmel erscheint über uns. Sergej wirft seine Kippe in eine große Metalltonne. „Das ist mein Aschenbecher“, sagt er und lacht, „wenn der voll ist, dann ist mein Leben zu Ende!“

Am nächsten Morgen breche ich zeitig auf Richtung Süden. Entlang der fünfzig Kilometer zwischen Bargusin und Ust-Bargusin sind weite Schneisen in den Wald gerodet, irgendwann wird es hier eine breite, gerade Straße und Asphalt geben, vielleicht in zehn Jahren, wenn man das Tempo zugrunde legt, mit dem hier gewöhnlich gebaut wird. In Ust-Bargusin schaue ich für ein kurzes Gespräch bei Alexander Beketov vorbei. Der ehemalige Nationalpark-Ranger soll mir helfen, eine Winterhütte am Ufer des Baikalsees zu finden, für meinen Freund Simon, der dort im nächsten Februar zwei Wochen echtes Alleinsein erleben möchte. Der Franzose Sylvain Tesson probierte genau das ein halbes Jahr lang aus und schrieb darüber ein berühmtes Buch; der Deutsche Werner Beck lebte ein Jahr lang in einer eigens am Ufer aufgestellten Jurte und schrieb darüber ein wohl weniger berühmtes Buch. Nun ist also Simon an der Reihe, auch wenn sich zwei Wochen natürlich vergleichsweise bescheiden ausnehmen. Dreißigtausend Rubel wäre er zu zahlen bereit, inklusive Hinbringen und Abholen mit dem Auto über den gefrorenen See.
Beketov begrüßt mich mit Zurückhaltung, kommt sofort zur Sache und spricht wie jemand, der den Umgang mit Reisenden aus dem Westen gewohnt ist, ihre Wünsche und finanziellen Möglichkeiten kennt und Berufliches und Privates strikt trennen kann. „Solche Anfragen kommen öfters von Deutschen oder Franzosen“, sagt er zu meiner Verwunderung, hatte ich doch mein Anliegen für ein ganz außergewöhnliches gehalten. „Aber ich muss sie alle ablehnen. Die wirklich einsamen Stellen der Küste sind alle im Schutzgebiet, da bekommt niemand eine Genehmigung und es stehen keine Winterhütten mehr. Und dort, wo vom Nationalpark unterhaltene Unterkünfte sind, drängen sich im Winter die Touristen und es gibt alles andere als Einsamkeit. Gerade Deutsche. Dutzende! Und dreißigtausend kostet allein der Transport, also zwei Tage Auto mit Fahrer.“
Am Baikalufer sähe es schlecht aus, aber ansonsten könne er weiterhelfen, mit einer Hütte in wunderschöner Lage, sogar Strom gäbe es, aber ansonsten – echte Abgeschiedenheit. Im Bargusintal, in der Nähe von Uljun. Bergkulisse, Taigawald und Steppenaussicht! Da bin ich gerade vorbeigefahren, antworte ich, tatsächlich eine malerische Gegend, ich werde es meinem Freund vorschlagen.

Beim Heumachen
Sergejs Landgut, vom Heuhaufen aus fotografiert
Sergej und Mascha in ihrem Haus in Bargusin
Imbiss im Wald nach der Heidelbeerernte
"Betreten des Waldes verboten" - Schild in Uljun
Hier geht es zur Thermalquelle Alla
An den Steinen am Flussufer tritt heißes Wasser aus den Tiefen der Erde. In der Hütte ist ein Becken, in dem man in dem heilenden Thermalwasser ein Bad nehmen kann
Auf dem Teller werden nach burjatischem Brauch Opfergaben für die örtlichen Geister abgelegt
Ein Bauernhof vor der Kulisse des Bargusin-Bergrückens. Der Baikalsee liegt dahinter