An einem sonnigen Freitag fuhren wir für ein
verlängertes Wochenende zum Familienurlaub an den Baikalsee, auf die Halbinsel
Heilige Nase. Im Auto saßen neben meiner Frau Niso und unserer Tochter Maja noch
Nastja und Lena, die Schwester und die Freundin Nisos. Die optimale
Reisegeschwindigkeit mit meinem Lada Niva beträgt neunzig Stundenkilometer. Bei
höherer Geschwindigkeit wird der Motor derartig laut und das ganze Fahrzeug
beginnt zu vibrieren, so dass man den Eindruck hat, dem Auto Gewalt anzutun.
Der von Ulan-Ude nach Norden führende Bargusin-Trakt ist hervorragend
asphaltiert, bis auf einen Abschnitt von etwa zwanzig Kilometern, an dem seit
Jahren gebaut wird.
Am Nachmittag erreichten wir unser Ziel, den Sabajkalskij Natsionalnyj Park,
errichteten dort an der Einfahrt den Eintritt von hundert Rubeln pro Person und
Tag und steuerten einen kilometerlangen, sich hinter nadelgehölzbewachsenen
Dünen befindlichen Sandstrand an. Auf dem Mjákaja
Kargá genannten Campinggelände schlugen wir wenige Meter vom Ufer entfernt
unsere zwei Zelte auf. Vor uns lagen die freundlichen, stillen und glasklaren
Wasser des Baikal, rechter Hand die Bergrücken der Heiligen Nase. Die Frauen
sprangen ins Wasser, ich hackte mit der Axt herumliegende Latten zu Brennholz.
Am Abend, nachdem das Feuer entzündet und das
Wasser im Topf erhitzt war, saßen wir einträchtig auf den Bänken am überdachten
Holztisch, mit dem jedes der durchnummerierten Campinggrundstücke ausgestattet
ist, und schlürften Nudeln mit Tomatensoße. Ein wenig trübten die vielen
Kriebelmücken das Vergnügen, die sich auch durch den Rauch des Feuers und ein
Anti-Mücken-Spray nicht abschrecken ließen.
Um einundzwanzig Uhr lagen wir in unseren Zelten.
Ich las Maja das traditionelle Gute-Nacht-Märchen vor. Es herrschte wunderbare Stille,
nur gelegentlich unterbrochen von den Rufen angetrunkener Nachbarn oder
dröhnenden Bässen aus dem einen oder anderen Auto.
Am nächsten Morgen brach ich mit Nastja und Lena zu
einer Besteigung des Hochplateaus der Heiligen Nase auf, das sich anderthalb
Kilometer über dem Wasserspiegel befindet. Nastja ist zwanzig Jahre alt,
Studentin und überhaupt das zweite Mal im Leben am Baikalsee. Beide waren noch
nie auf einem Berg. Unsere Wanderung führte entlang eines gut sichtbaren,
touristischen Pfades zunächst durch dichten Taigawald, dann durch lichten
Hangwald mit von einem Unterholzbrand schwarz verkohlten Stämmen, dann über
einen Geröllgrat oberhalb der Baumgrenze. Die Sonne schien vom blauen Himmel.
Beim Aufstieg fanden wir Himbeeren und Preiselbeeren und tranken je einen Liter
des vorsorglich mitgebrachten Wassers, denn abgesehen von einem Bächlein ganz
unten im Wald gab es unterwegs keine Quellen mehr.
Gegen zwei Uhr waren wir am Ziel. Vom Plateau aus
hat man Aussicht über die Bargusin- und die Tschivirkuj-Bucht und die
dazwischenliegende flache Landenge mit dem großen flachen Arangatuj-See, welche
die Halbinsel mit dem Festland verbindet und an deren Ufer wie eine helle schmale
Sichel der kilometerlange Sandstrand aufleuchtet.
Um sieben Uhr Abends, erschöpft und mit vom Abstieg
watteweichen Knien, kamen wir wieder an unserem Zeltplatz an, sprangen kurz in
den kühlen See und aßen von Niso zubereiteten Buchweizen mit Büchsenfleisch.
Am Sonntag unternahm ich die gleiche Wanderung noch
einmal, diesmal mit meiner Frau, während Lena und Nastja mit dem Kind am Ufer
blieben. Niso, die mitunter Bären fürchtet, freute sich, dass wir nicht ganz
allein unterwegs waren und noch auf andere Touristen trafen. Freundlich
begleiteten uns in der ersten Stunde ein herrenloser Schäferhund und später die
Strahlen der sibirischen Mittagssonne. Wir hatten sogar noch etwas Zeit, oben
auf dem Plateau zu spazieren und konnten einen Blick auf die sich im Nebeldunst
der Ferne abzeichnenden Ushkani-Inseln werfen, wo sich die meisten der berühmten
Baikalrobben aufhalten.
Um achtzehn Uhr waren wir schon wieder an den
Zelten. Inzwischen war der Himmel bedeckt, gelegentlich nieselte es leicht. Da
wegen der Mücken der Aufenthalt im Freien wenig Freude bereitete, zogen wir uns
schon bald nach dem abendlichen Baden und Essen in die Zelte zurück, meine Frau
und ich erschöpft von der Wanderung, Maja müde vom Sandburgen bauen und angeln
mit den Nachbarskindern.
Etwa um zwanzig Uhr beendete ich das Vorlesen des
Abendmärchens und wir vertrieben uns die Zeit in der Dämmerung mit dem Aufsagen
von Puschkin-Gedichten aus dem Gedächtnis.
Gegen zwanzig Uhr zehn bat mich Niso darum, den
Zelteingang zu schließen, durch den plötzlich ein kaltes Lüftchen hereinwehte.
Gegen zwanzig Uhr fünfzehn holte ich unsere Schuhe
von draußen ins Vorzelt, da es plötzlich kräftig zu regnen begann.
Drei Minuten später rissen Windböen unser
inzwischen klatschnasses Außenzelt aus der Verankerung und drückten es gegen
das Innenzelt. Aufrecht sitzend lauschten wir dem anschwellenden Gewitter.
Wände und Boden begannen nass zu werden. Der Wind wuchs zum Sturm an, der mit
unglaublicher Gewalt am Gestänge riss. Während Niso und Maja ins Nachbarzelt
flüchteten, das besser standzuhalten schien, raffte ich in aller Eile die
Daunenschlafsäcke zusammen, überzeugte mich von der wasserdichten Verpackung
von Fotoapparat, Pass und Fahrzeugpapieren und stürzte hinterher.
Um einundzwanzig Uhr war das Inferno in vollem
Gange, aber das zweite unserer Zelte, in dem wir nun zu fünft saßen, war
trocken. Inzwischen war es dunkel. Durch das Trommeln des Regens und das
Klatschen der Baikalwellen an den Strand drang dumpfes Donnergrollen. Maja
schlief. Wir Erwachsenen lagen oder hockten, in unsicherer Erwartung dem Tosen
draußen lauschend und auf sein Abebben hoffend.
Wenig später wurde unser Zelt an zwei Ecken in die
Höhe gerissen und es klang, als ergieße sich ein Wasserfall gegen die Plane.
Die Stangen bogen sich über unseren Köpfen, Nässe drang herein. Nach kurzem
Zögern griff jeder nach seinem Rucksack mit den wichtigsten Dingen und ich
leuchtete mit der Taschenlampe durch Regen und peitschende Windböen in der
inzwischen stockdunklen Nacht den Fluchtweg ins Auto, wo wir die nächsten
Stunden sitzend, aber trocken verbrachten.
Am nächsten Morgen um fünf Uhr wurde es hell. Einen
Meter hohe Baikalwellen klatschten an den Strand. Das Unwetter hatte aufgehört,
die sich lichtenden Wolken versprachen einen sonnigen Tag. Mich durch schwarze
Kriebelmückenwolken kämpfend, klaubte ich durchweichte Decken, Kleidungsstücke,
Lebensmittel und die flach am Boden liegenden Zelte zusammen, warf alles in den
Kofferraum und fuhr mit meinen insektenzerstochenen und zu schlafen
versuchenden vier Begleiterinnen zurück in die Stadt.
Unsere Zelte vor dem Unwetter (oben) und danach (unten) |
Vom Gipfelplateau der Halbinsel Heilige Nase aus zeigt sich der kilometerlange Sandstrand als lange, schmale Sichel |
Durch den Dunst schimmern die Ushkani-Inseln, die Heimat der berühmten Baikalrobben |