Donnerstag, 15. August 2019

Familienurlaub am Baikalsee


An einem sonnigen Freitag fuhren wir für ein verlängertes Wochenende zum Familienurlaub an den Baikalsee, auf die Halbinsel Heilige Nase. Im Auto saßen neben meiner Frau Niso und unserer Tochter Maja noch Nastja und Lena, die Schwester und die Freundin Nisos. Die optimale Reisegeschwindigkeit mit meinem Lada Niva beträgt neunzig Stundenkilometer. Bei höherer Geschwindigkeit wird der Motor derartig laut und das ganze Fahrzeug beginnt zu vibrieren, so dass man den Eindruck hat, dem Auto Gewalt anzutun. Der von Ulan-Ude nach Norden führende Bargusin-Trakt ist hervorragend asphaltiert, bis auf einen Abschnitt von etwa zwanzig Kilometern, an dem seit Jahren gebaut wird.
Am Nachmittag erreichten wir unser Ziel, den Sabajkalskij Natsionalnyj Park, errichteten dort an der Einfahrt den Eintritt von hundert Rubeln pro Person und Tag und steuerten einen kilometerlangen, sich hinter nadelgehölzbewachsenen Dünen befindlichen Sandstrand an. Auf dem Mjákaja Kargá genannten Campinggelände schlugen wir wenige Meter vom Ufer entfernt unsere zwei Zelte auf. Vor uns lagen die freundlichen, stillen und glasklaren Wasser des Baikal, rechter Hand die Bergrücken der Heiligen Nase. Die Frauen sprangen ins Wasser, ich hackte mit der Axt herumliegende Latten zu Brennholz.
Am Abend, nachdem das Feuer entzündet und das Wasser im Topf erhitzt war, saßen wir einträchtig auf den Bänken am überdachten Holztisch, mit dem jedes der durchnummerierten Campinggrundstücke ausgestattet ist, und schlürften Nudeln mit Tomatensoße. Ein wenig trübten die vielen Kriebelmücken das Vergnügen, die sich auch durch den Rauch des Feuers und ein Anti-Mücken-Spray nicht abschrecken ließen.
Um einundzwanzig Uhr lagen wir in unseren Zelten. Ich las Maja das traditionelle Gute-Nacht-Märchen vor. Es herrschte wunderbare Stille, nur gelegentlich unterbrochen von den Rufen angetrunkener Nachbarn oder dröhnenden Bässen aus dem einen oder anderen Auto.
Am nächsten Morgen brach ich mit Nastja und Lena zu einer Besteigung des Hochplateaus der Heiligen Nase auf, das sich anderthalb Kilometer über dem Wasserspiegel befindet. Nastja ist zwanzig Jahre alt, Studentin und überhaupt das zweite Mal im Leben am Baikalsee. Beide waren noch nie auf einem Berg. Unsere Wanderung führte entlang eines gut sichtbaren, touristischen Pfades zunächst durch dichten Taigawald, dann durch lichten Hangwald mit von einem Unterholzbrand schwarz verkohlten Stämmen, dann über einen Geröllgrat oberhalb der Baumgrenze. Die Sonne schien vom blauen Himmel. Beim Aufstieg fanden wir Himbeeren und Preiselbeeren und tranken je einen Liter des vorsorglich mitgebrachten Wassers, denn abgesehen von einem Bächlein ganz unten im Wald gab es unterwegs keine Quellen mehr.
Gegen zwei Uhr waren wir am Ziel. Vom Plateau aus hat man Aussicht über die Bargusin- und die Tschivirkuj-Bucht und die dazwischenliegende flache Landenge mit dem großen flachen Arangatuj-See, welche die Halbinsel mit dem Festland verbindet und an deren Ufer wie eine helle schmale Sichel der kilometerlange Sandstrand aufleuchtet.
Um sieben Uhr Abends, erschöpft und mit vom Abstieg watteweichen Knien, kamen wir wieder an unserem Zeltplatz an, sprangen kurz in den kühlen See und aßen von Niso zubereiteten Buchweizen mit Büchsenfleisch.
Am Sonntag unternahm ich die gleiche Wanderung noch einmal, diesmal mit meiner Frau, während Lena und Nastja mit dem Kind am Ufer blieben. Niso, die mitunter Bären fürchtet, freute sich, dass wir nicht ganz allein unterwegs waren und noch auf andere Touristen trafen. Freundlich begleiteten uns in der ersten Stunde ein herrenloser Schäferhund und später die Strahlen der sibirischen Mittagssonne. Wir hatten sogar noch etwas Zeit, oben auf dem Plateau zu spazieren und konnten einen Blick auf die sich im Nebeldunst der Ferne abzeichnenden Ushkani-Inseln werfen, wo sich die meisten der berühmten Baikalrobben aufhalten.
Um achtzehn Uhr waren wir schon wieder an den Zelten. Inzwischen war der Himmel bedeckt, gelegentlich nieselte es leicht. Da wegen der Mücken der Aufenthalt im Freien wenig Freude bereitete, zogen wir uns schon bald nach dem abendlichen Baden und Essen in die Zelte zurück, meine Frau und ich erschöpft von der Wanderung, Maja müde vom Sandburgen bauen und angeln mit den Nachbarskindern.
Etwa um zwanzig Uhr beendete ich das Vorlesen des Abendmärchens und wir vertrieben uns die Zeit in der Dämmerung mit dem Aufsagen von Puschkin-Gedichten aus dem Gedächtnis.
Gegen zwanzig Uhr zehn bat mich Niso darum, den Zelteingang zu schließen, durch den plötzlich ein kaltes Lüftchen hereinwehte.
Gegen zwanzig Uhr fünfzehn holte ich unsere Schuhe von draußen ins Vorzelt, da es plötzlich kräftig zu regnen begann.
Drei Minuten später rissen Windböen unser inzwischen klatschnasses Außenzelt aus der Verankerung und drückten es gegen das Innenzelt. Aufrecht sitzend lauschten wir dem anschwellenden Gewitter. Wände und Boden begannen nass zu werden. Der Wind wuchs zum Sturm an, der mit unglaublicher Gewalt am Gestänge riss. Während Niso und Maja ins Nachbarzelt flüchteten, das besser standzuhalten schien, raffte ich in aller Eile die Daunenschlafsäcke zusammen, überzeugte mich von der wasserdichten Verpackung von Fotoapparat, Pass und Fahrzeugpapieren und stürzte hinterher.
Um einundzwanzig Uhr war das Inferno in vollem Gange, aber das zweite unserer Zelte, in dem wir nun zu fünft saßen, war trocken. Inzwischen war es dunkel. Durch das Trommeln des Regens und das Klatschen der Baikalwellen an den Strand drang dumpfes Donnergrollen. Maja schlief. Wir Erwachsenen lagen oder hockten, in unsicherer Erwartung dem Tosen draußen lauschend und auf sein Abebben hoffend.
Wenig später wurde unser Zelt an zwei Ecken in die Höhe gerissen und es klang, als ergieße sich ein Wasserfall gegen die Plane. Die Stangen bogen sich über unseren Köpfen, Nässe drang herein. Nach kurzem Zögern griff jeder nach seinem Rucksack mit den wichtigsten Dingen und ich leuchtete mit der Taschenlampe durch Regen und peitschende Windböen in der inzwischen stockdunklen Nacht den Fluchtweg ins Auto, wo wir die nächsten Stunden sitzend, aber trocken verbrachten.
Am nächsten Morgen um fünf Uhr wurde es hell. Einen Meter hohe Baikalwellen klatschten an den Strand. Das Unwetter hatte aufgehört, die sich lichtenden Wolken versprachen einen sonnigen Tag. Mich durch schwarze Kriebelmückenwolken kämpfend, klaubte ich durchweichte Decken, Kleidungsstücke, Lebensmittel und die flach am Boden liegenden Zelte zusammen, warf alles in den Kofferraum und fuhr mit meinen insektenzerstochenen und zu schlafen versuchenden vier Begleiterinnen zurück in die Stadt. 

Unsere Zelte vor dem Unwetter (oben) und danach (unten)
Vom Gipfelplateau der Halbinsel Heilige Nase aus zeigt sich der kilometerlange Sandstrand als lange, schmale Sichel
Durch den Dunst schimmern die Ushkani-Inseln, die Heimat der berühmten Baikalrobben