Mittwoch, 4. September 2019

Sergej Georgiewitsch

Letzte Woche rief ich Sergej Georgiewitsch Okladnikov an, um mich mit ihm für die Reparatur des Klavieres im Korridor unseres Institutes zu verabreden. Er hatte es schon gestimmt und die Mechanik repariert, nun musste noch ein Riss in der hölzernen Decke geschlossen werden, der bei jedem Anschlagen ein störendes Klirren verursacht.
Seine Tochter ging ans Telefon und sagte mir, dass Sergej Georgiewitsch vor drei Tagen gestorben sei, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt, ohne vorangegangene Krankheit.
Noch vor zwei Wochen war er hier in der Wohnung gewesen, um unser Primorje-Klavier zu stimmen, hatte wie üblich viel erzählt aus den fünfzig Jahren, die er im Opernorchester als Geiger verbracht hat; hatte genüsslich von bestimmten Aufführungen und Solisten geschwärmt und sich über die schlechte Qualität der Instrumente aus sowjetischer Produktion beschwert, über die Ungleichmäßigkeit, mit der die kleinen Hämmerchen und Holzelemente der Klaviermechanik gefertigt sind; hatte auf dem Balkon geraucht, den Kaffee diesmal abgelehnt und war gegangen: bis bald!
Auf meinen Wunsch hin nahmen mich die Verwandten am neunten Tag mit auf den Friedhof. Die Okladnikovs sind keine besonders religiöse Familie, trotzdem folgt man der Tradition der orthodoxen Kirche, die ein besonderes Gedenken an den Verstorbenen am dritten, neunten und vierzigsten Tag nach dem Tode verlangt. In Russland sind Erdbestattungen üblich, die Gräber sind von niedrigen Zäunen umgeben und mit Plastikblumen geschmückt, auf den Grabsteinen ist ein Foto des Toten, meist aus jungen Jahren. Ich legte zwei Nelken dazu: eine gerade Anzahl, wie es der Brauch vorschreibt. Der Meister wurde neben seiner schon vor längerem gestorbenen Frau, einer Pianistin, beigesetzt.
„Ihr Vater hat bestimmt ein sehr erfülltes Leben gehabt“, sagte ich zu Sergej Georgiewitschs Tochter, „und ich bin ihm dankbar, dass er es noch geschafft hat, mir ein wenig von seiner Klavierstimmerkunst zu erklären.“ Für den Abend lud sie mich in seine Wohnung ein, wo die Familie das traditionelle Totenmahl, die pomínki, veranstaltete. Auf dem kleinen Klavier neben der Speisetafel standen Fotos des Verstorbenen und seiner Frau, davor ein Blumenstrauß und darüber ein Glas Wodka mit einer Scheibe Brot darauf, zum Zeichen, dass er in den Herzen der Anwesenden dabei ist und am Mahl teilnimmt.
Mir gegenüber saßen fünf Mitglieder des Opernorchesters und klagten über den Verlust ihres ehemaligen Kollegen, der auch nach seinem Austritt aus dem Orchester noch verantwortlich war für das Stimmen aller zwei Dutzend Klaviere und Flügel im Opernhaus und Reparaturen an Streichinstrumenten durchführte. Sergej Georgiewitsch hatte wohl immer wieder darauf gedrängt, ihm einen Nachfolger zu suchen, an den er seinen Erfahrungs- und Wissensschatz weitergeben kann, jedoch vergebens. Ein neuer Klavierstimmer lässt sich vielleicht finden, sagten die Musiker, wenn auch sicher niemand mit richtiger Ausbildung, den man an den Steinway-Flügel lassen könnte – aber Ulan-Ude bleibt nun ohne Geigenbauer. Überhaupt, so erfuhr ich, seien die Zustände im Orchester jämmerlich: das Ensemble ist viel zu klein, die Arbeitsbedingungen sind aber so schlecht, dass niemand freiwillig herkommt.
Ich sehe den zweiundsiebzigjährigen, hageren, weißhaarigen Mann noch an unserem Klavier sitzen, wie er mit seinen leicht zitternden Händen feinste Korrekturen an der Mechanik vornimmt, damit klemmende Tasten wieder funktionieren, und beim Stimmen in unbegreiflicher Sekundenschnelle die Schwebungen der Intervalle wahrnimmt. Ein besonderer, ganz feiner Mensch. Manchmal sagen wir „bis bald“ und ahnen nicht, dass „bald“ nicht mehr in diesem Leben sein wird.


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