Letzte Woche rief ich Sergej Georgiewitsch Okladnikov an, um mich mit
ihm für die Reparatur des Klavieres im Korridor unseres Institutes zu
verabreden. Er hatte es schon gestimmt und die Mechanik repariert, nun musste
noch ein Riss in der hölzernen Decke geschlossen werden, der bei jedem
Anschlagen ein störendes Klirren verursacht.
Seine Tochter ging ans Telefon und sagte mir, dass Sergej Georgiewitsch
vor drei Tagen gestorben sei, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt, ohne
vorangegangene Krankheit.
Noch vor zwei Wochen war er hier in der Wohnung gewesen, um unser Primorje-Klavier zu stimmen, hatte wie
üblich viel erzählt aus den fünfzig Jahren, die er im Opernorchester als Geiger
verbracht hat; hatte genüsslich von bestimmten Aufführungen und Solisten
geschwärmt und sich über die schlechte Qualität der Instrumente aus
sowjetischer Produktion beschwert, über die Ungleichmäßigkeit, mit der die
kleinen Hämmerchen und Holzelemente der Klaviermechanik gefertigt sind; hatte
auf dem Balkon geraucht, den Kaffee diesmal abgelehnt und war gegangen: bis
bald!
Auf meinen Wunsch hin nahmen mich die Verwandten am neunten Tag mit auf
den Friedhof. Die Okladnikovs sind keine besonders religiöse Familie, trotzdem
folgt man der Tradition der orthodoxen Kirche, die ein besonderes Gedenken an
den Verstorbenen am dritten, neunten und vierzigsten Tag nach dem Tode
verlangt. In Russland sind Erdbestattungen üblich, die Gräber sind von
niedrigen Zäunen umgeben und mit Plastikblumen geschmückt, auf den Grabsteinen
ist ein Foto des Toten, meist aus jungen Jahren. Ich legte zwei Nelken dazu:
eine gerade Anzahl, wie es der Brauch vorschreibt. Der Meister wurde neben
seiner schon vor längerem gestorbenen Frau, einer Pianistin, beigesetzt.
„Ihr Vater hat bestimmt ein sehr erfülltes Leben gehabt“, sagte ich zu
Sergej Georgiewitschs Tochter, „und ich bin ihm dankbar, dass er es noch
geschafft hat, mir ein wenig von seiner Klavierstimmerkunst zu erklären.“ Für
den Abend lud sie mich in seine Wohnung ein, wo die Familie das traditionelle
Totenmahl, die pomínki,
veranstaltete. Auf dem kleinen Klavier neben der Speisetafel standen Fotos des
Verstorbenen und seiner Frau, davor ein Blumenstrauß und darüber ein Glas Wodka
mit einer Scheibe Brot darauf, zum Zeichen, dass er in den Herzen der
Anwesenden dabei ist und am Mahl teilnimmt.
Mir gegenüber saßen fünf Mitglieder des Opernorchesters und klagten
über den Verlust ihres ehemaligen Kollegen, der auch nach seinem Austritt aus
dem Orchester noch verantwortlich war für das Stimmen aller zwei Dutzend
Klaviere und Flügel im Opernhaus und Reparaturen an Streichinstrumenten
durchführte. Sergej Georgiewitsch hatte wohl immer wieder darauf gedrängt, ihm
einen Nachfolger zu suchen, an den er seinen Erfahrungs- und Wissensschatz weitergeben kann, jedoch vergebens. Ein neuer
Klavierstimmer lässt sich vielleicht finden, sagten die Musiker, wenn auch sicher
niemand mit richtiger Ausbildung, den man an den Steinway-Flügel lassen könnte – aber Ulan-Ude bleibt nun ohne
Geigenbauer. Überhaupt, so erfuhr ich, seien die Zustände im Orchester
jämmerlich: das Ensemble ist viel zu klein, die Arbeitsbedingungen sind aber so
schlecht, dass niemand freiwillig herkommt.
Ich sehe den zweiundsiebzigjährigen, hageren, weißhaarigen Mann noch an
unserem Klavier sitzen, wie er mit seinen leicht zitternden Händen feinste
Korrekturen an der Mechanik vornimmt, damit klemmende Tasten wieder
funktionieren, und beim Stimmen in unbegreiflicher Sekundenschnelle die
Schwebungen der Intervalle wahrnimmt. Ein besonderer, ganz feiner Mensch.
Manchmal sagen wir „bis bald“ und ahnen nicht, dass „bald“ nicht mehr in diesem
Leben sein wird.
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