Ende April sind die meisten Tage in Ulan-Ude sonnig
und sommerlich warm. Oft weht ein staubiger Wind, und mitunter liegt leichter
Waldbrandgeruch in der Luft. Wir unternehmen einen Familienausflug auf den Kasatschka genannten Hügel am Rande der
Stadt, der einige hundert Meter hoch aufragt und von dessen kahlem Gipfel sich
ein schöner Ausblick auf das Flusstal der Selenga bietet. Es ist das erste Mal,
dass ich mit dem Lada Niva außerhalb befestigter Straßen unterwegs bin.
Souverän meistert das allradgetriebene Fahrzeug – ein Allradantrieb, der sich leider
nicht abschalten lässt, was sich natürlich ungünstig auf den Benzinverbrauch
auswirkt dann, wenn er nicht gebraucht wird – den steil ansteigenden
Sandweg; zufrieden mit meiner ersten motorisierten Geländeerfahrung, achte ich
nicht auf den Temperaturanzeiger des Motors, der bei hundertdreißig Grad am
Ende des roten Bereiches der Skala steht, und frage mich auch nicht, wo auf
einmal die Kühlmittel-Spritzer unten im Fahrgastraum herkommen. Weite
Landschaft, wie es sie in Deutschland wohl fast nirgends gibt, lila Küchenschellen
und gelbes Fingerkraut; Maja sucht kleine schwarze Käfer und traut sich erst,
sie in die Hand zu nehmen, nachdem ich ihr es vormache und sie sieht, dass die
Tierchen nicht beißen. Fasziniert schauen wir zwei Gleitschirmfliegern zu, die
sich vom Hang unterhalb des Gipfels erheben und fünf, zehn, fünfzehn Minuten
lang Richtung Fluss und über die Dächer der hölzernen Vorstadthäuser in die
Tiefe schweben.
Auf dem Weg nach unten dann beim Schalten gibt es
plötzlich ein Knirschen im Getriebe: der Schaltknüppel bleibt in der Position
des ersten Ganges stecken, und nach dem Kommenlassen der Kupplung geht der
Motor aus. Kein Vorwärts mehr und kein Zurück, der Knüppel ist in seiner
Position wie festgefressen. Ich rufe meinen Freund Mischa an, der sofort Hilfe
organisiert – zwei Bekannte, die in der Nähe wohnen und sich gleich auf den Weg
machen. Nach einer Weile der Ratlosigkeit wird beschlossen, den Niva quer zum
Abhang zu schieben, damit sich bei einem Reparaturversuch nicht die Blockierung
der Räder löst und das Fahrzeug wie ein Pfeil nach unten schießt. Beim Versuch,
das Auto vom Fleck zu bekommen, wird es kräftig aufgeschaukelt und plötzlich
löst sich die verklemmte Schaltung von selbst; vielen Dank, es kann
weitergehen, Geld wollen die beiden keines nehmen, obwohl ich sie nicht kenne.
Wieder einmal bin ich davon beeindruckt, wie schnell und unkompliziert in
Russland in bestimmten Situationen, wenn es darauf ankommt, das Netz an
gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung funktioniert – zum Beispiel bei
Autopannen.
Zwei Wochen später sollte ich mich davon noch
einmal überzeugen können. Diesmal bringe ich Frau und Tochter zusammen mit
Nisos Schwester Nastja und ihrem Bruder Roma nach Jelan, in das Dorf ihrer
Eltern. Maja freut sich darauf, in dem großen Garten zu spielen und
großmütterliche Freiheiten mit rund um die Uhr laufendem Fernseher, süßem Essen
und Spät-ins-Bett-gehen zu genießen, die es bei uns zuhause nicht gibt. Niso
und Nastja möchten der Mutter beim Sortieren und Auslesen der vorjährigen Kartoffelernte
im Hauskeller helfen. Roma und seine tadschikische Frau Parvinia haben vor
Kurzem ihr zweites Kind bekommen, wofür der russische Staat Materinskij kapital zahlt, eine einmalige, nicht unbeträchtliche Geldsumme von einer
halben Million Rubeln (etwa 7500 Euro), deren Erhalt allerdings an Bedingungen
wie den Kauf von Wohneigentum geknüpft ist. Roma und seine Frau haben schon ein
Haus; um die Rubel trotzdem zu erhalten, haben sie pro forma das elterliche
Haus in Jelan gekauft, allerdings mit dem Vater nicht abgesprochen, ob dieser
auch etwas von der Geldsumme bekommt und wenn ja, wieviel – es gibt also
Gesprächsbedarf. Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist 2018 die Einwohnerzahl in
Russland wieder geschrumpft, trotz der staatlichen finanziellen Anreize;
vielleicht hat das auch mit den das sechste Jahr in Folge sinkenden Realeinkommen
zu tun.
Jelan liegt etwa 190 Kilometer südlich von Ulan-Ude,
wenn man auf der kürzeren, dafür schlechteren Wegstrecke fährt – aber schließlich
habe ich ja nun einen Geländewagen. Es ist unsere erste längere Überlandfahrt
mit dem Niva. Vom Rütteln über die nicht asphaltierte Piste lösen sich Teile
der Plastikverkleidung am Armaturenbrett, im Fahrgastraum riecht es leicht nach
Benzin, und bei Geschwindigkeiten von mehr als 70 km/h macht der Motor Lärm wie
ein startendes Flugzeug. Macht nichts, dafür gleiten wir souverän über alle
burjatischen Schlaglöcher hinweg und sind nach drei Stunden am Ziel.
Noch am gleichen Tag begebe ich mich auf den
Rückweg: für morgen steht eine Verabredung mit Nachbar Anatolij zur Jagd an.
Ich entscheide mich für die längere, aber holperfreie und schönere Strecke
durch das Tugnuj-Tal. Asphalt wie auf einer deutschen Autobahn, kilometerweiter
Blick bis zu sanft geschwungenen Hügelketten am Horizont, romantische
Abendsonne, ich gerate ins Philosophieren: warum kann ein Land, das den ersten
Sputnik und den ersten Menschen ins Weltall geschossen, die ersten Sonden zu
Mond, Venus und Mars geschickt und jahrzehntelang eigene Raumstationen im
Erdorbit betrieben hat, warum kann ein solches Land keine zeitgemäß
komfortablen und zuverlässigen Autos bauen? Es muss damit zusammenhängen, dass
Russen sehr wohl zu grandiosen Höchstleistungen unter Anspannung aller Kräfte
in der Lage sind – Eisenbahnbau auf schwierigstem Permafrostboden, fällt mir
dazu noch ein –, aber Qualität im Alltag fürs Volk nicht zu ihren Stärken
gehört.
Wie zum Hohn über diesen meinen Gedankengang geht
mitten auf gerader Strecke plötzlich der Motor aus. Kilometer 539 ab Tschita,
das sind noch knapp hundert Kilometer bis Ulan-Ude. Einfach so. Ölstand,
Temperatur, Batterie, alles in Ordnung, nur anspringen will er nicht mehr. Wie
schön, dass es sommerlich warm ist und ich nicht im hintersten Winkel des
Bargusin-Tales, sondern auf einer viel befahrenen Straße stehe, auf der Trasse
M-55, die Sibirien von West nach Ost durchquerende Hauptverkehrsader. Ich
strecke den Arm aus, gleich das zweite Fahrzeug hält an. – Sie kennen sich doch
sicher mit heimischer Technik aus…? – Ein fachmännischer Blick unter die
Motorhaube und kennerisches Horchen auf das röchelnde Schleifgeräusch beim
Versuch des Anlassens, dann Kopfschütteln: da hilft nur der Abschleppwagen.
Eine Zeitlang habe ich die Hoffnung, dass mich
jemand am Abschleppseil bis nach Ulan-Ude bringen könnte, doch dann wird mir
klar, dass fast alle der vorbeifahrenden PKWs Automatikgetriebe haben, das, wie
ich inzwischen gelernt habe, nicht geeignet ist, um jemanden ins Schlepptau zu
nehmen. Wieder einmal rufe ich meinen Freund Mischa an, der sich gleich auf den
Weg macht mit seinem schachtelförmigen Zhiguli
(den er gerade putzt und schönheitsrepariert, um ihn bald zu verkaufen) und
anderthalb Stunden später bei mir ist.
Inzwischen dämmert es. Versehentlich kommt mir das
Abschleppseil unter die Räder und reißt mit einem lauten Ploppen – Knoten rein
und weiter geht’s, der Abstand zwischen unseren Fahrzeugen schrumpft auf drei
Meter bei gespanntem Seil. Meine Nerven sind hochgradig angespannt; ich habe
ständig das Gefühl, dass mich nur Zehntelsekunden davon trennen, ihm hinten
aufzufahren. Als es schon völlig dunkel ist und kurz bevor die Scheinwerfer des
Niva erlöschen, da die Batterie inzwischen leer ist, erreichen wir Mischas Haus
in der Vorstadt Ulan-Udes, wo ich den Wagen stehenlasse. Am nächsten Tag um
sechs Uhr morgens, bevor der übliche Berufsverkehr-Stau beginnt, bin ich wieder
bei Mischa, der mich nun zu seinem Mechaniker abschleppt.
„Wenn ein Auto den Besitzer wechselt, geht oft
irgendwas kaputt, auch wenn es eigentlich ein guter Wagen ist“, sagt Sergej
Michailowitsch, „vielleicht hängt das mit den verschiedenen Fahrstilen der
Leute zusammen.“ In seiner Garage betrachte ich zum ersten Mal neugierig aus
der Nähe die Kesselchen und Schläuche eines samogonnyj
apparat, eine Vorrichtung zur
Herstellung von selbstgebranntem Schnaps – ein Hobby, das sehr wohl erlaubt
ist, nicht aber der anschließende Verkauf des Erzeugnisses.
Nach dem Jagdausflug mit Anatolij hole ich Frau und
Kind aus Jelan zurück in die Stadt. Da der Niva noch immer repariert wird, gibt
mir Mischa für einen Tag seinen Samara, den ich ihm vor einem Monat überlassen
habe. Kurz nach dem Ausfahren von der Tankstelle auf halber Strecke, an der ich
mir ganz in westeuropäischer Manier einen Coffee-to-go
gekauft habe, sehe ich im Rückspiegel ein Polizeiauto mit Blaulicht hinter mir
herdüsen, aus dessen Lautsprecher eine Aufforderung zum Anhalten ertönt. Ich
zeige meine Dokumente und werde gebeten, auf der Rückbank des Ladas – bestimmt aus
Solidarität mit der heimischen Autoindustrie sind fast alle Polizeiwagen Ladas –
Platz zu nehmen.
„Haben Sie die doppelte durchgezogene Linie nicht
gesehen?“
Da muss mir an der Tankstellenausfahrt wohl etwas
entgangen sein, es täte mir leid, sage ich, aber wie hätte ich denn sonst auf
die Gegenspur kommen sollen?
„Das sind fünftausend Rubel oder ein halbes Jahr
Führerscheinentzug“, sagt der junge Polizist und macht eine Pause. Siebzig Euro
Strafe, für hiesige Verhältnisse eine sehr stolze Summe.
„Aber da Sie nur Gast sind und sich hier
offensichtlich noch schlecht orientieren, schreiben wir Ihnen nur eine Strafe
für das Licht aus. In der Russischen Föderation müssen Sie auch am Tag mit
Licht fahren, verstehen Sie? Fünfhundert Rubel, wenn Sie innerhalb von zwei
Wochen zahlen, die Hälfte.“
Ich bedanke mich und äußere Verständnis für die
Arbeit der Polizei, wo kämen wir denn hin, wenn jeder auf der Straße macht, was
er will! Der Uniformierte lacht.
„Wie Sie sicher wissen, gelten seit Mitte April in
ganz Burjatien besondere Regeln zur Brandvorbeugung. Das Befahren und Betreten
des Waldes ist verboten!“, gibt er mir noch eine Belehrung mit auf den Weg.
Ein komisches Gesetz, viele Häuser und ganze Dörfer
lägen doch im Wald, meine ich. Achselzucken und Lachen, dann bin ich entlassen.
Auf dem Rückweg in die Stadt sitzt Babuschka Katja mit im Auto, meine Schwiegermutter, die ein paar Tage mit bei uns wohnen wird. Unterdessen rüstet sich
das Land für den Neunten Mai, dem neben Neujahr wichtigsten Fest. Die Kinder
sind gebeten, mit Georgsband – dem orange-schwarz
gestreiften Abzeichen zum Tag des Sieges – in die Schule zu kommen, überall auf
den Straßen erstrahlen die Fahrbahnmarkierungen in frischem Weiß, in vielen
Höfen sind die Zäune neu gestrichen, und auf verschiedenen Plätzen finden
Proben von Aufmärschen und Masseninszenierungen für den Festtag statt.
Abends bekomme ich eine SMS auf mein Handy: „Sie
haben sich an die Polizei gewendet. Beurteilen Sie bitte die Qualität der
erwiesenen Dienstleistung, indem Sie kostenlos mit einer Ziffer von 1 bis 5
antworten.“
Mit Motorschaden in der Steppe, zum Glück an der viel befahrenen und gut asphaltierten Trasse M-55 |
Ein Apparat zum Schnaps brennen in der Werkstadt des Automechanikers |
Mit Frau und Schwiegermutter im Café |