Dienstag, 7. Mai 2019

Pannen

 
Ende April sind die meisten Tage in Ulan-Ude sonnig und sommerlich warm. Oft weht ein staubiger Wind, und mitunter liegt leichter Waldbrandgeruch in der Luft. Wir unternehmen einen Familienausflug auf den Kasatschka genannten Hügel am Rande der Stadt, der einige hundert Meter hoch aufragt und von dessen kahlem Gipfel sich ein schöner Ausblick auf das Flusstal der Selenga bietet. Es ist das erste Mal, dass ich mit dem Lada Niva außerhalb befestigter Straßen unterwegs bin. Souverän meistert das allradgetriebene Fahrzeug – ein Allradantrieb, der sich leider nicht abschalten lässt, was sich natürlich ungünstig auf den Benzinverbrauch auswirkt dann, wenn er nicht gebraucht wird – den steil ansteigenden Sandweg; zufrieden mit meiner ersten motorisierten Geländeerfahrung, achte ich nicht auf den Temperaturanzeiger des Motors, der bei hundertdreißig Grad am Ende des roten Bereiches der Skala steht, und frage mich auch nicht, wo auf einmal die Kühlmittel-Spritzer unten im Fahrgastraum herkommen. Weite Landschaft, wie es sie in Deutschland wohl fast nirgends gibt, lila Küchenschellen und gelbes Fingerkraut; Maja sucht kleine schwarze Käfer und traut sich erst, sie in die Hand zu nehmen, nachdem ich ihr es vormache und sie sieht, dass die Tierchen nicht beißen. Fasziniert schauen wir zwei Gleitschirmfliegern zu, die sich vom Hang unterhalb des Gipfels erheben und fünf, zehn, fünfzehn Minuten lang Richtung Fluss und über die Dächer der hölzernen Vorstadthäuser in die Tiefe schweben.
Auf dem Weg nach unten dann beim Schalten gibt es plötzlich ein Knirschen im Getriebe: der Schaltknüppel bleibt in der Position des ersten Ganges stecken, und nach dem Kommenlassen der Kupplung geht der Motor aus. Kein Vorwärts mehr und kein Zurück, der Knüppel ist in seiner Position wie festgefressen. Ich rufe meinen Freund Mischa an, der sofort Hilfe organisiert – zwei Bekannte, die in der Nähe wohnen und sich gleich auf den Weg machen. Nach einer Weile der Ratlosigkeit wird beschlossen, den Niva quer zum Abhang zu schieben, damit sich bei einem Reparaturversuch nicht die Blockierung der Räder löst und das Fahrzeug wie ein Pfeil nach unten schießt. Beim Versuch, das Auto vom Fleck zu bekommen, wird es kräftig aufgeschaukelt und plötzlich löst sich die verklemmte Schaltung von selbst; vielen Dank, es kann weitergehen, Geld wollen die beiden keines nehmen, obwohl ich sie nicht kenne. Wieder einmal bin ich davon beeindruckt, wie schnell und unkompliziert in Russland in bestimmten Situationen, wenn es darauf ankommt, das Netz an gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung funktioniert – zum Beispiel bei Autopannen.
Zwei Wochen später sollte ich mich davon noch einmal überzeugen können. Diesmal bringe ich Frau und Tochter zusammen mit Nisos Schwester Nastja und ihrem Bruder Roma nach Jelan, in das Dorf ihrer Eltern. Maja freut sich darauf, in dem großen Garten zu spielen und großmütterliche Freiheiten mit rund um die Uhr laufendem Fernseher, süßem Essen und Spät-ins-Bett-gehen zu genießen, die es bei uns zuhause nicht gibt. Niso und Nastja möchten der Mutter beim Sortieren und Auslesen der vorjährigen Kartoffelernte im Hauskeller helfen. Roma und seine tadschikische Frau Parvinia haben vor Kurzem ihr zweites Kind bekommen, wofür der russische Staat Materinskij kapital zahlt, eine einmalige, nicht unbeträchtliche Geldsumme von einer halben Million Rubeln (etwa 7500 Euro), deren Erhalt allerdings an Bedingungen wie den Kauf von Wohneigentum geknüpft ist. Roma und seine Frau haben schon ein Haus; um die Rubel trotzdem zu erhalten, haben sie pro forma das elterliche Haus in Jelan gekauft, allerdings mit dem Vater nicht abgesprochen, ob dieser auch etwas von der Geldsumme bekommt und wenn ja, wieviel – es gibt also Gesprächsbedarf. Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist 2018 die Einwohnerzahl in Russland wieder geschrumpft, trotz der staatlichen finanziellen Anreize; vielleicht hat das auch mit den das sechste Jahr in Folge sinkenden Realeinkommen zu tun.
Jelan liegt etwa 190 Kilometer südlich von Ulan-Ude, wenn man auf der kürzeren, dafür schlechteren Wegstrecke fährt – aber schließlich habe ich ja nun einen Geländewagen. Es ist unsere erste längere Überlandfahrt mit dem Niva. Vom Rütteln über die nicht asphaltierte Piste lösen sich Teile der Plastikverkleidung am Armaturenbrett, im Fahrgastraum riecht es leicht nach Benzin, und bei Geschwindigkeiten von mehr als 70 km/h macht der Motor Lärm wie ein startendes Flugzeug. Macht nichts, dafür gleiten wir souverän über alle burjatischen Schlaglöcher hinweg und sind nach drei Stunden am Ziel.
Noch am gleichen Tag begebe ich mich auf den Rückweg: für morgen steht eine Verabredung mit Nachbar Anatolij zur Jagd an. Ich entscheide mich für die längere, aber holperfreie und schönere Strecke durch das Tugnuj-Tal. Asphalt wie auf einer deutschen Autobahn, kilometerweiter Blick bis zu sanft geschwungenen Hügelketten am Horizont, romantische Abendsonne, ich gerate ins Philosophieren: warum kann ein Land, das den ersten Sputnik und den ersten Menschen ins Weltall geschossen, die ersten Sonden zu Mond, Venus und Mars geschickt und jahrzehntelang eigene Raumstationen im Erdorbit betrieben hat, warum kann ein solches Land keine zeitgemäß komfortablen und zuverlässigen Autos bauen? Es muss damit zusammenhängen, dass Russen sehr wohl zu grandiosen Höchstleistungen unter Anspannung aller Kräfte in der Lage sind – Eisenbahnbau auf schwierigstem Permafrostboden, fällt mir dazu noch ein –, aber Qualität im Alltag fürs Volk nicht zu ihren Stärken gehört.
Wie zum Hohn über diesen meinen Gedankengang geht mitten auf gerader Strecke plötzlich der Motor aus. Kilometer 539 ab Tschita, das sind noch knapp hundert Kilometer bis Ulan-Ude. Einfach so. Ölstand, Temperatur, Batterie, alles in Ordnung, nur anspringen will er nicht mehr. Wie schön, dass es sommerlich warm ist und ich nicht im hintersten Winkel des Bargusin-Tales, sondern auf einer viel befahrenen Straße stehe, auf der Trasse M-55, die Sibirien von West nach Ost durchquerende Hauptverkehrsader. Ich strecke den Arm aus, gleich das zweite Fahrzeug hält an. – Sie kennen sich doch sicher mit heimischer Technik aus…? – Ein fachmännischer Blick unter die Motorhaube und kennerisches Horchen auf das röchelnde Schleifgeräusch beim Versuch des Anlassens, dann Kopfschütteln: da hilft nur der Abschleppwagen.
Eine Zeitlang habe ich die Hoffnung, dass mich jemand am Abschleppseil bis nach Ulan-Ude bringen könnte, doch dann wird mir klar, dass fast alle der vorbeifahrenden PKWs Automatikgetriebe haben, das, wie ich inzwischen gelernt habe, nicht geeignet ist, um jemanden ins Schlepptau zu nehmen. Wieder einmal rufe ich meinen Freund Mischa an, der sich gleich auf den Weg macht mit seinem schachtelförmigen Zhiguli (den er gerade putzt und schönheitsrepariert, um ihn bald zu verkaufen) und anderthalb Stunden später bei mir ist.
Inzwischen dämmert es. Versehentlich kommt mir das Abschleppseil unter die Räder und reißt mit einem lauten Ploppen – Knoten rein und weiter geht’s, der Abstand zwischen unseren Fahrzeugen schrumpft auf drei Meter bei gespanntem Seil. Meine Nerven sind hochgradig angespannt; ich habe ständig das Gefühl, dass mich nur Zehntelsekunden davon trennen, ihm hinten aufzufahren. Als es schon völlig dunkel ist und kurz bevor die Scheinwerfer des Niva erlöschen, da die Batterie inzwischen leer ist, erreichen wir Mischas Haus in der Vorstadt Ulan-Udes, wo ich den Wagen stehenlasse. Am nächsten Tag um sechs Uhr morgens, bevor der übliche Berufsverkehr-Stau beginnt, bin ich wieder bei Mischa, der mich nun zu seinem Mechaniker abschleppt.
„Wenn ein Auto den Besitzer wechselt, geht oft irgendwas kaputt, auch wenn es eigentlich ein guter Wagen ist“, sagt Sergej Michailowitsch, „vielleicht hängt das mit den verschiedenen Fahrstilen der Leute zusammen.“ In seiner Garage betrachte ich zum ersten Mal neugierig aus der Nähe die Kesselchen und Schläuche eines samogonnyj apparat, eine Vorrichtung zur Herstellung von selbstgebranntem Schnaps – ein Hobby, das sehr wohl erlaubt ist, nicht aber der anschließende Verkauf des Erzeugnisses.
Nach dem Jagdausflug mit Anatolij hole ich Frau und Kind aus Jelan zurück in die Stadt. Da der Niva noch immer repariert wird, gibt mir Mischa für einen Tag seinen Samara, den ich ihm vor einem Monat überlassen habe. Kurz nach dem Ausfahren von der Tankstelle auf halber Strecke, an der ich mir ganz in westeuropäischer Manier einen Coffee-to-go gekauft habe, sehe ich im Rückspiegel ein Polizeiauto mit Blaulicht hinter mir herdüsen, aus dessen Lautsprecher eine Aufforderung zum Anhalten ertönt. Ich zeige meine Dokumente und werde gebeten, auf der Rückbank des Ladas – bestimmt aus Solidarität mit der heimischen Autoindustrie sind fast alle Polizeiwagen Ladas – Platz zu nehmen.
„Haben Sie die doppelte durchgezogene Linie nicht gesehen?“
Da muss mir an der Tankstellenausfahrt wohl etwas entgangen sein, es täte mir leid, sage ich, aber wie hätte ich denn sonst auf die Gegenspur kommen sollen?
„Das sind fünftausend Rubel oder ein halbes Jahr Führerscheinentzug“, sagt der junge Polizist und macht eine Pause. Siebzig Euro Strafe, für hiesige Verhältnisse eine sehr stolze Summe.
„Aber da Sie nur Gast sind und sich hier offensichtlich noch schlecht orientieren, schreiben wir Ihnen nur eine Strafe für das Licht aus. In der Russischen Föderation müssen Sie auch am Tag mit Licht fahren, verstehen Sie? Fünfhundert Rubel, wenn Sie innerhalb von zwei Wochen zahlen, die Hälfte.“
Ich bedanke mich und äußere Verständnis für die Arbeit der Polizei, wo kämen wir denn hin, wenn jeder auf der Straße macht, was er will! Der Uniformierte lacht.
„Wie Sie sicher wissen, gelten seit Mitte April in ganz Burjatien besondere Regeln zur Brandvorbeugung. Das Befahren und Betreten des Waldes ist verboten!“, gibt er mir noch eine Belehrung mit auf den Weg.
Ein komisches Gesetz, viele Häuser und ganze Dörfer lägen doch im Wald, meine ich. Achselzucken und Lachen, dann bin ich entlassen.
Auf dem Rückweg in die Stadt sitzt Babuschka Katja mit im Auto, meine Schwiegermutter, die ein paar Tage mit bei uns wohnen wird. Unterdessen rüstet sich das Land für den Neunten Mai, dem neben Neujahr wichtigsten Fest. Die Kinder sind gebeten, mit Georgsband – dem orange-schwarz gestreiften Abzeichen zum Tag des Sieges – in die Schule zu kommen, überall auf den Straßen erstrahlen die Fahrbahnmarkierungen in frischem Weiß, in vielen Höfen sind die Zäune neu gestrichen, und auf verschiedenen Plätzen finden Proben von Aufmärschen und Masseninszenierungen für den Festtag statt.
Abends bekomme ich eine SMS auf mein Handy: „Sie haben sich an die Polizei gewendet. Beurteilen Sie bitte die Qualität der erwiesenen Dienstleistung, indem Sie kostenlos mit einer Ziffer von 1 bis 5 antworten.“

Mit Motorschaden in der Steppe, zum Glück an der viel befahrenen und gut asphaltierten Trasse M-55
Ein Apparat zum Schnaps brennen in der Werkstadt des Automechanikers
Mit Frau und Schwiegermutter im Café