Mittwoch, 8. Mai 2019

Auf Besuch bei den Tieren im Walde - Teil II


Ich sitze mit geschlossenen Augen und lausche.
Was höre ich?
Ein feines, gleichmäßiges Rieseln. In unregelmäßigen Abständen ein Knarren von aufeinander reibendem Holz. Aus verschiedenen Richtungen Vogelrufe. Sonst nichts. In meiner Daunenjacke verspüre ich gemütliche Wärme. Meine Hand hält den mit heißem Tee gefüllten Becher der Thermoskanne umklammert. Das Brett, auf dem ich sitze, schwingt behutsam hin- und her, ganz leicht, mal stärker, mal kaum merkbar. Sonst passiert nichts.
Nach zehn Minuten, oder fünfzehn, oder zwanzig, genau kann es niemand sagen, höre ich in einiger Entfernung von rechts das Knacken eines Astes. Ich öffne die Augen.
Vor mir liegt eine Waldlichtung, mit jungen Kiefern bestanden, andernorts mit knöchel- bis kniehohem Gestrüpp bewachsen, an manchen Stellen ganz kahl. Wo bis vor kurzem noch der sandige Grund sichtbar war, liegt nun eine zarte weiße Schneedecke. Ein dichtes Flockenmeer wirbelt zur Erde. Ich sitze zwischen drei Baumstämmen auf der Bank einer Bretterplattform, deren Höhe etwa dreimal meiner Körpergröße entspricht; hinter mir ist ein dicker Balken zum Anlehnen, an den Seiten dünnere Balken zum Festhalten. Das Knacken kam von irgendwo aus dem dichten Gehölz, von dort, wo die Lichtung aufhört und die dichte Taiga beginnt, eine Taiga, in der ich mich schon nicht mehr orientieren kann, sobald ich nur dreißig Schritte hineingehe: wo ist vorne und hinten, wo komme ich gerade her? Irgendwie sehen die Birken und Kiefern doch alle gleich aus. Allein vom Weg abzuweichen, eine unheimliche Vorstellung.
Der Schnee rieselt, mein im Winde leicht schwankender Hochsitz knarrt leise, aber deutlich, Vögel zwitschern, manchmal ist aus der Nähe deutliches Flügelschlagen zu vernehmen. Sonst passiert gar nichts. Mir fällt ein, dass man in Deutschland lange suchen muss, bis man einen Ort findet, der völlig frei von Straßenlärm ist, zumindest ein fernes Autobahnrauschen hört man doch fast immer. Hier in Sibirien gibt es eine ganze Menge von diesem in der Zivilisation so kostbaren Gut: Stille. Eine Stille, die lebt. In der Ferne wieder das Geräusch eines brechenden Astes. Ich traue mich kaum, den Kopf zu wenden, weil mir das Reiben meines Halses an der Daunenjacke unverhältnismäßig laut erscheint.
Vor einer halben Stunde, als noch kein Schnee lag, gab es auf der Lichtung nur eine einzige weiße Stelle, ähnlich einem ameisenhaufengroßen Schneehügel, nur dass es kein Schnee ist, sondern Salz. Auf der Lichtung, die ich von meinem Hochsitz frei überblicken kann, ist eine Salzlecke, die regelmäßig von Wild aufgesucht wird, das seinen Salzbedarf stillen möchte. Vielleicht auch heute Abend. Jeden Moment kann es soweit sein, Rehe, Hirsche, Elche, Moschustiere oder Wildschweine können auftauchen.
Auf den zwei quer vor mir liegenden Balken liegt ein doppelläufiges Jagdgewehr Marke Bjelka, dessen Baujahr dem Geburtsjahr meiner Mutter entspricht: 1958. Ich bin auf der Jagd. Zum ersten Mal in meinem Leben sitze ich auf einem Hochsitz und warte darauf, ein Tier erschießen zu können. Ein wenig ist das schon aufregend, obwohl eigentlich gar nichts geschieht. Schon eine Stunde lang nicht. Oder sind es inzwischen anderthalb?
Der Tee ist ausgetrunken, ich zünde mir eine Zigarette an. Für mich ist das ein erwähnenswerter und besonderer Akt, denn eigentlich bin ich Nichtraucher. Ein Genuss, so versuche ich es mir einzubilden, für spezielle Momente im Leben, wie sie jährlich nur wenige abgezählte Male auftreten. Zum Beispiel jetzt: ich sitze mit geladenem Gewehr auf einem Hochstand in der sibirischen Taiga. Nachbar Anatolij, mit dem ich zur Jagd aufgebrochen bin, hat mich am Morgen auf einen Baumstamm in sechzig Metern Entfernung probeschießen lassen, erst aus dem kleinen Lauf und dann aus dem großen, achtundzwanzig Millimeter, ein ohrenbetäubendes Krachen, und dann saß die Kugel im Stamm. Anatolij schlug mit der Axt die Rinde weg, um mir das tief eingedrungene Geschoss zu zeigen. In meiner Naivität dachte ich tatsächlich, es wäre eine Kugel. In Wirklichkeit ist es ein zylinderförmiges, mehrere Zentimeter langes, plastikummanteltes Metallmonstrum, das da fliegt. Anatolij hat eine Jagdlizenz, ich natürlich nicht; wenn jemand kommt, soll ich ihm schnell das Gewehr zurückgeben und sagen, ich sei nur Begleiter. Was aber kann ich jetzt machen, wenn ich im Hochstand sitze und irgendein Inspektor schaut vorbei? Aber es schaut niemand vorbei, nicht hier, hat Anatolij versichert, zwanzig Kilometer auf verschlungenen Sandwegen vom letzten Dorf entfernt in den Wald hinein, Wege in einem Zustand, die ich mir wohl nicht einmal mit meinem Lada Niva getraut hätte zu fahren. Mein Nachbar hat einen Toyota Landcruiser, das ist nochmal ein ganz anderes Kaliber von Geländewagen.
Das Rauchen bewirkt ein erhebendes Benebeltsein in meinem Kopf, ein Zustand, bei dem mir jedesmal dünkt, dass ich kurz vor einer wie auch immer gearteten höheren Erkenntnis stehe. Gibt es etwas Größeres als das Schweigen des Waldes? Ob heute noch ein Reh vorbeischaut? Werde ich treffen? Auf die Brust soll ich zielen, und dann schnell den Umschalter betätigen und nochmal aus dem anderen Lauf feuern, zur Sicherheit. Nun sitze ich schon fast zwei Stunden hier, und noch immer passiert genauso wenig wie am Anfang, nur das zusätzlich noch meine Füße und Hände frieren. Handschuhe habe ich keine. Schnee Anfang Mai, wer hätte das gedacht? Als wir in Ulan-Ude losfuhren, war Sommer.
Ende der Zigarette. Irgendwie hätte ich mir den Erkenntnisgewinn größer vorgestellt. Lieber noch einen Schluck Tee.
Mit meinem Nachbarn bin ich schon zum zweiten Mal auf der Jagd, das letzte Mal war im richtigen Winter, wir sind auf der Pirsch gewesen und haben die verschiedenen Spuren im Schnee studiert. Diesmal hat mir Anatolij erklärt, wie man anhand des Kotes die herumlaufenden Wildsorten unterscheiden kann. Hasenkot: rund und hellbraun. Rehkot: oval und schwarz. Hirschkot: fast wachteleigroß, schwarzbraun. Wolfskot – jawohl, es gibt auch Wölfe –: fast menschengroß und Haare beinhaltend von der letzten Mahlzeit. Bärenkot: noch keinen gesehen.
Anatolij, jetzt Rentner, war früher Leiter der Polizei im Chorinsker Gebiet, wo wir uns befinden, und kennt deshalb alle Stellen und Schleichwege genau. Gestern hatte er mir auf einem Hügel etwa zwanzig Holzkreuze gezeigt und dazu an einem Metallkreuz eine Plakette: Im Andenken an die litauischen Zwangsarbeiter, 1948-1956. Ein Friedhof mitten im Nichts, wo früher Holz geschlagen wurde. Am Abend dann eine Flasche Wodka, die er allein ganz ohne mich austrank und dann im frostigen Abenddunkel ein gut gelaunter Toast, als wären wir nicht zu zweit, sondern ein imaginäres größeres Publikum sitzt vor ihm: Viele Leute, verdammt, fahren sonstwohin, aber uns geht’s gut hier im heimischen Wald. Prost!
Abenddunkel setzt ein. Ich schließe die Augen und lausche. Das Handsprechfunkgerät neben mir rauscht. Anatolij, der ein paar andere Salzlecken abläuft, meldet sich und fragt, wie es mir geht. Gut, sage ich, aber leider kein Wild, sicher komme ich bald zurück. Der Schnee rieselt, das Holz meines Hochsitzes knarrt, die Vögel haben aufgehört zu singen. Der rechte meiner beiden in jeweils nur einer einzigen Wollsocke steckenden Füße erscheint mir auf einmal sehr kalt und auch die Finger schmerzhaft klamm. Ich entspanne den Hahn der Bjelka und klettere nach unten.
Drei Stunden lang war ich also auf der Jagd, eine aufregende Sache, jetzt freue ich mich auf heißen Tee am Feuer. Fleisch – Tuschonka – gibt es wieder nur aus der Büchse. Vielleicht klappt es ja das nächste Mal.