Montag, 20. Mai 2019

Rostow am Don


„Heute haben wir einen Panzer gezeichnet“, sagt Maja mit zärtlicher Stimme, als ich sie von der Schule abhole, „ich habe eine Fünf bekommen.“
Maja hat einen Schulweg von knapp zehn Minuten. Meistens wird sie von meiner Frau gebracht und geholt, manchmal von mir. Wenn sie dann ganz selbstverständlich nach meiner Hand greift, ohne dass ich sie ihr aufdränge, denke ich: das Mädchen ist wirklich noch ganz ein kleines Kind. Mit acht Jahren ist das auch gut so. Auf dem Spielplatz tobt sie mit Freunden, die Zeit vergessend; wenn gerade keine anderen Kinder draußen sind, bittet sie mich manchmal, mit ihr Verstecken oder Fangen zu spielen. In der Wohnung bettet sie liebevoll ihre Puppen in eine unter dem bettlakenbedeckten Wäschetrockner errichtete Höhle oder knetet stundenlang einen wassergefüllten Luftballon in den Händen.
Die Bestnote verdient natürlich elterliches Lob. „Gut gemacht“, sage ich zu ihrer Fünf. Neulich lautete die Hausaufgabe, ein Bild zum Thema „Heldentat“ zu zeichnen. Der neunte Mai steht schließlich vor der Tür. Mit Nisos Hilfe wurde ein die Grenze schützender Soldat ins Heft gemalt. Die Erziehung zu Patriotismus und Heimatliebe kann gar nicht früh genug beginnen.
Am „Tag des Sieges“ geht Niso mit Babuschka auf den Sowjetplatz, um der großen Siegesparade beizuwohnen. Ich bin ganz froh darüber, dass Maja nicht mitkommen möchte, und bleibe mit ihr zuhause. Ich weiß gar nicht, ob der Anblick von tausenden marschierenden Soldaten, schwerer Kriegstechnik und das Getöse frenetischer Marschmusik so gut für die kindliche Seele sind.
Während in Ulan-Ude die Temperatur zeitweise noch auf unter null Grad absinkt und es zwischendurch sogar schneit, fliege ich nach Rostow am Don zu einem Treffen an der Südlichen Föderalen Universität mit meinen fast dreißig Kollegen, die in anderen russischen Städten tätig sind. Nach Sibirien ein echter Klima- und Vegetationsschock: grüne Wiesen statt grauem Sand, blühende Kastanien und Robinien, auf der Uferpromenade entlang des Don Caféstände, Straßenkünstler, junge Leute auf Elektrorollern und englischsprachige Wegweiser – meine Wahlheimat Ulan-Ude kommt mir auf einmal vor wie ein unwirtlicher, provinzieller Vor- und Außenposten. Rostow am Don wurde von den Faschisten zweimal besetzt – ein paar Tage und dann noch einmal ein halbes Jahr – und ist heute eine von fünfzehn russischen Millionenstädten; neben fünfundvierzig anderen trägt sie den Ehrentitel „Stadt militärischen Ruhmes“. Der nagelneue Flughafen wurde pünktlich zur Fußball-WM 2018 fertiggestellt und trägt den Namen Platov, Kosake und einer der Helden des Vaterländischen Krieges, die gegen Napoleon kämpften. Täglich verkehren Busse nach Donezk und Lugansk, einige Studenten und Lehrkräfte kommen von dort, ansonsten ist der Konflikt in der nahen Ostukraine hier gefühlt weit weg und interessiert die Leute nicht besonders.
Trotz außenpolitischer Spannungen ist es um die Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Bildung zwischen Russland und Deutschland nicht so schlecht bestellt, erfahren wir auf unserem Treffen, und zwar solange es gelingt, bestimmt strittige Fragen auszuklammern. Bei gemeinsamen Konferenzen tut die deutsche Seite so, als wüssten alle, dass die Krim natürlich Teil der Ukraine sei, und die russische Seite tut so, als wüssten die Deutschen, dass die Krim natürlich zu Russland gehört. Wenn allerdings ein Vertreter der Universität Simferopol unter russischer Flagge zusammen mit einem deutschen Rektor auf dem Podium platziert werden soll, ist der Frieden gestört. Dann kann es auch schon einmal zum Skandal kommen, wobei dieser nicht offen ausgetragen wird, sondern die deutsche Seite nach einem Blick auf die Teilnehmerliste bereits im Vorfeld ihre Mitwirkung an der Veranstaltung absagt.