„Heute haben wir
einen Panzer gezeichnet“, sagt Maja mit zärtlicher Stimme, als ich sie von der
Schule abhole, „ich habe eine Fünf bekommen.“
Maja hat einen
Schulweg von knapp zehn Minuten. Meistens wird sie von meiner Frau gebracht und
geholt, manchmal von mir. Wenn sie dann ganz selbstverständlich nach meiner
Hand greift, ohne dass ich sie ihr aufdränge, denke ich: das Mädchen ist
wirklich noch ganz ein kleines Kind. Mit acht Jahren ist das auch gut so. Auf
dem Spielplatz tobt sie mit Freunden, die Zeit vergessend; wenn gerade keine
anderen Kinder draußen sind, bittet sie mich manchmal, mit ihr Verstecken oder
Fangen zu spielen. In der Wohnung bettet sie liebevoll ihre Puppen in eine
unter dem bettlakenbedeckten Wäschetrockner errichtete Höhle oder knetet
stundenlang einen wassergefüllten Luftballon in den Händen.
Die Bestnote
verdient natürlich elterliches Lob. „Gut gemacht“, sage ich zu ihrer Fünf.
Neulich lautete die Hausaufgabe, ein Bild zum Thema „Heldentat“ zu zeichnen. Der
neunte Mai steht schließlich vor der Tür. Mit Nisos Hilfe wurde ein die Grenze
schützender Soldat ins Heft gemalt. Die Erziehung zu Patriotismus und
Heimatliebe kann gar nicht früh genug beginnen.
Am „Tag des
Sieges“ geht Niso mit Babuschka auf
den Sowjetplatz, um der großen Siegesparade beizuwohnen. Ich bin ganz froh
darüber, dass Maja nicht mitkommen möchte, und bleibe mit ihr zuhause. Ich weiß
gar nicht, ob der Anblick von tausenden marschierenden Soldaten, schwerer
Kriegstechnik und das Getöse frenetischer Marschmusik so gut für die kindliche
Seele sind.
Während in
Ulan-Ude die Temperatur zeitweise noch auf unter null Grad absinkt und es
zwischendurch sogar schneit, fliege ich nach Rostow am Don zu einem Treffen an
der Südlichen Föderalen Universität mit meinen fast dreißig Kollegen, die in
anderen russischen Städten tätig sind. Nach Sibirien ein echter Klima- und
Vegetationsschock: grüne Wiesen statt grauem Sand, blühende Kastanien und
Robinien, auf der Uferpromenade entlang des Don Caféstände, Straßenkünstler,
junge Leute auf Elektrorollern und englischsprachige Wegweiser – meine
Wahlheimat Ulan-Ude kommt mir auf einmal vor wie ein unwirtlicher,
provinzieller Vor- und Außenposten. Rostow am Don wurde von den Faschisten
zweimal besetzt – ein paar Tage und dann noch einmal ein halbes Jahr – und ist
heute eine von fünfzehn russischen Millionenstädten; neben fünfundvierzig
anderen trägt sie den Ehrentitel „Stadt militärischen Ruhmes“. Der nagelneue
Flughafen wurde pünktlich zur Fußball-WM 2018 fertiggestellt und trägt den
Namen Platov, Kosake und einer der Helden des Vaterländischen Krieges, die
gegen Napoleon kämpften. Täglich verkehren Busse nach Donezk und Lugansk,
einige Studenten und Lehrkräfte kommen von dort, ansonsten ist der Konflikt in
der nahen Ostukraine hier gefühlt weit weg und interessiert die Leute nicht
besonders.
Trotz
außenpolitischer Spannungen ist es um die Zusammenarbeit im Bereich
Wissenschaft und Bildung zwischen Russland und Deutschland nicht so schlecht
bestellt, erfahren wir auf unserem Treffen, und zwar solange es gelingt,
bestimmt strittige Fragen auszuklammern. Bei gemeinsamen Konferenzen tut die
deutsche Seite so, als wüssten alle, dass die Krim natürlich Teil der Ukraine
sei, und die russische Seite tut so, als wüssten die Deutschen, dass die Krim
natürlich zu Russland gehört. Wenn allerdings ein Vertreter der Universität
Simferopol unter russischer Flagge zusammen mit einem deutschen Rektor auf dem
Podium platziert werden soll, ist der Frieden gestört. Dann kann es auch schon
einmal zum Skandal kommen, wobei dieser nicht offen ausgetragen wird, sondern
die deutsche Seite nach einem Blick auf die Teilnehmerliste bereits im Vorfeld
ihre Mitwirkung an der Veranstaltung absagt.