Samstag, 27. April 2019

Freude

  Seit Nisos Geburtstag am letzten Sonntag ziert ein Samowar unseren Küchentisch, ein „Selbstkocher“ in der wörtlichen Übersetzung. Der klassische russische Kulturgegenstand besteht aus einem metallenen Wasserkessel mit seitlichem Ablaufhahn und darüber einer Auflage mit einem Teekännchen aus Porzellan. Im Teekännchen befindet sich die Sawarka, starkes Tee-Konzentrat, das mit dem elektrisch erhitzten Wasser aus dem Kessel je nach Bedarf verdünnt wird. Die ersten Samoware, die in Russland nach dem Tode Peters des Großen auftauchten, funktionierten mit Holzkohle. Heute hat wohl kaum noch jemand in Russland einen Samowar zuhause – man nutzt gewöhnliche Wasserkocher, genauso wie die wenigsten Leute einen Lada fahren, sondern inzwischen ganz gewöhnlich gewordene japanische Autos. Der deutsche Ausländer ist in mancherlei Hinsicht sozusagen russischer als die Russen selbst.
  Der Geburtstag meiner Frau fiel zusammen mit dem „westlichen“ Osterfest. Wir besuchten den Ostergottesdienst in der katholischen Kirche und Pater Adam erlaubte mir danach, in der fantastischen Akustik des Kirchenraumes Cello zu spielen. Eigentlich wollte ich proben, also üben und schwierige Stellen in Stücken wiederholen, aber da eine Handvoll Leute nach dem Gottesdienst sitzenblieben und mir freudig lauschten, entstand eine ungeplante Konzertsituation, so dass ich nicht probte, sondern einfach nur spielte, so schön wie möglich. Das russisch-orthodoxe Osterfest findet eine Woche später statt, am morgigen Sonntag. Heute sind wir mit dem Eier anmalen beschäftigt, das es sehr wohl in der russischen Ostertradition gibt; eine unbekannte Erscheinung ist hingegen der Osterhase.
  Das Schuljahr und das Musikschuljahr neigen sich dem Ende zu. Maja muss zur Abschlussprüfung auf dem Klavier drei kleine Stückchen vorspielen: Menuett, Walzer und Marsch, seit etwa einem Monat klappt es schon gut, Maja spielt auswendig und mit Ausdruck, aber da das Programm nichts anderes vorsieht und die Kommission beim Examen nur genau dieses hören will, wiederholt ihre Lehrerin die Stücke wieder und wieder, noch und nöcher; bis Ende Mai wird sicher nichts mehr Neues kommen. „Auf die Bedürfnisse und das Tempo des Lernenden eingehen“ ist in der russischen Pädagogik ein weitgehend unbekanntes Vorgehen. Damit die Freude beim Üben erhalten bleibt, übe ich mit der Kleinen zuhause längst ganz andere Stücke aus der DDR-Klavierschule Plumpsack.
  Das winterliche Weiß ist verschwunden, aber frühlingshaftes Grün will sich in Ulan-Ude nicht einstellen. Es ist, wie als geht der Winter direkt in den staubig-heißen Sommer über. Wenn ich Maja von der Schule abhole – was meistens meine Frau übernimmt –, führt der Weg an einem Stadtpark genannten tristen Grundstück vorbei, auf dem in zwei, drei Metern brutal abgeschnittene Baumstämme in die Höhe spießen, deren Äste noch völlig kahl sind; der graugelbe sandige Boden ist bedeckt mit welken, gelbgrünlichen Grasbüscheln. Erst ein einziges Mal in diesem Jahr erfreuten mich Blumen in freier Wildbahn: ein paar Löwenzähne an einer Hauswand.