Wie lange dauert in Russland die polizeiliche
Zulassung eines Autos? Eine Stunde, einen Tag, eine Woche? Der Gesetzgeber gibt
zehn Tage, um ein neues oder gebrauchtes Kraftfahrzeug nach dem Kauf auf den
eigenen Namen zuzulassen, danach wird eine Strafe fällig. Zehn Tage, das sollte
zu schaffen sein, zumal ich neben meiner Arbeit fast täglich Zeit für
Behördengänge einplanen kann. Auf geht’s!
Der erste Weg führt mich in ein kleines Büro in
der fünften Etage eines neuen, grauen Bürogebäudes zum Abschließen der
obligatorischen Haftpflichtversicherung. Der Versicherungsmensch kennt mich von
früher, plaudert gern mit mir und ist außerordentlich hilfsbereit. Leider kann
er mir keine Police ausstellen: eine russische Passnummer besteht nur aus
Ziffern, eine deutsche aus Ziffern und Buchstaben, die akzeptiert das
elektronische Formular nicht. Vielleicht können die Kollegen in Moskau helfen,
ich solle mich ein wenig gedulden, er schickt meine abfotografierten Unterlagen
dorthin und meldet sich dann.
Fünf Tage später sein Anruf: die Kollegen in Moskau
können auch nichts für mich tun. Beim Entwickeln der neuen elektronischen
Haftpflichtversicherungsformulare hat man offensichtlich nicht an Ausländer
gedacht. Das einzige, was er mir anbieten kann, ist die für den
Versicherungsabschluss notwendige Diagnose-Karte:
ein Papier, auf dem bestätigt wird, dass mein Auto in einwandfreiem technischem
Zustand ist. Nicht, dass jemand das Fahrzeug dafür sehen müsste. Es reicht,
wenn ich nochmal ins Büro komme. Sechshundert Rubel, Stempel, Unterschrift,
dankeschön! Für die Police empfiehlt mir der nette junge Mann, mich direkt an
die zentrale Niederlassung eines der großen Versicherungsunternehmen zu wenden
und gibt mir drei Adressen.
Nächster Nachmittag: ich stehe in einem
Business-Center vor einer großen Glasfront, dahinter Damen an Schreibtischen und
Aktenschränke, davor zwei Bänke mit ein paar Wartenden. Die Schlange zur
Versicherung? Nicken. Wer ist der letzte? Man weist auf einen alten,
offensichtlich schwerhörigen Rentner. Wie lange warten Sie schon, rufe ich ihm
ins Ohr. Der Burjate murmelt etwas von heute Morgen. Ungläubig schaue ich in
die Runde. Man reserviert sich mündlich seinen Platz in der Schlange, indem man
seinem Vorgänger sagt, dass man nach ihm kommt, und seinem Nachfolger
klarmacht, dass man vor ihm an der Reihe ist, und entfernt sich dann, erfahre
ich. Aus wie vielen Leuten denn die unsichtbare Schlange schon so besteht, will
ich wissen. Zehn? Hundert? Achselzucken. Ich werfe einen genervten Blick auf
den in stoischer Ruhe seit heute Morgen vor sich hinsitzenden Rentner und gehe.
Das Großraumbüro des nächsten
Versicherungsunternehmens: eine freundliche Angestellte ist sofort bereit, mir
zu helfen und scannt meine Dokumente. Als Ausländer kann mich leider nur der
leitende Spezialist bearbeiten, der in einer Stunde eintrifft und sich dann
unverzüglich telefonisch mit mir in Verbindung setzt. Bis zum Abend warte ich
auf den Anruf des leitenden Spezialisten, dann bin ich es, der im Büro anruft.
Leider könne man jetzt im Moment nichts für mich tun. Jetzt im Moment, das mag
für unerfahrene Ohren klingen nach „aber dann morgen“; jedoch nach fast vier
Jahren in Burjatien verstehe ich, es bedeutet einfach „Sorry, bei uns nicht“.
Am nächsten Tag, bei der dritten Adresse, klappt
es. Einen Moment zögere ich bei der Frage, welcher Fahrer in die Police
eingetragen werden soll, und sehe schon das nächste Problem: wird das
elektronische Formular meine europäische Führerscheinnummer akzeptieren? Ich
entschließe mich für eine Police ohne Beschränkung, die für jede beliebige
Person am Steuer gilt. Kostet doppelt so viel, aber meine Frau macht
schließlich gerade den Führerschein und kann dann auch gleich fahren, ohne dass
man sie nachträglich eintragen lassen müsste.
Mit dem OSAGO-Formular
in der Hand, wie die Auto-Haftpflicht in Russland heißt, kann ich nun endlich
beim GIBDD, der Verkehrspolizei, das
Auto anmelden. Das Internetportal GOSUSLUGI,
„Staatliche Dienstleistungen“, sieht eine elektronische Terminanmeldung vor,
eine fortschrittliche und bequeme Sache, nur leider, wie sollte es anders sein,
mit einem ausländischen Pass nicht nutzbar. Leute ohne einen per Internet
gebuchten Termin können sich an drei Tagen in der Woche in die Schlange
stellen, in die lebendige Schlange, zhyvaja
otschered`, so heißt es tatsächlich in
der wörtlichen Übersetzung. Dienstag, Donnerstag und Samstag um 8.30 Uhr, wobei
jeweils nur fünfundvierzig Minuten lang Anträge entgegengenommen werden. Am
Dienstag Morgen habe ich Unterricht. Der Donnerstag ist leider gerade vorbei.
Also Samstag. Noch vom Vorjahr weiß ich, dass nur Frühaufsteher in der
lebendigen Schlange eine Chance haben und dass sich die Leute in eine
informelle Liste eintragen. Schlau, wie ich bin, jogge ich noch am Freitag
Abend zum GIBDD-Gebäude und klebe
einen Zettel an die Tür: 1.) Thomas Ranft.
Beim Zurücklaufen nach Hause entdecke ich ein
Schild am Zebrasteifen: „Fußgänger dürfen die Fahrbahn betreten, nachdem sie
die Entfernung zu sich nähernden Verkehrsmitteln und deren Geschwindigkeit
abgeschätzt haben und davon überzeugt sind, dass das Überqueren für sie
ungefährlich ist.“ Das mache ich eigentlich immer, wenn ich eine Straße
überquere. Heißt Fußgängerüberweg nicht, dass die Autofahrer bremsen müssen?
Gut, in Deutschland mag das so sein. Noch bin ich woanders.
Als ich am nächsten
Tag um sechs Uhr morgens wieder an Ort und Stelle bin, stehen schon fünf
weitere Namen unter dem meinen. Gut gemacht, lobe ich mich in Gedanken, setze
mich ins Auto, dessen laufender Motor gemütliche Wärme erzeugt, und lese. Um
kurz vor halb Neun betrete ich die Traube von einigen Dutzend Wartenden, die
sich auf der Straße vor der verschlossenen Tür drängen, und lehne mich direkt
vor den Eingang, um meinen ersten Listenplatz durch physische Präsenz zu unterstreichen.
Ich erinnere mich an letztes Jahr im Februar, als ich bei minus fünfundzwanzig
Grad hier herumstand; jetzt ist es die reinste Entspannung dagegen, nicht so
schlimm, dass noch immer niemand einen beheizten Warteraum für nötig erachtet. – Seit
wann sind Sie denn hier? – Ich murmle etwas von „keine Ahnung, war noch
dunkel“; irgendwie scheint es mir peinlich, zuzugeben, dass ich den Zettel
schon am Vorabend angeklebt habe. Könnte als unlauterer Wettbewerb gelten. Schlüsselklappern,
die Tür geht auf, fünfzig Leute quellen hinein. Zuerst an einen Tisch, wo eine
verschlafen vor sich hinblickende uniformierte Gestalt eine Art Vorprüfung der
Dokumente vornimmt und Leute gleich wieder wegschickt, bei denen etwas fehlt.
Ist die Vorprüfung bestanden, nickt die verschlafene Gestalt einem daneben
stehenden jungen Kollegen zu, dessen Aufgabe im Drücken auf den Bildschirm
eines elektronischen Wartemarkenterminals besteht. Dann der Aufruf der
Wartenummer. Nummer eins an Schalter
Nummer eins! Siegessicher durchschreite ich das Knäuel der sich nach mir
Drängenden, von denen sich einige beginnen unwirsch anzukeifen, da aus
irgendeinem Grunde die Liste verschwunden ist und sich nun jeder an seinen
Platz in der Schlange erinnern muss.
Typisch für die russische Bürokratie ist eine
Vielzahl an kleinteiligen, nicht aufeinander abgestimmten Vorschriften und
Regeln, die nirgendwo übersichtlich und zusammengefasst erläutert sind. Auf
Behörden hängen irgendwelche eng bedruckten Zettel mit Gesetzestexten aus, die
niemand liest oder versteht, und Fragen nach Auskunft werden in hohem Maße
minimalistisch beantwortet, mit einem kleinen Fetzen an Information, der genau
bis zur nächsten Schlange oder Behörde reicht. Im Grunde kann Vorgänge nur
verstehen, wer sie einmal durchgemacht hat, und selbst dann kommt es immer
wieder zu Überraschungen. Wie zum Beispiel für mich heute. Mein Antrag auf
Zulassung des Fahrzeuges wird zurückgewiesen, weil ein, wie sich herausstellt,
dafür nötiges Dokument fehlt: ein Vertrag darüber, wie das Fahrzeug in Moskau
den Besitzer wechselte, bevor es der Händler kaufte, der es dann nach Ulan-Ude
überführte. Den Vertrag sollte mir eigentlich mit dem Auto übergeben worden
sein. Wurde er aber nicht. Pech. Kommen Sie nächste Woche wieder!
Wenig später sitze ich auf dem Automarkt in einer
kleinen Bude mit der Aufschrift kupli-prodazhi,
Kauf-Verkauf, in der ich vor zwei Wochen den Kaufvertrag meines Lada Niva
unterzeichnet hatte. Die Juristin hinter dem Schreibtisch hat alle Hände voll
zu tun und erledigt ihre Arbeit mit der für die russische Kultur phänomenalen
Gabe, Dinge parallel zueinander abzuarbeiten. Ein Rentnerehepaar diktiert seine
Passdaten für den Abschluss einer OSAGO, ich erläutere, dass ich bitte
schnellstmöglich den Vertrag aus Moskau brauche, und in das unters Kinn geklemmte
Smartphone spricht sie, dass sie jetzt nicht sprechen kann und der Anrufer sie
doch bitte nicht anrufen soll – alles gleichzeitig und hundert Prozent
datenschutzfrei. Alle kriegen alles mit, und allen ist es völlig egal, wie viel
mein Lada gekostet hat, wann Frau Iwanowa geboren wurde und dass der Mann von
Walentina, so heißt die Dame hinter dem Schreibtisch, sie schon wieder während
der Arbeitszeit nervt. Ein Blick auf die Uhr: minus fünf Stunden, Moskau
schläft noch. Ich solle mich bis zum Nachmittag gedulden, der Vertrag wird per
Mail angefordert, wir melden uns, kein Grund zur Sorge, für alle Fälle bekomme
ich eine Rückrufnummer.
Die Zehn-Tage-Frist für die Zulassung ist
inzwischen abgelaufen, und ich beginne mich ernsthaft zu ärgern. Der Vertrag
aus Moskau sei angefordert, aber noch nicht da, teilt mir am Abend auf
Nachfrage der Zwischenhändler mit, im Übrigen bestünde kein Grund zur Panik:
Autos diesen Typs würden von der Polizei höchst selten angehalten. Wenn ich
nicht gerade einen Unfall bauen würde, könne ich auch ohne Anmeldung fahren. Da
das Autokennzeichen keinem Fahrzeughalter zugeordnet werden kann, würde auch nichts
passieren, sollte ich in eine Radarfalle geraten. Schön, trotzdem hätte ich
gern bald den verdammten Vertrag, um das Auto offiziell anzumelden! Ich schäme
mich fast ein wenig für meine Hartnäckigkeit. Wahrscheinlich bin ich zu deutsch,
zu gesetzesfixiert.
Von einer Psychologin habe ich mal gehört, dass es
zwei Arten von unangenehmen Ereignissen gibt: solche, die ganz persönlich mit
einem etwas zu tun haben, und solche, bei denen man einfach Opfer allgemeiner
Umstände wird. Wenn man lange an einer roten Ampel steht und deshalb den Zug
verpasst zum Beispiel. Über diese Art von ärgerlichen Vorkommnissen sollte man
sich nicht zu sehr aufregen. Die Ampel ist schließlich nicht wegen mir auf Rot
gesprungen! Meine jetzige Situation ist wohl auch eine von dieser Sorte.
Niemand wollte mich betrügen. Aus Schlampigkeit wurde einfach ein Dokument
vergessen. Kommt vor! Trotzdem: ich beginne, nachts schlecht zu schlafen, wache
zwischendurch auf, und das Auto geht mir durch den Kopf. Was mache ich, wenn
der Vertrag zufällig nicht mehr auffindbar ist?
Zwei Tage später melde ich mich wieder beim Zwischenhändler.
Ich habe das Fahrzeug nicht gekauft, damit es schön aussieht und an der Straße
herumsteht (inzwischen kann ich auf Russisch auch ordentlich wütend sein),
entweder er besorge mir das für die Zulassung fehlende Papier oder, verflucht
nochmal, er kann den Wagen zurückhaben. Bitteschön, bekomme ich zur Antwort,
wir nehmen das Auto gern zurück, nur Geld bekomme ich dafür keines. Gut, dann
sind die Fronten ja geklärt! Zuhause setze ich mich an den Laptop und google
„Anwalt Ulan-Ude Betrug Autokauf“.
Am Tag darauf dann der Anruf der Juristin aus der Kupli-Prodazhi-Bude vom Automarkt, die
mit dem Zwischenhändler zusammenarbeitet: der Vertrag aus Moskau sei
eingetroffen. Nur leider hätte ihn das Moskauer Autohaus an einigen Stellen
geschwärzt, unklar, ob ich beim GIBDD
damit durchkomme. Und sie könne ihn mir nicht ausdrucken, da der Farbdrucker
kaputt sei, und die Farbe wäre wichtig, damit der runde blaue Stempel auch
wirklich blau aussieht. Kein Problem, sage ich, mache ich schon, und tippe
meine Mailadresse in ihr Handy. Nach dem Ausdrucken in meinem Büro an der Uni stelle
ich fest, dass unter dem Papier eine von zwei Unterschriften fehlt. Ich setze
selbst einen Krakel an die entsprechende Stelle und kopiere das Blatt noch
einmal, damit es nicht aussieht wie nachträglich hinzugefügt. Nun sollte alles bereit
sein!
Wieder ist Samstag, und schlau wie in der letzten Woche
begründe ich die Schlangenliste schon am Vorabend. Um ganz sicher zu gehen, bin
ich am nächsten Morgen schon um halb Sechs am Polizeigebäude, und nicht
umsonst, wie sich herausstellt: ein neues Blatt hängt an der Tür, auf denen
schon neun Namen stehen, nur nicht meiner. Ich setze mich an die zehnte Stelle
und warte im Auto. Eigentlich könnte ich nun drei Stunden lang entspannt lesen
oder schlafen, aber eine dumpfe Unruhe erfasst mich. Um sieben Uhr schaue ich,
wie es um die Schlange steht, und komme gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie
ein junger Mann die inzwischen auf dreißig Namen angewachsene Liste vom Eingang
reißt.
„Hey, was soll denn der Blödsinn, lassen Sie das
dran“, herrsche ich ihn an.
Mit ausdruckslosem Gesicht zieht er einen
Dienstausweis aus der Tasche und nennt Dienstgrad und Familiennamen.
„Hier werden überhaupt keine Listen an die Tür
geklebt. Das ist Beschädigung fremden Eigentums. Stellen Sie sich gefälligst
einfach in einer Schlange auf und fertig“, blafft er zurück und entfernt sich
mit dem Blatt in der Hand.
Murren aus der Gruppe. „Liste hierlassen!“, ruft
der Mutigste dem Polizisten in Zivil hinterher, der sich kurz umdreht und sie
dann zerknüllt.
Jemand zückt sein Smartphone. „Ich habe sie
fotografiert!“
Flugs ist ein neues A4-Blatt zur Stelle, die Namen
werden vom Foto abgeschrieben, fortan hält einer das Papier einfach in der Hand.
Kurz vor halb Neun sind alle Schlangenmitglieder physisch anwesend,
Schlüsselklappern, die Tür geht auf, fünfzig Leute quellen sich an den kleinen
Tisch der Dokumentenvorkontrolle, dann vorbei am Wartemarkenausteiler und nach
Ausruf an den Schalter.
Heute klappt es. Nach drei Wochen also halte ich
die A6-formatige Plastikkarte in der Hand, die der deutschen „Zulassungsbescheinigung
Teil II“ entspricht, und dazu zwei neue Nummernschilder, die mir der Beamte direkt
ausgehändigt hat. Vergeblich warte ich auf die Aufforderung zur Strafzahlung
wegen Überschreitung der Zehn-Tages-Frist.
Anfang September bin ich wieder da. Dann läuft mein
derzeitiges Visum und damit auch die zeitlich befristete KfZ-Zulassung aus.
Ich habe mich ziemlich geärgert über die russische
Bürokratie. Jetzt, nachdem diese Zeilen geschrieben sind, ist der nötige
Abstand wieder hergestellt, um kopfschüttelnd darüber lachen zu können. „Ich
glaube, in Deutschland wird uns langweilig“, sage ich zu Niso. Morgen wird sie
37, der Geburtstagsausflug kann nervenkitzelfrei mit dem zugelassenen Auto
stattfinden, großartig. „Ach was“, sagt sie, „wir werden dein Buch lesen und
uns an die Zeiten in Russland erinnern!“
Ein Schild am Zebrastreifen informiert Fußgänger darüber, dass sie nur über die Straße gehen dürfen, wenn sich kein Auto nähert |