Samstag, 20. April 2019

Ärger


Wie lange dauert in Russland die polizeiliche Zulassung eines Autos? Eine Stunde, einen Tag, eine Woche? Der Gesetzgeber gibt zehn Tage, um ein neues oder gebrauchtes Kraftfahrzeug nach dem Kauf auf den eigenen Namen zuzulassen, danach wird eine Strafe fällig. Zehn Tage, das sollte zu schaffen sein, zumal ich neben meiner Arbeit fast täglich Zeit für Behördengänge einplanen kann. Auf geht’s!
Der erste Weg führt mich in ein kleines Büro in der fünften Etage eines neuen, grauen Bürogebäudes zum Abschließen der obligatorischen Haftpflichtversicherung. Der Versicherungsmensch kennt mich von früher, plaudert gern mit mir und ist außerordentlich hilfsbereit. Leider kann er mir keine Police ausstellen: eine russische Passnummer besteht nur aus Ziffern, eine deutsche aus Ziffern und Buchstaben, die akzeptiert das elektronische Formular nicht. Vielleicht können die Kollegen in Moskau helfen, ich solle mich ein wenig gedulden, er schickt meine abfotografierten Unterlagen dorthin und meldet sich dann.
Fünf Tage später sein Anruf: die Kollegen in Moskau können auch nichts für mich tun. Beim Entwickeln der neuen elektronischen Haftpflichtversicherungsformulare hat man offensichtlich nicht an Ausländer gedacht. Das einzige, was er mir anbieten kann, ist die für den Versicherungsabschluss notwendige Diagnose-Karte: ein Papier, auf dem bestätigt wird, dass mein Auto in einwandfreiem technischem Zustand ist. Nicht, dass jemand das Fahrzeug dafür sehen müsste. Es reicht, wenn ich nochmal ins Büro komme. Sechshundert Rubel, Stempel, Unterschrift, dankeschön! Für die Police empfiehlt mir der nette junge Mann, mich direkt an die zentrale Niederlassung eines der großen Versicherungsunternehmen zu wenden und gibt mir drei Adressen.
Nächster Nachmittag: ich stehe in einem Business-Center vor einer großen Glasfront, dahinter Damen an Schreibtischen und Aktenschränke, davor zwei Bänke mit ein paar Wartenden. Die Schlange zur Versicherung? Nicken. Wer ist der letzte? Man weist auf einen alten, offensichtlich schwerhörigen Rentner. Wie lange warten Sie schon, rufe ich ihm ins Ohr. Der Burjate murmelt etwas von heute Morgen. Ungläubig schaue ich in die Runde. Man reserviert sich mündlich seinen Platz in der Schlange, indem man seinem Vorgänger sagt, dass man nach ihm kommt, und seinem Nachfolger klarmacht, dass man vor ihm an der Reihe ist, und entfernt sich dann, erfahre ich. Aus wie vielen Leuten denn die unsichtbare Schlange schon so besteht, will ich wissen. Zehn? Hundert? Achselzucken. Ich werfe einen genervten Blick auf den in stoischer Ruhe seit heute Morgen vor sich hinsitzenden Rentner und gehe.
Das Großraumbüro des nächsten Versicherungsunternehmens: eine freundliche Angestellte ist sofort bereit, mir zu helfen und scannt meine Dokumente. Als Ausländer kann mich leider nur der leitende Spezialist bearbeiten, der in einer Stunde eintrifft und sich dann unverzüglich telefonisch mit mir in Verbindung setzt. Bis zum Abend warte ich auf den Anruf des leitenden Spezialisten, dann bin ich es, der im Büro anruft. Leider könne man jetzt im Moment nichts für mich tun. Jetzt im Moment, das mag für unerfahrene Ohren klingen nach „aber dann morgen“; jedoch nach fast vier Jahren in Burjatien verstehe ich, es bedeutet einfach „Sorry, bei uns nicht“.
Am nächsten Tag, bei der dritten Adresse, klappt es. Einen Moment zögere ich bei der Frage, welcher Fahrer in die Police eingetragen werden soll, und sehe schon das nächste Problem: wird das elektronische Formular meine europäische Führerscheinnummer akzeptieren? Ich entschließe mich für eine Police ohne Beschränkung, die für jede beliebige Person am Steuer gilt. Kostet doppelt so viel, aber meine Frau macht schließlich gerade den Führerschein und kann dann auch gleich fahren, ohne dass man sie nachträglich eintragen lassen müsste.
Mit dem OSAGO-Formular in der Hand, wie die Auto-Haftpflicht in Russland heißt, kann ich nun endlich beim GIBDD, der Verkehrspolizei, das Auto anmelden. Das Internetportal GOSUSLUGI, „Staatliche Dienstleistungen“, sieht eine elektronische Terminanmeldung vor, eine fortschrittliche und bequeme Sache, nur leider, wie sollte es anders sein, mit einem ausländischen Pass nicht nutzbar. Leute ohne einen per Internet gebuchten Termin können sich an drei Tagen in der Woche in die Schlange stellen, in die lebendige Schlange, zhyvaja otschered`, so heißt es tatsächlich in der wörtlichen Übersetzung. Dienstag, Donnerstag und Samstag um 8.30 Uhr, wobei jeweils nur fünfundvierzig Minuten lang Anträge entgegengenommen werden. Am Dienstag Morgen habe ich Unterricht. Der Donnerstag ist leider gerade vorbei. Also Samstag. Noch vom Vorjahr weiß ich, dass nur Frühaufsteher in der lebendigen Schlange eine Chance haben und dass sich die Leute in eine informelle Liste eintragen. Schlau, wie ich bin, jogge ich noch am Freitag Abend zum GIBDD-Gebäude und klebe einen Zettel an die Tür: 1.) Thomas Ranft.
Beim Zurücklaufen nach Hause entdecke ich ein Schild am Zebrasteifen: „Fußgänger dürfen die Fahrbahn betreten, nachdem sie die Entfernung zu sich nähernden Verkehrsmitteln und deren Geschwindigkeit abgeschätzt haben und davon überzeugt sind, dass das Überqueren für sie ungefährlich ist.“ Das mache ich eigentlich immer, wenn ich eine Straße überquere. Heißt Fußgängerüberweg nicht, dass die Autofahrer bremsen müssen? Gut, in Deutschland mag das so sein. Noch bin ich woanders.
 Als ich am nächsten Tag um sechs Uhr morgens wieder an Ort und Stelle bin, stehen schon fünf weitere Namen unter dem meinen. Gut gemacht, lobe ich mich in Gedanken, setze mich ins Auto, dessen laufender Motor gemütliche Wärme erzeugt, und lese. Um kurz vor halb Neun betrete ich die Traube von einigen Dutzend Wartenden, die sich auf der Straße vor der verschlossenen Tür drängen, und lehne mich direkt vor den Eingang, um meinen ersten Listenplatz durch physische Präsenz zu unterstreichen. Ich erinnere mich an letztes Jahr im Februar, als ich bei minus fünfundzwanzig Grad hier herumstand; jetzt ist es die reinste Entspannung dagegen, nicht so schlimm, dass noch immer niemand einen beheizten Warteraum für nötig erachtet. – Seit wann sind Sie denn hier? – Ich murmle etwas von „keine Ahnung, war noch dunkel“; irgendwie scheint es mir peinlich, zuzugeben, dass ich den Zettel schon am Vorabend angeklebt habe. Könnte als unlauterer Wettbewerb gelten. Schlüsselklappern, die Tür geht auf, fünfzig Leute quellen hinein. Zuerst an einen Tisch, wo eine verschlafen vor sich hinblickende uniformierte Gestalt eine Art Vorprüfung der Dokumente vornimmt und Leute gleich wieder wegschickt, bei denen etwas fehlt. Ist die Vorprüfung bestanden, nickt die verschlafene Gestalt einem daneben stehenden jungen Kollegen zu, dessen Aufgabe im Drücken auf den Bildschirm eines elektronischen Wartemarkenterminals besteht. Dann der Aufruf der Wartenummer. Nummer eins an Schalter Nummer eins! Siegessicher durchschreite ich das Knäuel der sich nach mir Drängenden, von denen sich einige beginnen unwirsch anzukeifen, da aus irgendeinem Grunde die Liste verschwunden ist und sich nun jeder an seinen Platz in der Schlange erinnern muss.
Typisch für die russische Bürokratie ist eine Vielzahl an kleinteiligen, nicht aufeinander abgestimmten Vorschriften und Regeln, die nirgendwo übersichtlich und zusammengefasst erläutert sind. Auf Behörden hängen irgendwelche eng bedruckten Zettel mit Gesetzestexten aus, die niemand liest oder versteht, und Fragen nach Auskunft werden in hohem Maße minimalistisch beantwortet, mit einem kleinen Fetzen an Information, der genau bis zur nächsten Schlange oder Behörde reicht. Im Grunde kann Vorgänge nur verstehen, wer sie einmal durchgemacht hat, und selbst dann kommt es immer wieder zu Überraschungen. Wie zum Beispiel für mich heute. Mein Antrag auf Zulassung des Fahrzeuges wird zurückgewiesen, weil ein, wie sich herausstellt, dafür nötiges Dokument fehlt: ein Vertrag darüber, wie das Fahrzeug in Moskau den Besitzer wechselte, bevor es der Händler kaufte, der es dann nach Ulan-Ude überführte. Den Vertrag sollte mir eigentlich mit dem Auto übergeben worden sein. Wurde er aber nicht. Pech. Kommen Sie nächste Woche wieder!
Wenig später sitze ich auf dem Automarkt in einer kleinen Bude mit der Aufschrift kupli-prodazhi, Kauf-Verkauf, in der ich vor zwei Wochen den Kaufvertrag meines Lada Niva unterzeichnet hatte. Die Juristin hinter dem Schreibtisch hat alle Hände voll zu tun und erledigt ihre Arbeit mit der für die russische Kultur phänomenalen Gabe, Dinge parallel zueinander abzuarbeiten. Ein Rentnerehepaar diktiert seine Passdaten für den Abschluss einer OSAGO, ich erläutere, dass ich bitte schnellstmöglich den Vertrag aus Moskau brauche, und in das unters Kinn geklemmte Smartphone spricht sie, dass sie jetzt nicht sprechen kann und der Anrufer sie doch bitte nicht anrufen soll – alles gleichzeitig und hundert Prozent datenschutzfrei. Alle kriegen alles mit, und allen ist es völlig egal, wie viel mein Lada gekostet hat, wann Frau Iwanowa geboren wurde und dass der Mann von Walentina, so heißt die Dame hinter dem Schreibtisch, sie schon wieder während der Arbeitszeit nervt. Ein Blick auf die Uhr: minus fünf Stunden, Moskau schläft noch. Ich solle mich bis zum Nachmittag gedulden, der Vertrag wird per Mail angefordert, wir melden uns, kein Grund zur Sorge, für alle Fälle bekomme ich eine Rückrufnummer.
Die Zehn-Tage-Frist für die Zulassung ist inzwischen abgelaufen, und ich beginne mich ernsthaft zu ärgern. Der Vertrag aus Moskau sei angefordert, aber noch nicht da, teilt mir am Abend auf Nachfrage der Zwischenhändler mit, im Übrigen bestünde kein Grund zur Panik: Autos diesen Typs würden von der Polizei höchst selten angehalten. Wenn ich nicht gerade einen Unfall bauen würde, könne ich auch ohne Anmeldung fahren. Da das Autokennzeichen keinem Fahrzeughalter zugeordnet werden kann, würde auch nichts passieren, sollte ich in eine Radarfalle geraten. Schön, trotzdem hätte ich gern bald den verdammten Vertrag, um das Auto offiziell anzumelden! Ich schäme mich fast ein wenig für meine Hartnäckigkeit. Wahrscheinlich bin ich zu deutsch, zu gesetzesfixiert.
Von einer Psychologin habe ich mal gehört, dass es zwei Arten von unangenehmen Ereignissen gibt: solche, die ganz persönlich mit einem etwas zu tun haben, und solche, bei denen man einfach Opfer allgemeiner Umstände wird. Wenn man lange an einer roten Ampel steht und deshalb den Zug verpasst zum Beispiel. Über diese Art von ärgerlichen Vorkommnissen sollte man sich nicht zu sehr aufregen. Die Ampel ist schließlich nicht wegen mir auf Rot gesprungen! Meine jetzige Situation ist wohl auch eine von dieser Sorte. Niemand wollte mich betrügen. Aus Schlampigkeit wurde einfach ein Dokument vergessen. Kommt vor! Trotzdem: ich beginne, nachts schlecht zu schlafen, wache zwischendurch auf, und das Auto geht mir durch den Kopf. Was mache ich, wenn der Vertrag zufällig nicht mehr auffindbar ist?
Zwei Tage später melde ich mich wieder beim Zwischenhändler. Ich habe das Fahrzeug nicht gekauft, damit es schön aussieht und an der Straße herumsteht (inzwischen kann ich auf Russisch auch ordentlich wütend sein), entweder er besorge mir das für die Zulassung fehlende Papier oder, verflucht nochmal, er kann den Wagen zurückhaben. Bitteschön, bekomme ich zur Antwort, wir nehmen das Auto gern zurück, nur Geld bekomme ich dafür keines. Gut, dann sind die Fronten ja geklärt! Zuhause setze ich mich an den Laptop und google „Anwalt Ulan-Ude Betrug Autokauf“.
Am Tag darauf dann der Anruf der Juristin aus der Kupli-Prodazhi-Bude vom Automarkt, die mit dem Zwischenhändler zusammenarbeitet: der Vertrag aus Moskau sei eingetroffen. Nur leider hätte ihn das Moskauer Autohaus an einigen Stellen geschwärzt, unklar, ob ich beim GIBDD damit durchkomme. Und sie könne ihn mir nicht ausdrucken, da der Farbdrucker kaputt sei, und die Farbe wäre wichtig, damit der runde blaue Stempel auch wirklich blau aussieht. Kein Problem, sage ich, mache ich schon, und tippe meine Mailadresse in ihr Handy. Nach dem Ausdrucken in meinem Büro an der Uni stelle ich fest, dass unter dem Papier eine von zwei Unterschriften fehlt. Ich setze selbst einen Krakel an die entsprechende Stelle und kopiere das Blatt noch einmal, damit es nicht aussieht wie nachträglich hinzugefügt. Nun sollte alles bereit sein!
Wieder ist Samstag, und schlau wie in der letzten Woche begründe ich die Schlangenliste schon am Vorabend. Um ganz sicher zu gehen, bin ich am nächsten Morgen schon um halb Sechs am Polizeigebäude, und nicht umsonst, wie sich herausstellt: ein neues Blatt hängt an der Tür, auf denen schon neun Namen stehen, nur nicht meiner. Ich setze mich an die zehnte Stelle und warte im Auto. Eigentlich könnte ich nun drei Stunden lang entspannt lesen oder schlafen, aber eine dumpfe Unruhe erfasst mich. Um sieben Uhr schaue ich, wie es um die Schlange steht, und komme gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein junger Mann die inzwischen auf dreißig Namen angewachsene Liste vom Eingang reißt.
„Hey, was soll denn der Blödsinn, lassen Sie das dran“, herrsche ich ihn an.
Mit ausdruckslosem Gesicht zieht er einen Dienstausweis aus der Tasche und nennt Dienstgrad und Familiennamen.
„Hier werden überhaupt keine Listen an die Tür geklebt. Das ist Beschädigung fremden Eigentums. Stellen Sie sich gefälligst einfach in einer Schlange auf und fertig“, blafft er zurück und entfernt sich mit dem Blatt in der Hand.
Murren aus der Gruppe. „Liste hierlassen!“, ruft der Mutigste dem Polizisten in Zivil hinterher, der sich kurz umdreht und sie dann zerknüllt.
Jemand zückt sein Smartphone. „Ich habe sie fotografiert!“
Flugs ist ein neues A4-Blatt zur Stelle, die Namen werden vom Foto abgeschrieben, fortan hält einer das Papier einfach in der Hand. Kurz vor halb Neun sind alle Schlangenmitglieder physisch anwesend, Schlüsselklappern, die Tür geht auf, fünfzig Leute quellen sich an den kleinen Tisch der Dokumentenvorkontrolle, dann vorbei am Wartemarkenausteiler und nach Ausruf an den Schalter.
Heute klappt es. Nach drei Wochen also halte ich die A6-formatige Plastikkarte in der Hand, die der deutschen „Zulassungsbescheinigung Teil II“ entspricht, und dazu zwei neue Nummernschilder, die mir der Beamte direkt ausgehändigt hat. Vergeblich warte ich auf die Aufforderung zur Strafzahlung wegen Überschreitung der Zehn-Tages-Frist.
Anfang September bin ich wieder da. Dann läuft mein derzeitiges Visum und damit auch die zeitlich befristete KfZ-Zulassung aus.

Ich habe mich ziemlich geärgert über die russische Bürokratie. Jetzt, nachdem diese Zeilen geschrieben sind, ist der nötige Abstand wieder hergestellt, um kopfschüttelnd darüber lachen zu können. „Ich glaube, in Deutschland wird uns langweilig“, sage ich zu Niso. Morgen wird sie 37, der Geburtstagsausflug kann nervenkitzelfrei mit dem zugelassenen Auto stattfinden, großartig. „Ach was“, sagt sie, „wir werden dein Buch lesen und uns an die Zeiten in Russland erinnern!“

Ein Schild am Zebrastreifen informiert Fußgänger darüber, dass sie nur über die Straße gehen dürfen, wenn sich kein Auto nähert